Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

zählerisch eindimensionaler, sein Sound
pendelt sich irgendwo zwischen Stephen
King und dem magischen Realismus von
Salman Rushdie ein.
»Der Wassertänzer« erzählt von dem
Jungen und später jungen Mann Hiram
Walker, der auf einer Tabakplantage in Vir-
ginia in die Sklaverei hineingeboren wird,
seine Mutter ist Sklavin, sein Vater der
Plantagenbesitzer. Hiram ist das Ergebnis
einer Vergewaltigung. Eines der ersten
Dinge, die Coates über Sklaverei gelernt
hatte, war, dass Sklaverei neben all den
anderen furchtbaren Dingen auch vor al-
lem eins war: eine einzige große Massen-
vergewaltigung. Es bedeutete, keine Kon-
trolle über seinen Körper zu haben.
Coates sagt: »Fast alle schwarzen Men-
schen in diesem Land, deren Stammbaum
auf Versklavung zurückgeht, haben irgend-
wo so einen weißen Vater. Die DNA eines
durchschnittlichen Afroamerikaners ist zu
20 Prozent europäisch. Die Weißen haben
sich in unsere Familien hineinvergewaltigt.
Meine eigene DNA ist zwischen 15 und 25
Prozent weiß.«
Der Plantagenbesitzer verkauft Hirams
Mutter, als Hiram noch klein ist, und der
Schock löscht alle Erinnerungen an die
Mutter. Ansonsten aber funktioniert Hi-
rams Gehirn außergewöhnlich gut, er ist
hochbegabt und kann sich alles merken,
was er einmal sieht. Sein Halbbruder, der
legitime eheliche Sohn des Vaters, hinge-
gen ist ein verwöhnter Hänger, und der
Vater wünscht sich heimlich, die Hautfar-
ben wären umgekehrt verteilt.
Es sind die letzten Tage bevor der Bür-
gerkrieg ausbricht, das System der Verskla-
vung scheint erschöpft, es herrschen De-
kadenz, Verwahrlosung und Verzweiflung,
die Tabakfelder sind übererntet, die Sitten
verroht, die herrschende weiße Klasse
kann ihre Macht nur noch mühsam durch


die bezahlte Gewalt der »low whites« si-
chern, einer weißen aggressiven Unter-
schicht, wie man sie heute von Trump-
Wahlkampfveranstaltungen kennt.
Interessant ist, wie Coates die Durch-
lässigkeit eines vermeintlich hermetischen
Systems beschreibt, wie die Grenzen ver-
schwimmen, nicht nur wenn der Vater
heimlich seinen Sklavensohn in die Herr-
schaftsgemächer lässt oder ihn durch einen
Privatlehrer fördern lässt. Man hätte er-
warten können, dass der Autor, der Repa-
rationen für Afroamerikaner fordert, das
Sklavereisystem deutlicher schwarz-weiß
zeichnet.
Doch Coates entscheidet sich für die
Grauzonen, für die Details, die vermeint-
lichen Kleinigkeiten, die am Ende die wah-
ren Furchtbarkeiten sind. Als Hiram am
Ende noch einmal an den Ort seines Skla-
vendaseins zurückkehrt, auf die Plantage
des Vaters, die immer mehr zerfällt, be-
schleicht ihn fast so etwas wie Wehmut,
als er feststellt, dass der Angestelltentrakt
des Anwesens verwaist ist und die meisten
Sklaven nicht mehr da sind.
Coates hat, wie er erzählt, obsessiv re-
cherchiert über das alltägliche Zusammen-
leben von Sklaven und Herren, er konzen-
triert sich weniger auf die gut dokumen-
tierten Grausamkeiten von physischer
Gewalt und Freiheitsentzug, sondern auf
die Probleme von Familie und Alltag: wie
das System familiäre Bindungen zerstörte;
wie schwer es war, Liebe zu finden, aber
auch, was Sklaven zu essen hatten und wel-

che Geschichten sie sich erzählten. Wenn
man Coates darüber reden hört an diesem
frühen Morgen in New York, dann klingt
die Überforderung, die all das für den Au-
tor bedeutet hat, immer noch mit.
Der Plot nimmt dann viele Wendungen,
es gibt Liebe, Betrug, Verrat, Action und
Gewalt und sogar Übernatürliches, »weil
schwarze Leute sich immer Geschichten
von Magie erzählt haben«, sagt Coates,
und an diesen Stellen merkt man, dass
er eben nicht nur kluge Essays für das
weiße Establishment schreiben kann,
sondern für Marvel auch »Black Panther«-
Comics verfasst.
Auch im Roman nutzt Coates fantasti-
sche Motive. Es stellt sich etwa heraus,
dass Hiram sich selbst und manchmal auch
andere teleportieren kann. Der Treibstoff
dafür sind Erinnerungen, die irgendwie
mit seiner Mutter zu tun haben, und die
Macht des Narrativen, da natürlich die His-
torie der Sklaverei vor allem durch münd-
lich übertragene Erzählungen besteht.
Hiram gelingt es, den Fesseln zu entflie-
hen, er schließt sich der Underground Rail-
road an, dem klandestinen Widerstand,
und trifft auf reale historische Personen
wie Harriet Tubman, die legendäre Frei-
heitskämpferin.
Als Ta-Nehisi Coates diesen Roman
nach zehn Jahren Arbeit schließlich fertig
hatte, ist er zu der Kongressanhörung
nach Washington gefahren. Er war jetzt
bereit, noch einmal über Reparationen
zu reden. Früher war er öfter mal bei Oba-
ma im Weißen Haus zu Hintergrund -
gesprächen mit Intellektuellen eingeladen,
beim ersten Besuch fand er sich selbst
zu unterwürfig. Beim zweiten Mal kam
er zu spät und von Regen durchnässt an.
Doch er begann, dem Präsidenten und
dessen Credo, mit der Zeit werde für Afro-
amerikaner alles besser, zu widerspre-
chen. Unter den anderen (weißen) Jour-
nalisten im Raum habe dann ein Raunen
eingesetzt, so erzählte es Coates danach:
»Oh Gott, jetzt streiten sich die beiden
›black dudes‹.«
Dieses Mal in Washington bei der Kon-
gressanhörung hatten sie ihm einen ande-
ren »black dude« gegenübergesetzt, den
gescheiten Studenten Coleman Hughes,
ebenfalls Afroamerikaner, der Repara -
tionen »für einen moralischen und politi-
schen Fehler« hält. Außerdem hätten ame-
rikanische Sozialwissenschaftler und His-
toriker in den vergangenen 50 Jahren wohl
zu keinem Thema mehr veröffentlicht als
zur Rassendiskriminierung.
Nicht überraschend, sagt Ta-Nehisi
Coates. Nur was da drinstehe, sei eben
überhaupt nicht durchgedrungen zu den
Menschen. Als er im Zug nach Hause fuhr,
wusste er, dass es doch gut war, den Ro-
man geschrieben zu haben.

122 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


GRANGER, NYC / ULLSTEIN BILD

Befreite Sklaven in Virginia um 1862:»Weiße haben sich in die Familien hineinvergewaltigt«


Coates war öfter im Wei-
ßen Haus und begann,
Obama und dessen Credo
zu widersprechen.
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