Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
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s beginnt mit einer nackten Primaballerina. Die berühm-
te 78-jährige Tänzerin Beatrice »Trixie« Cordua hält
eine Ballettstunde ab und gebietet ihren fünf Schülerin-
nen, die artig am Balken die Beinmuskeln straffen und die
Hüften biegen, sich gleichfalls nach und nach ihrer Kleidung
zu entledigen. Zwei Stunden später endet die Show in einer
brutalen Stuntnummer: In Großaufnahme sehen die Zuschau-
er auf zwei Leinwänden, wie einer Frau auf der Bühne glän-
zende Metallhaken durch vorher präparierte Löcher in die
Haut zwischen den Schulterblättern ge-
trieben werden – und wenig später wird
die tapfere Darstellerin an den Haken
meterhoch in die Luft gehievt. Dort rei-
tet sie unbekleidet auf einem Besen.
»Die Beziehung des romantischen Bal-
letts zur Pornografie und zur Showwelt
von Las Vegas ist offensichtlich«, behaup-
tet die Choreografin und Regisseurin Flo-
rentina Holzinger. »In allen Fällen geht
es um männliche Inszenierungen des
weiblichen Körpers.« Holzingers Show
»Tanz«, die vor ein paar Monaten in
Wien uraufgeführt wurde und von Don-
nerstag an in Berlin zu sehen sein wird,
zeigt elf meist nackte Performerinnen
bei spektakulären und oft verblüffend ro-
hen Aktionen. Empfohlen ist das Zuse-
hen nur für erwachsene Besucherinnen
und Besucher, in der Ankündigung der
Ber liner Sophiensäle heißt es: »In eini-
gen Szenen kommen selbstverletzende
Handlungen zur Darstellung, die auf
manche Zuschauer*innen eine verstören-
de Wirkung haben könnten.« Während
der Vorstellung schweben zwei Crossmotorräder am Bühnen-
himmel, die auch bestiegen werden. Man blickt auf grellrotes
Theaterblut und sieht den Darstellerinnen bei der Exkursion
in einen Gruselwald zu, während der die Geburt einer Ratte
aus einem Menschenleib vorgeführt wird. »Das Publikum soll-
te nie wissen, was als Nächstes kommt«, sagt die Regisseurin.
Die Österreicherin Holzinger, 33, ist in der Bühnenwelt ein
junger Star. René Pollesch, der im Sommer 2021 als neuer
Chef der Berliner Volksbühne antritt, hat sie als Hausregis-
seurin engagiert. Ihre Produktionen mit Namen wie »Apollon«
oder »Stick« werden in vielen Städten Europas und in New
York gezeigt. Holzinger selbst fing vergleichsweise spät als
Teenagerin mit dem Tanzen an und studierte in Amsterdam
an der School for New Dance Development Choreografie.
In der Theaterwelt bekannt wurde Holzinger mit einer
Show, die sie 2011 mit ihrem zeitweiligen Lebenspartner Vin-
cent Riebeek unter dem Titel »Kein Applaus für Scheiße«
herausbrachte. Schon damals staunten Kritikerinnen und Kri-
tiker über die Vermischung von Kunst und privatestem Be-
kenntnis sowie über die Experimentierwut der Performer im


Umgang mit dem eigenen Leib; im Lauf der Aufführung
kamen auch diverse Körperflüssigkeiten zum Einsatz. »Die
Horrorfilme der Siebzigerjahre, zum Beispiel ›Suspiria‹ von
Dario Argento, sind für meine Arbeit bis heute wichtig, aber
auch die Filme von Quentin Tarantino«, sagt Holzinger. »Alle
meine Shows haben ein cinematografisches Moment.«
»Tanz« aber ist zunächst eine fast liebevolle Beschäftigung
mit der Balletttradition des 19. Jahrhunderts. Die engelsglei-
chen Tanzschülerinnen und die auf einem Besen reitende
Stuntkünstlerin spielen in einer modernen Version des be-
rühmten Balletts »La Sylphide« mit, das im Jahr 1832 in Paris
uraufgeführt wurde. Die Regisseurin sagt: »Die Tradition des
klassischen Tanzes interessiert mich wirklich, wegen der per-
fekten Bühnenillusion und der totalen Disziplinierung des
Körpers.« Andererseits findet sie: »Das Ballett ist eine durch
und durch patriarchalische Veranstaltung.« Den Ballettschuh
nennt sie einen »ultimativen Phallus«.
Dementsprechend verwandelt sich »Tanz« mehr und mehr
in ein bizarres, hinreißendes Dekonstruktionsspektakel. Die
Primaballerina Cordua zum Beispiel erweist sich als sexuell
übergriffige Zuchtmeisterin, die lüstern die Genitalien ihrer
Schülerinnen inspiziert. Statt zarter Klaviermusik dröhnen

plötzlich Rockgitarren. Die gerade noch zum schwerelosen
Schweben auf ihren Fußspitzen dressierten Performerinnen
schwingen nun an Seilen kreuz und quer im Raum, prallen
aufeinander und stürzen auch mal übel auf den Boden. Irgend-
wann unterbricht Florentina Holzinger die Show und stellt
sich selbst an die Bühnenrampe, um, natürlich nackt, unter fa-
denscheinigen Vorwänden Geldscheine im Publikum einzu-
sammeln – ihre Art des Spotts über die historisch verbürgte
Praxis, dass sich früher in der Pariser Ballettwelt männliche
Sponsoren im dafür berüchtigten Foyer de la Danse vor der
Vorstellung an Balletttänzerinnen heranwanzen durften.
»Tanz« ist feministische Demonstration, Zirkus und auf-
gekratztes Schocktheater in einem. Wiederholt wandern wäh-
rend der Aufführung Zuschauer aus dem Saal, weil sie offen-
kundig von der Radau- und Verausgabungskunst der Dar-
stellerinnen überfordert sind. Die Regisseurin findet das nicht
schlimm. »Ich will unterhalten, aber ich erzähle auch von
sehr ernsten Themen«, sagt sie. »Die Zuschauer sollen Spaß
haben. Aber es ist auch okay, wenn sie in Ohnmacht fallen
oder abhauen.« Wolfgang Höbel

Waldfeen auf dem


Kriegspfad


TheaterkritikDie Choreografin Florentina
Holzinger gastiert mit ihrer
rabiaten Performance »Tanz« in Berlin.

Kultur

EVA WURDINGER
Mitwirkende in Holzinger-Stück »Tanz«: Verblüffend rohe Aktionen
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