Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
KAY NIETFELD / DPA

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 15


16 Prozent. Vor allem sind chinesische Un-
ternehmen viel stärker vernetzt als früher.
Nach der Finanzkrise von 2008 war es
China, das die Weltwirtschaft aus der Kri-
se zog. Die deutsche Industrie, allen voran
die Maschinenbauer und die Autoherstel-
ler, profitierte besonders vom Aufstieg der
Chinesen.
Dieser Treiber fällt nun aus, ein neuer
ist nicht in Sicht. Ob es zu einer Weltwirt-
schaftskrise und einem Crash an den
Märkten kommt, wird deshalb davon ab-
hängen, wie schnell China es schafft, das
Coronavirus zu besiegen.
Mindestens so entscheidend wird sein,
wie stark andere Länder von dem Virus
befallen werden und wie sie damit um -
gehen; Länder wie Südkorea, Italien – und
Deutschland.

An einem Nebeneingangzum noblen
Pekinger Einkaufszentrum Taikoo Li steht
ein Uniformierter und zieht an seiner
Zigarette. Auf dem Tisch vor ihm liegt ein
Clipboard mit einer Liste. Eigentlich soll
jeder Besucher dort Namen, Telefonnum-

mer und Körpertemperatur eintragen, so-
bald der Sicherheitsmann ihn mit dem In-
frarotthermometer abgescannt hat. Aber
gerade ist ja Raucherpause, da ist dem
Dienst Genüge getan, wenn der Unifor-
mierte den Vorbeigehenden das Thermo-
meter bloß für eine Sekunde nachlässig
aufs Handgelenk richtet und sie dann
durchwinkt. Dokumentiert wird nichts.
Chinas Hauptstadt kann sich nicht recht
entscheiden, ob sie bei strengen Kontrol-
len bleiben oder die Zügel allmählich lo-
ckern soll. Die Menschen sollen konsumie-
ren, aber irgendwie auch wieder nicht. Vie-
le Geschäfte in der Shoppingmall haben
zwar geöffnet, die meisten jedoch nur von
11 bis 18 Uhr, weit weniger lange als in nor-
malen Zeiten. Die Haupteingänge der Flag-
ship-Stores von Apple und Uniqlo stehen
offen, die Seitentüren sind zugesperrt.
Drinnen lehnt das Personal gelangweilt an
den Warentischen – es kommt eh kaum
ein Kunde.
Die Wirtschaft beginnt sich zu norma-
lisieren, in Gang kommt sie nicht. Im
Kampf gegen das Virus haben Instanzen

bis hinunter zu den Nachbarschaftskomi-
tees unterschiedliche Maßnahmen erlas-
sen. »Die totale Atomisierung der Vor-
schriften hat für uns zu einem Albtraum
geführt«, sagt Jörg Wuttke, Präsident der
EU-Handelskammer in China. »Die Wirt-
schaft stottert extrem. Wir müssen jetzt
erst mal die Synchronisierung wieder hin-
kriegen.«
In einer am Donnerstag veröffentlichten
Umfrage der EU-Handelskammer in Chi-
na, an der 577 ihrer Mitgliedsunternehmen
teilnahmen, gaben fast 90 Prozent an, die
Epidemie habe mittlere bis starke Auswir-
kungen auf ihre Geschäfte. Die Hälfte be-
absichtigt, ihre Jahresziele herabzusetzen.
Mitte Februar, eine Woche nach Ende
der extra verlängerten Neujahrsferien, war
erst rund ein Drittel der knapp 300 Mil-
lionen Wanderarbeiter an ihren Arbeits-
platz zurückgekehrt. Doch am Wochen -
ende gab Staats- und Parteichef Xi Jinping
die Losung aus, Gebiete mit geringen An-
steckungsrisiken sollten »die volle Pro -
duktion und das normale Leben wieder
aufnehmen«. In rund der Hälfte der chi-

Im Kampf gegen das Virus gibt sich die Bundesregierung, hier Gesundheitsminister Jens Spahn
mit Mitarbeitern, entschlossen. Aber die wirtschaftlichen Folgen will sie erst einmal abwarten:
Für direkte Finanzspritzen an Not leidende Unternehmen sieht das Wirtschaftsministerium keinen Bedarf.
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