Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

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Leiden mit China
Prognose* zur Auswirkung von Corona: Rückgang
des Bruttoinlandsprodukts 2020, in Prozentpunkten

China Japan

Euro-
raum

Deutsch-
land USA

Quelle: Deutsche Bank

* vom 12. Februar

Welt

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 19

feranten breiter und internationaler auf-
stellen.«
Viel größere Sorgen machen dem Ford-
Manager die Zustände in Europa. »Sollte
sich das Virus dort weiter ausbreiten, könn-
te es quer durch die Industrie zu Produk-
tionsstopps kommen«, so Herrmann, »das
wäre für die Konjunktur sehr schmerz-
haft.«
Eine Epidemie in Deutschland wäre ein
Härtetest für Großkonzerne wie Siemens,
Lufthansa, die Deutsche Post oder die
Bahn. Immerhin haben sie Pläne in der
Schublade, anders als viele Mittelständler,
die schlecht vorbereitet sind.
»Wir schätzen, dass nur 20 bis 25 Pro-
zent der deutschen Unternehmen sich mit
dem Thema auseinandergesetzt haben«,
sagt Dirk-Matthias Rose, Arbeitsmedizi-
ner an der Universitätsklinik Mainz. Ein
Auslöser dafür sei die Vogelgrippe gewe-
sen. »Doch seit 2009 hat in die Pläne si-
cher keiner mehr reingeschaut.«
Gerade kleinere, oft familiengeführte
Unternehmen, die als »Hidden Cham -
pion« auf den Weltmärkten aktiv sind,
dürften besonders gefährdet sein – und oft
völlig planlos. Die Kernfrage bei der Vor-
bereitung sei: Welche Bereiche muss ich
unbedingt am Laufen halten, und welche
Mitarbeiter brauche ich dafür?
In den seltensten Fällen würden alle
gebraucht. »Der Rest gehört nach Hause,
ins Homeoffice oder in den Urlaub.
Jede zusätzliche U-Bahn-Fahrt ist ein
Risiko.«

Die Lage ist unübersichtlich,sie ver -
ändert sich täglich. Wirtschaftliche Pro -
gnosen gleichen einem Blick in die Glasku -
gel. Was also kommt auf die Wirtschaft zu?
Die Volkswirte der Deutschen Bank ha-
ben ihre 2020er-Wachstumsprognose für
Deutschland von 1,0 auf 0,7 Prozent re-
duziert, ihre Kollegen aus dem Berliner
Wirtschaftsministerium rechnen damit,
dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt
um 0,2 bis 0,5 Prozentpunkte weniger
wächst, wenn das Virus die Produktion in
China noch den ganzen März hindurch
behindert.
Aber diese Berechnungen stammen
noch aus der Zeit, bevor sich das Virus
außerhalb Chinas ausbreitete. Je mehr
Länder betroffen sind, je mehr Menschen
sich infizieren, desto größer ist die Gefahr,
dass die Weltwirtschaft einem tiefen Ab-
schwung entgegengleitet. Und »wenn wir
in eine globale Rezession rutschen, wer-
den wir auch eine Finanzkrise haben«, pro-
phezeit Krisenforscher Roubini. Die Schul-
den seien in den vergangenen Jahren ge-
stiegen, der US-Immobilienmarkt gleiche
wie 2007 einer Blase. »Bislang waren das
nur deshalb keine Zeitbomben, weil es
Wachstum gab«, sagt der US-Ökonom.
»Doch das ist jetzt vorbei.«


hilfe niedriger Zinsen wiederbelebt, es da-
nach aber versäumt, die Zinsen wieder an-
zuheben. Die amerikanische Federal Re-
serve hat sich immerhin etwas Spielraum
nach unten erarbeitet, ihr Leitzins liegt
aktuell bei 1,75 Prozent. Europas Leitzins
verharrt seit Jahren bei null.
Das wird vor allem dann gefährlich,
wenn das Euroland Italien in ernsthafte
Schwierigkeiten gerät. Kommissionsvize-
präsident Valdis Dombrovskis wies vor-
sorglich darauf hin, dass es im Stabilitäts-
und Wachstumspakt bereits Klauseln gebe,
die es den Mitgliedstaaten erlaubten, im
unverschuldeten Krisenfall von den Defi-
zitregeln abzuweichen.
»Natürlich fallen Dinge im Zusammen-
hang mit dem Coronavirus unter diese
Klausel«, sagte Dombrovskis. »Sobald es
die konkrete Nachfrage eines Mitglied -
staates gibt, sind wir offen, darüber zu
reden.«
Wirtschaftlich großen Schaden würden
die Folgen des Corona-Ausbruches in
Europa insbesondere dann anrichten,
wenn sich einzelne Mitgliedsländer ent-
schlössen, vorübergehend Grenzkontrol-
len einzuführen. Dies dürfen sie »als letz-
tes Mittel«, wie es der Schengen-Grenz-
kodex formuliert, die EU-Kommission
prüft dann, ob das Vorgehen verhältnis-
mäßig ist.
Der grenzfreie Schengenraum ist das
Herz des europäischen Binnenmarkts.
Kilometerlange Staus, etwa auf der Bren-
ner-Autobahn wären die Folge bei Kon-
trollen – mit weitreichenden Problemen
für die Lieferketten von Unternehmen. Zu-
dem ist umstritten, ob solche Kontrollen
durch Polizisten und medizinisches Perso-
nal mehr wären als ein bisschen Show, da
Infizierte bis zu zwei Wochen lang keine
Symptome zeigen.
US-Ökonom Roubini hält diese Sorgen
für naiv, verlangt nach härteren Antwor-
ten. Die Grenzen nach Italien müssten um-
gehend geschlossen werden, wie 2016,
nach der Flüchtlingskrise. Diese Krise gehe
noch tiefer, sagt er. »Die Situation ist viel
schlimmer, als wenn noch einmal eine Mil-
lion Flüchtlinge nach Europa kämen.«
Und was rät Roubini den verunsicher-
ten Anlegern?
»Halten Sie Bares, und investieren Sie
in sichere Staatsanleihen, zum Beispiel
Bundesanleihen«, empfiehlt der Crash-
Prophet. Dass die negative Renditen ha-
ben, stört ihn nicht. »Das bedeutet ja nur,
dass die Kurse steigen und steigen«, sagt
er, »damit können Sie eine Menge Geld
machen.«
Tim Bartz, David Böcking, Georg Fahrion,
Simon Hage, Martin Hesse, Frank Hornig,
Alexander Jung, Armin Mahler, Juan
Moreno, Martin U. Müller, Peter Müller,
Katharina Peters, Gerald Traufetter

Titel

Die Experten in den zuständigen Ber -
liner Ministerien halten die psychologi-
schen Effekte, insbesondere für die Wirt-
schaft, für wesentlich gefährlicher als den
Erreger selbst – und wollen die Ängste des-
halb nicht befeuern. Am 12. Februar trafen
sich Vertreter des Wirtschafts- und Außen-
ministeriums mit rund 50 Wirtschaftsver-
tretern. Die Beamten erinnerten daran,
dass bei Produktionsausfällen infolge der
Corona-Krise ein altbewährtes Hilfsmittel
bereitstehe: das Kurzarbeitergeld.
Erleichterte Voraussetzungen für diese
staat liche Unterstützung wurden jüngst
von der Koalition auf den Weg gebracht.
Theoretisch kann 24 Monate lang Geld
fließen, damit Arbeiter zu Hause bleiben
und dennoch weiter entlohnt werden. Das
Ministerium hat ein eigenes Monitoring
ins Leben gerufen, welche Branchen wie
stark beeinträchtigt sind.
Besonders anfällig sei ausgerechnet die
Pharmaindustrie, heißt es aus dem Wirt-

schaftsministerium. Mehr als 80 Prozent
aller Wirkstoffe stammen aus China und
Indien. Auch chemische Grundstoffe kom-
men häufig aus Asien. Weniger dramatisch
ist die Situation in der Autoindustrie. Sie
bezieht viele Bauteile aus dem benachbar-
ten Ausland.
Für direkte Finanzspritzen an Not lei-
dende Unternehmen gebe es derzeit keinen
Bedarf, heißt es im Wirtschaftsministerium.
Es sei aber möglich, ohnehin geplante Ent-
lastungen für Unternehmen, etwa Abschrei-
bungserleichterungen, vorzuziehen. Sollte
durch das Coronavirus die Nachfrage ein-
brechen, ließe sich natürlich mit einem
Stimulus gegensteuern, heißt es im Haus
von Finanzminister Olaf Scholz (SPD).
Doch die mangelnde Nachfrage dürfte
nicht das Problem sein. Ökonomen spre-
chen von einem Angebotsschock, wenn
Unternehmen nicht liefern können, weil
etwa die Arbeiter zu Hause bleiben müs-
sen. Dagegen hilft kein Konjunkturpro-
gramm und auch kein billiges Geld der No-
tenbanken.
Ohnehin haben die Notenbanken ihr
Pulver weitgehend verschossen. Nach der
Finanzkrise hatten sie die Wirtschaft mit-
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