Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 23

TIM WEGNER / DER SPIEGEL

Der Augenzeuge

»Völlig alleingelassen«


Ab diesem Wochenende gilt bundesweit die umstrittene
Impfpflicht für Schülerinnen und Schüler: Sie müssen
den Schutz vor Masern nachweisen. Aber wie? Stefan
Wesselmann, Landesvorsitzender des Verbands
Bildung und Erziehung in Hessen und Leiter einer
Grundschule, ist fassungslos.

»Am Sonntag tritt die Impfpflicht für alle neu angemeldeten
Schülerinnen und Schüler in Kraft. Wir werden allein bei
uns in Rödermark, einer der größten Grundschulen in Hessen,
in den nächsten Wochen rund 150 Anmeldungen haben.
In jedem einzelnen Fall müssen wir dann kontrollieren, ob der
Impfschutz für Masern vollständig ist. Ich weiß zwar, wie der
gelbe Impfausweis aussieht, aber uns Schulleitern hat niemand
gesagt, worauf wir in diesem Ausweis achten müssen. Uns
hat überhaupt so gut wie keine Information erreicht. Ich habe
lediglich eine allgemeine Powerpoint-Präsentation des Kreises
bekommen, deren ursprüngliche Herkunft ich nicht kenne.
Immerhin taucht das Hessen-Logo darin auf – aber ein Erlass
oder eine Anordnung ist das natürlich nicht.
So ziemlich alle wichtigen Fragen bleiben offen: Wie klären
wir rechtssicher, ob ein Kind den Impfschutz hat? Wie viel Zeit
geben wir zur Nachimpfung? Wie läuft das genaue Verfahren,
wenn kein Impfschutz vorliegt? Die Schulpflicht geht auf
jeden Fall vor, aber was ist mit Nachmittagsangeboten unseres
Betreuungsvereins? Darf ich Daten von nicht geimpften Kin-
dern dahin weitergeben? Oder müssen die Eltern den Impf-
schutz noch einmal nachweisen? Außerdem muss ich als Schul-
leiter ja auch noch kontrollieren, dass Erwachsene, die
regelmäßig in die Schule kommen, geimpft sind. Neben den
40 Beschäftigten betrifft das Inklusionsassistenten, ehren -
amtlich arbeitende Eltern und viele andere.
Man muss es leider so sagen: Mit dem neuen Gesetz
be kommen wir ab Sonntag enorme Zuständigkeiten, werden
damit aber nicht zum ersten Mal völlig alleingelassen. Es
gibt kaum Informationen und keine Ressourcen für die neuen
Aufgaben. Für mich bleibt der Eindruck, dass da Arbeit
von oben nach unten verteilt wird: Ausbaden müssen es die
hoch belasteten Schulleitungen. Wieder einmal zeigt sich,
dass die Politik überhaupt nicht weiß, welche Auswirkungen
ihre Entscheidungen auf Schule hat.«
Aufgezeichnet von Armin Himmelrath

Suizidhilfe
Spahn blockiert

 Rechtsexperten fordern
Bundesgesundheitsminister
Jens Spahn (CDU) auf, nach
dem Urteil des Bundesver -
fassungsgerichts zur Suizid -
assistenz das tödliche Mittel
Natrium-Pentobarbital für
sterbewillige Schwerstkranke
freizugeben. »Nach diesem
Urteil gibt es keinen Grund
mehr, dieses für einen sanften
Suizid am besten geeignete
Mittel zu verweigern«, sagt
der Münchner Medizinrecht-
ler Wolfgang Putz, der einen
Arzt in Karlsruhe vertreten
hatte. Auch Ulrich Schellen-
berg, ehemals Präsident des
Deutschen Anwaltvereins, for-
dert Spahn auf, »seine Blo-
ckadehaltung zu beenden«.
Schon 2017 hatte das Bundes-
verwaltungsgericht in Leipzig
verlangt, dass unheilbare
Kranke mit gravierenden Lei-
den nach einer Prüfung ihres
Falls das Medikament bekom-
men dürften. Spahn drängte
das zuständige Bundesinstitut

aber dazu, solche Anträge
pauschal abzulehnen, mit
dem Argument, die Erlaubnis
würde den Werten widerspre-
chen, auf denen Paragraf 217
des Strafgesetzbuchs beruhe.
Diesen Paragrafen – das Ver-
bot der geschäftsmäßigen För-
derung der Selbsttötung – hat
das Bundesverfassungsgericht
nun gekippt. Dass Spahn jetzt
argumentiert, Karlsruhe habe
zugleich erklärt, dass es kei-
nen »Anspruch« auf Hilfe zur
Selbsttötung gebe, nennt
Schellenberg »irreführend«.
Darum gehe es gar nicht, son-
dern um einen Anspruch auf
das bestwirksame Medika-
ment. Den habe das Leipziger
Gericht bereits bestätigt.
Auch dass dazu in Karlsruhe
ein weiteres Verfahren anhän-
gig ist, sei, anders als Spahn
nahelegt, kein Grund zu war-
ten. Darin würde das Leip -
ziger Urteil gar nicht angegrif-
fen, so die Experten. Er rech-
ne damit, sagt Putz, dass die
Verfassungsrichter die Ab -
gabe des Mittels sogar noch
erleichterten. HIP

Koalition

Tauziehen um den


Wehrbeauftragten


 In der Großen Koalition
gibt es Streit um den Wehr -
beauftragten. Grund dafür ist
das Zögern der Sozialdemo-
kraten, den bisherigen Amts-
inhaber Hans-Peter Bartels
(SPD) erneut zu nominieren.
Für den Posten interessiert
sich der einflussreiche SPD-
Haushaltspolitiker Johannes
Kahrs. Die Personalie werde
wohl in einer der nächsten Sit-
zungswochen »aufgerufen«,
heißt es in der SPD-Fraktion.
In der Unionsfraktion dage-
gen will man Bartels behalten
und spricht dem Koalitions-
partner das Recht ab, einen
neuen Kandidaten zu nomi-
nieren. »Das Vorschlagsrecht
ist mittlerweile strittig«, sagt
der CDU-Abgeordnete
Johann Wadephul. »Ich finde
es bemerkenswert, dass die
SPD einen im Amt befindli-
chen und hoch anerkannten


Wehrbeauftragten nicht wie-
der aufstellen will.« Bartels
mache seine Arbeit gut. »Die
Diskussion wäre beendet,
wenn die SPD Herrn Bartels
nominieren würde.« Die
Unionsfraktion könne jeder-
zeit aus ihren Reihen jeman-
den vorschlagen, so Wade-
phul. Das Vorschlagsrecht
wurde während der Koaliti-
onsverhandlungen der SPD
zugesprochen. Schriftlich wur-
de dazu offenbar nichts fest -
gehalten, die handelnden Per-
sonen aufseiten der SPD sind
nicht mehr im Amt. Mögli-
cherweise wird sich daher der
Koali tionsausschuss im März
mit dem Streit befassen. LY R

Bartels

GREGOR FISCHER / PICTURE
Free download pdf