Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
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Spitzenpersonal
Gewählte Parteivorsitzende von CDU und SPD*

1946 bis 52
Kurt Schumacher

1946 bis 66
Konrad Adenauer

1973 bis 98
Helmut
Kohl

2000 bis 18
Angela
Merkel

1952 bis 63
Erich Ollenhauer

1964 bis 87
Willy Brandt

1987 bis 91
Hans-Jochen Vogel

1991 bis 93
Björn Engholm

1993 bis 95
Rudolf Scharping

1999 bis 2004
Gerhard Schröder

2004 bis 05
Franz Müntefering

2008 bis 09
Franz Müntefering
2006 bis 08
Kurt Beck
2005 bis 06
Matthias Platzeck

2018 bis 19
Andrea Nahles
2017 bis 18
Martin Schulz
2009 bis 17
Sigmar Gabriel

seit 2019
Saskia Esken
und Norbert
Walter-Borjans

seit 2018
Annegret
Kramp-Karrenbauer

1995 bis 99
Oskar Lafontaine

CDU: 8 SPD: 17


1998 bis 2000
Wolfgang Schäuble

1966 bis 67
Ludwig Erhard

1967 bis 71
Kurt Georg Kiesinger

1971 bis 73
Rainer Barzel

*ohne kommissarischen Vorsitz

gen, die diese Zeit prägen, anderswo ge-
macht werden, dass nicht einmal ein Pfei-
ler wie die Automobilindustrie in Zeiten
der Klimakrise noch sicher steht. Während
Freitag für Freitag Schülerinnen und Schü-
ler auf die Straße gehen und das Klima
retten wollen, machen sich Facharbeiter
in Baden-Württemberg Sorgen, was aus
ihnen wird, wenn niemand mehr Verbren-
nungsmotoren kauft.
Es gibt zudem eine Spaltung zwischen
Stadt und Land, zwischen Jung und Alt,
zwischen denen, die ein offenes, tolerantes
Land wollen, und denen, die sich von zu
viel Offenheit überfordert fühlen, die sich
wohler fühlen, wenn alles etwas enger ist.
Mit der AfD sitzt Rassismus jetzt in den
Parlamenten, Hemmschwellen sinken.
Es könnte die Zeit für eine Volkspartei
sein, der es gelingt, wieder so etwas wie
einen gemeinsamen Nenner für diese Ge-
sellschaft zu formulieren. Die SPD ist der-
zeit dazu nicht in der Lage, weshalb die
Frage umso drängender ist, ob die CDU
es noch einmal vermag, trotz aller Verein-
zelung und Zerfaserung der Gesellschaft.
Falls ja, könnte sie zu alter Stärke zurück-
finden. Scheitert sie daran, hat auch sie
ihr Existenzrecht als Volkspartei verspielt.
Das sind die Herausforderungen, denen
sich die Konkurrenten stellen müssen.
Kann Friedrich Merz, der stets in Gegen-
sätzen denkt, in Kategorien des Wettbe-
werbs, solch einen gesellschaftlichen Kon-
sens formulieren? Vermag es Armin La-
schet, der zwar ein großes Bundesland
regiert, aber eben nur ein Bundesland?
Die wichtigen Fragen auf seiner bisherigen
Ebene drehen sich darum, wie viele Lehrer
und Polizisten man einstellt.
Angela Merkel musste sich mit der glo-
balen Finanzkrise auseinandersetzen, mit
der europäischen Schuldenkrise, der
Flüchtlingskrise. Ihr Nachfolger im Kanz-
leramt wird es gewiss nicht leichter haben,
eher im Gegenteil.
Die liberale Demokratie ist seit einiger
Zeit in Bedrängnis, weltweit, und nun
steht auch noch die Frage im Raum, ob sie
mit ihren mühsamen, kleinteiligen Prozes-
sen in der Lage ist, der Klimakrise zu be-
gegnen. Da wirkt es erst mal ziemlich
klein, wenn die CDU sich nun bis Ende
April Zeit für die Frage nimmt, wer sie
künftig anführen soll. Aber eigentlich ist
das gar nicht so viel Zeit angesichts der
Dimension der Aufgaben. Die Partei sollte
diese Zeit allerdings auch wirklich für
Klärungen nutzen, echte Klärungen.
Merz, Laschet und Röttgen wollen sich
Anfang der Woche zusammensetzen, um
»das weitere Verfahren zu besprechen«,
wie es heißt. Es geht um die Spielregeln
für einen Wettstreit, dessen Ausgang das
Land auf Jahre prägen könnte.
Christoph Hickmann, Veit Medick

Es ist kein normales politisches Umfeld,
in dem sich dieser Wettstreit abspielt. Die
Zeiten sind besondere, das gilt für die Si-
tuation der CDU, für die Lage des Landes,
für die Welt.
Die Partei erlebt die schwerste Krise seit
ihrer Spendenaffäre vor zwei Jahrzehnten.
Schon lange, spätestens seit dem Höhe-
punkt der Flüchtlingskrise 2015, haben in
der Union ungelöste Konflikte geschwelt.
Die Ereignisse der vergangenen Wochen,
vor allem der Tabubruch von Thüringen,
wo die CDU mit den Stimmen der AfD
einen FDP-Ministerpräsidenten wählte,
haben diese Konflikte endgültig ausbre-
chen lassen. Und Parteichefin Annegret
Kramp-Karrenbauer, die faktisch bereits
lange vorher gescheitert war, verkündete
ihren Rückzug.
Es war das Scheitern eines gewagten
Modells: Angela Merkel war 2018 bereit,
den Parteivorsitz abzugeben, wollte aber
Kanzlerin bleiben und nahm in Kauf, dass
Kramp-Karrenbauer damit immer das ent-
scheidende Stück Autorität fehlen würde:
jene Autorität, die nur die Exekutive ver-
leihen kann. In einer Partei wie der CDU,
die sich stets an der Macht orientiert, wog
das besonders schwer.
Auch der nächste Parteichef wird bis
zur Bundestagswahl, also womöglich noch
anderthalb Jahre lang, mit diesem Dualis-
mus zurechtkommen müssen – was beson-
ders im Fall Merz, den mit Merkel eine
regelrecht obsessive Rivalität verbindet,
nur schwer vorstellbar ist. Die Kanzlerin,
die sich aus diesem innerparteilichen Wahl-
kampf heraushalten will, wird dadurch
jederzeit präsent sein. Sie schwebt über
allem.
Das gilt auch für die programmatische
Diskussion. Merkel hat die Partei nach
links gerückt, viele sagen: unkenntlich, be-
liebig gemacht, entkernt. Die CDU war
nie eine Partei, die sich in erster Linie über
ihr Programm definiert, doch am Ende der
Ära Merkel ist kaum noch etwas so, wie
es mal war.
Wer will die CDU sein? Mit welcher
Ausrichtung kann sie als Volkspartei über-
leben? Das sind die Fragen, die diesen
Wahlkampf prägen werden. Merz will,
auch wenn er das bestreitet, ein Stück zu-
rück nach rechts. Laschet will jene Mitte
verteidigen, die Merkel erobert hat.
All dies spielt sich in einem Land ab,
das seine Gewissheiten verloren hat. Viele
Jahrzehnte lang haben die Deutschen mit
dem Gestus der Überlegenheit auf ihre eu-
ropäischen Nachbarländer und erst recht
auf andere Weltgegenden geschaut. Mitt-
lerweile machen sie im Ausland die Erfah-
rung, dass dort vieles besser funktioniert,
Netzabdeckung, Verkehr, elektronische
Verwaltung.
Die Bürger spüren, dass ihr Land den
Anschluss verlieren könnte, dass Erfindun-

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