Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

Aber der Rechtsradikalismus in Deutsch-
land hat eine ganz andere Qualität und
eine ganz andere Dimension als jede an-
dere Form von politischem Radikalismus.
SPIEGEL:Soziale Gerechtigkeit, können
Sie mit dem Begriff etwas anfangen?
Merz:Zweifeln Sie ernsthaft daran? Soziale
Gerechtigkeit ist ein Kernbestandteil unserer
gesellschaftlichen und politischen Ordnung.
Wir haben mit unserem Sozialstaat ja auch
sehr viel erreicht. Heute ist für mich Gene-
rationengerechtigkeit die neue soziale Frage.
Wir brauchen einen neuen Generationenver-
trag. Wir verschieben zu große Lasten der
Gegenwart auf die Schultern der nächsten
Generation. Das muss eine Partei, die sich
christlich-demokratisch nennt, bald ändern.
SPIEGEL:Das klingt wolkig. Die Rente mit
63 würden Sie wieder abschaffen?
Merz:Die Rente mit 63 gilt ja nicht für alle,
sondern nur für bestimmte Altersgruppen
mit mindestens 45 Beitragsjahren. Für die
Zukunft muss das Verhältnis zwischen Ar-


beitszeit und Ruhestand noch einmal neu
justiert werden. Wir werden auch den Ren-
tenversicherungsbeitrag nicht bei 20 Pro-
zent und das Rentenniveau gleichzeitig bei
48 Prozent halten können. Es sei denn, wir
erhöhen den Bundeszuschuss auf 200 bis
250 Milliarden Euro. Dann ist das aber
auch keine beitragsbezogene Rente mehr.
SPIEGEL:Stünden unter Ihnen auch Pro-
jekte wie der Mindestlohn, die längere
Auszahlung des Arbeitslosengelds oder
der Kündigungsschutz zur Disposition?
Merz:Nein. Es mag Sie überraschen, aber
ich war schon vor Jahren ein Befürworter
eines gesetzlichen Mindestlohns. Ich bin
allerdings immer noch der Auffassung,
dass über die Höhe die Tarifvertragspar-
teien vorentscheiden müssen. Und die The-
men Arbeitslosengeld und Kündigungs-
schutz stehen nicht auf der Tagesordnung.
SPIEGEL:Über Sie heißt es immer wieder,
dass Ihre größte Schwäche der Umgang
mit Menschen sei. Was sagen Sie dazu?

Merz:Das sagen vor allem diejenigen, die
mich nicht kennen.
SPIEGEL:Als Sie 2018 schon mal CDU-
Vorsitzender werden wollten, wurde eine
Begebenheit aus dem Jahr 2004 öffentlich.
Damals hatte ein Obdachloser Ihr Note-
book gefunden und es zurückgegeben.
Zum Dank haben Sie ihm Ihr Buch ge-
schenkt: »Nur wer sich ändert, wird beste-
hen. Vom Ende der Wohlstandsillusion –
Kursbestimmung für unsere Zukunft«.
War das etwa großzügig und empathisch?
Merz:Diese Geschichte ist im November
2018 im Feuilleton der »FAZ« veröffentlicht
worden, ohne dass der zuständige Redak-
teur es für nötig befunden hätte, einmal
bei mir nachzufragen, ob sie auch wirklich
stimmt. Und manchmal ist die halbe Wahr-
heit schlimmer als die ganze Unwahrheit.
SPIEGEL:Was stimmt denn?
Merz:Richtig ist, dass ich 2003 oder 2004
ein kleines elektronisches Adressverzeich-
nis am Berliner Ostbahnhof verloren habe.
In den damaligen Handys konnte man ja
kaum Adressen und Telefonnummern spei-
chern. Also hatten wir so kleine, aufklapp-
bare Organizer. Und ich weiß das noch
ganz genau: Ich musste telefonieren, und
dann habe ich das Telefon eingesteckt und
dieses elektronische Notizbuch stehen ge-
lassen, auf einem Treppenabsatz.
SPIEGEL:Und dann?
Merz:Ein oder zwei Tage später habe ich
den Organizer von der Bahnhofs poli zei zu-
rückgebracht bekommen, und die hat mir
gesagt: Wir wissen, wer das gefunden hat.
Einen Namen wollten die Beamten mir aber
nicht nennen. Sie haben mir nur ausrichten
lassen: Bitte geben Sie dem Finder kein Geld,
sondern schreiben Sie ihm über uns ein paar
freundliche Zeilen, und legen Sie vielleicht
noch ein kleines Präsent dazu. Das habe ich
voller Dankbarkeit dann gemacht, und da-
mit war das Thema für mich erledigt. 14 Jah-
re später wird diese Geschichte ausgegraben
und mit dem Hinweis verbunden, der Finder
sei ein Obdachloser gewesen. Einem Ob-
dachlosen hätte ich ein solches Buch natür-
lich nicht geschickt, das ist doch völlig klar.
SPIEGEL:Trotzdem werden bestimmte
Eigen schaften immer wieder mit Ihnen
verbunden: Eitelkeit, Ehrgeiz, Egoismus.
Das könnte ja eine Grundlage haben.
Merz:Natürlich versuchen meine Gegner,
auch in der eigenen Partei, seit Jahren ein
bestimmtes Bild von mir zu zeichnen. Das
stimmt aber mit der Wirklichkeit nicht
überein. Alle Leute, die mich kennen, fra-
gen immer wieder: Wie kommt das eigent-
lich, dass du in dieser Weise beschrieben
wirst? Auch von meinen Kollegen und Mit-
arbeitern werden Sie so etwas nicht hören.
SPIEGEL:Aber noch mal: Irgendwo muss
es doch herkommen.
Merz:Allein meine Körpergröße ist natür-
lich eine denkbare Projektionsfläche für
solche Vorurteile. Ich schaue deshalb rein

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PETER RIGAUD / DER SPIEGEL
Christdemokrat Merz:»Die Grünen sind mir einfach zu rückwärtsgewandt«
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