Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

wesen sogar als immaterielles Kulturerbe.
Es sei ein »wichtiger, historisch gewachse-
ner und lebendiger Teil der regionalen wie
lokalen Identität«. Es gehe um Brauchtum
und Tradition, heißt es.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob
man zur Pflege von Brauchtum und Tra-
dition tatsächlich halbautomatische Waf-
fen braucht, die in kürzester Zeit Dutzen-
de Menschen töten können und die es na-
türlich in der angeblich guten alten Zeit
gar nicht gab. Im Brockhaus von 1886
steht unter dem Stichwort »Schützenge-
sellschaften«, diese seien »der letzte Rest
jener einst dem deutschen Bürger zuste-
henden allgemeinen Waffenfähigkeit«. Da-
mals, als es keine funktionierende Polizei
gab, ging es um die Abwehr konkreter Ge-
fahren für jedermann.
Und heute? 5,4 Millionen Waffen befin-
den sich in Deutschland in Privatbesitz.
Zehn davon gehören dem Hamburger IT-
Berater Matthias Uhlig. Auf einem Schieß-
stand im niedersächsischen Garlstorf legt
er für gewöhnlich an. Auch an einem Mitt-
wochnachmittag der vergangenen Woche.
Neben ihm trainieren Jäger, Polizeibeamte
und Sportschützen. Uhlig richtet eine
Pistole, Kaliber 9 Millimeter, auf eine Ziel-
scheibe. »Für mich ist die Waffe ein Sport-
gerät«, sagt der 59-Jährige. Der Mann
besitzt sechs Pistolen und vier Revolver.
Außerdem Gewehre. Er ist auch Jäger.
»Schießen ist ein Sport wie jeder andere
auch«, sagt Uhlig. Denkt er an Hanau?
»Es ist entsetzlich, was da passiert ist, egal
ob es ein Sportschütze war oder ob er sich
die Waffe illegal besorgt hat.«
Neben ihm steht Rainer Wilhelm, eben-
falls Jäger und Sportschütze, der über ein
ähnliches Arsenal an Kurz- und Langwaf-
fen verfügt: »Wenn so etwas in der Zeitung
steht, denken wieder alle, wir horten Waf-
fen, geben damit an und erschießen dann
Leute«, sagt Wilhelm.
»Wir machen alles mit, was wirklich der
Sicherheit dient«, so Uhlig. Doch vieles
sei Aktionismus. »Wer eine solche Tat vor-
bereitet, der findet eine Waffe, auch wenn
er keine legale hat«, sagt Uhlig. Dann baue
er sich eine mit einem 3-D-Drucker, neh-
me ein Messer oder ein Auto, um zu töten.
Immer wieder verweisen Freizeitschützen
auch darauf, dass mit legalen Waffen viel
weniger Straftaten begangen würden als
mit illegalen.
Die Argumente sind bekannt, doch zei-
gen die Taten der vergangenen Zeit, dass
sich unter Sportschützen manchmal auch
gefährliche Radikale tummeln. Im Juni
2019 wurde in Hessen der CDU-Politiker
Walter Lübcke erschossen. Der mutmaß-
liche Täter Stephan Ernst soll mit dem
Rechtsextremisten und Sportschützen
Markus H. trainiert haben.
Auf dem Schießstand der Schützenge-
sellschaft zu Grebenstein bei Kassel war


Markus H. häufig aktiv. Gut fünfmal, so
stellte der Verein in den Anwesenheitslis-
ten fest, hatte H. wohl seinen Kumpel Ernst
zum Schießen mitgebracht. Womöglich
habe Ernst noch häufiger im Verein trai-
niert, sagt der Vorstand der Schützenge-
sellschaft. Es könne sein, dass er sich teils
unter falschem Namen eingetragen habe.
Erstaunlich ist, dass der
Ernst-Vertraute – der im
Lübcke-Mord als Beschul-
digter gilt – seit 2016 legal
Schusswaffen kaufen und
besitzen konnte, obwohl
seine rechtsextreme Gesin-
nung den Behörden seit
Jahren bekannt war.
H. hatte seit 2007 ver-
sucht, eine Waffenbesitz -
erlaubnis zu bekommen.
Die Kasseler Ordnungs -
behörde lehnte wegen sei-
ner rechten Umtriebe ab.
2012 unternahm er einen
neuen Versuch und scheiter-
te wieder. H. klagte – und
gewann. Im März 2015 befand das Verwal-
tungsgericht, die Behörde müsse eine Waf-
fenbesitzkarte ausstellen. Das Gericht
habe zwar keinen Zweifel daran, dass er
sich bis 2009 im rechtsextremen Umfeld
bewegt habe. Aber die Vorfälle lägen in-
zwischen mehr als fünf Jahre zurück.
2016 erhielt H. die Papiere, die ihn zum
legalen Waffenbesitzer machten.
Auch der Attentäter von Hanau gehörte
Schützenvereinen an, unter anderem dem
in Bergen-Enkheim, Mitgliedsnummer


  1. Rathjen hatte als Sportschütze seine
    Erlaubnis zum Waffenbesitz 2013 bei der
    Ordnungsbehörde des Main-Kinzig-Krei-


ses beantragt und ohne Probleme bekom-
men. Im April 2014 ließ er sich eine Pistole
eintragen, eine Sig Sauer 226, Kaliber 9
Millimeter Luger. Mit dieser Waffe er-
schoss er sich schließlich nach seinem At-
tentat. 2018 hatte Rathjen noch eine Klein-
kaliberpistole gekauft, Marke Walther
PPQ M2, Kaliber .22.
Wenige Wochen vor sei-
nem Anschlag, es war der


  1. Februar, lieh sich Rathjen
    zudem legal bei einem Waf-
    fenhändler in Hanau eine
    Pistole vom Typ Ceska 75
    Shadow, Kaliber 9 Millime-
    ter. Der Waffenhändler sag-
    te dem SPIEGEL, er habe da-
    mals keinen Grund gesehen,
    dem späteren Massenmör-
    der die Pistole nicht zu
    geben. Rathjen sei »seriös
    gekleidet« gewesen, habe
    »völlig normal« gewirkt und
    keinerlei verdächtige Bemer-
    kungen gemacht. Auch die
    Papiere seien in Ordnung ge-
    wesen. Die Ceska entdeckten Kriminal -
    beamte später in Rathjens Auto, zusammen
    mit Magazinen und Munition. In der Woh-
    nung fanden die Beamten der Spurensiche-
    rung insgesamt 346 Patronen. An den Tat-
    orten sammelten sie 52 Hülsen auf – so oft
    hatte der Täter mindestens abgedrückt.
    Hätte die Waffenbehörde die Chance ge-
    habt, Rathjen die Waffen zu verweigern oder
    zu entziehen? Nein, sagt Verwaltungsspre-
    cher Mewes: »Wir haben das jetzt noch ein-
    mal alles eingehend geprüft. Aber wir haben
    nichts gefunden, was wir versäumt hätten.«
    Vor einem guten halben Jahr, im August
    2019, ordnete der Landkreis noch eine rou-


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Deutschland

MICHAEL KOHLS / DER SPIEGEL
Schützen Uhlig, Wilhelm: »Ein Sport wie jeder andere auch«

Waffen und Waffenteile
wie Schalldämpfer
sind im Nationalen
Waffenregister erfasst.

Waffen- oder Waffenteilbesitzer
waren Ende 2019 im Nationalen
Waffenregister gemeldet.

5,4 Mio.


950 000


Quelle: Bundesverwaltungsamt
Stand: 31. Dezember 2019
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