Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

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Deutschland

D


er Kasseler Geschichtslehrer S. hielt
sich in seiner Küche auf, an einem
frühen Donnerstagmorgen im Fe -
bruar 2003, als er einen Knall hörte. Er
spürte den Luftzug eines Geschosses, das
an seinem Kopf vorbeiflog, so schilderte
er es später gegenüber einer Zeitung. Das
Projektil durchschlug die Fensterscheibe
und ein Kunststoffrollo und bohrte sich in
ein Küchenregal. Es verfehlte den damals
48-Jährigen nur knapp. S. engagierte sich
zu dieser Zeit gegen Rechtsextremismus,
er tut es bis heute. Er habe »den starken
Verdacht, dass es eine politisch motivierte
Tat« sei, sagte er damals.
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft
Kassel zu diesem Fall wurden ohne Ergeb-
nis zu den Akten gelegt. Doch eine neue
Spur führt zu dem Neonazi Stephan Ernst,
dem mutmaßlichen Mörder des Kasseler
Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
Der Generalbundesanwalt hat daher im
vergangenen November gegen Stephan
Ernst ein neues Verfahren wegen des Ver-
dachts des versuchten Mordes eingeleitet.
Die Bundesanwaltschaft bestätigte auf An-
frage von SPIEGELund NDR die Existenz
des Verfahrens, wollte sich zu Details aber
nicht äußern.
Eine Kasseler Staatsanwältin hatte den
Generalbundesanwalt auf den 16 Jahre
alten Fall hingewiesen und gefragt, ob es
eine Verbindung zu Ernst geben könnte.
Der Rechtsextremist wohnte offenbar nur
rund zehn Fahrminuten von S. entfernt.
Die Karlsruher Ermittler werteten ver-
schlüsselte Dokumente aus, die sie auf
Ernsts Computer sichergestellt hatten.
Und sie wurden fündig: Sie entdeckten
einen Ordner mit Informationen zu zahl-
reichen Personen und ein Dossier über
den Geschichtslehrer.
Darin waren gemäß den Ermittlungs -
akten Name, Adresse und ein Foto des
Opfers sowie Angaben zu dessen Engage-
ment gegen Rechtsextremismus enthalten.
Das Dokument soll im Jahr vor dem An-
schlag auf S. erstellt worden sein. Die
hessischen Behörden haben den Lehrer
und die Personen aus Ernsts Dateien be-
nachrichtigt, dass der Rechtsextremist In-
formationen über sie gesammelt hat.


Nun prüfen die Beamten, ob es weitere
Indizien für eine Tatbeteiligung Ernsts gibt.
»Unser Mandant weist diese Vorwürfe em-
pört zurück«, erklärte Ernsts Verteidiger,
der Dresdner Rechtsanwalt und Kommu-
nalpolitiker Frank Hannig. Er habe keine
Kenntnis von dem Ermittlungsverfahren
und habe den Generalbundesanwalt auf-
gefordert, ihn zu informieren. Sein Man-
dant sei »betrübt«, so Hannig, dass nun
»jede Tat, die auf irgendeine Art und Weise
mit einem rechten, rechtsradikalen oder
politischen Zusammenhang betrachtet
werden könnte, ihm in die Schuhe gescho-
ben werden soll«.
Die Ermittlungen dauern an. Bislang
sind nach Informationen von SPIEGEL
und NDR aber keine weiteren bedeutsa-
men Verdachtsmomente dazugekommen.
Es läuft also ein weiteres Verfahren ge-
gen Stephan Ernst, der nicht nur des Mor-
des an Walter Lübcke verdächtigt wird,
sondern auch des Mordversuchs an einem
irakischen Asylbewerber, der 2016 von
hinten mit einem Messer attackiert und
schwer verletzt worden war. Auch diesen
Vorwurf hat Ernst über seinen Anwalt
dementieren lassen. Bereits in den Acht-
ziger- und Neunzigerjahren war Ernst
durch ausländerfeindliche Übergriffe auf-
gefallen; er ist mehrfach vorbestraft.
Der CDU-Politiker Lübcke war im Juni
vergangenen Jahres auf der Veranda sei-
nes Hauses aus unmittelbarer Nähe er-

Knapp am


Kopf vorbei


RechtsterrorismusGegen Stephan
Ernst, den mutmaßlichen
Mörder Walter Lübckes, wird in
einem weiteren Fall ermittelt.
Der Vorwurf: versuchter Mord.

ULI DECK / DPA
Tatverdächtiger Ernst
Name, Adresse und ein Foto des Opfers

schossen worden. Zuvor war er im Netz
mit Hassbotschaften und Todesdrohun-
gen überschüttet worden, weil er sich für
die Aufnahme von Flüchtlingen einge-
setzt hatte.
Der heute 46-jährige Ernst war 13 Tage
nach der Tat festgenommen worden und
hatte ein Geständnis abgelegt. Mittlerweile
hat er es widerrufen und Markus H. des
tödlichen Schusses beschuldigt, einen lang-
jährigen Freund aus der rechtsextremen
Szene. An der Tatwaffe wurden allerdings
nur Ernsts DNA-Spuren gefunden.
Ernst hatte die Ermittler mit seiner
Aussage zu einem Waffenversteck auf
dem Werksgelände seines Arbeitgebers
geführt. Unter Holzlatten und Erde lagen,
das geht aus Ermittlungsakten hervor,
blaue Müllsäcke. Darin fanden die Er -
mittler einen Revolver, eine weitere Kurz-
waffe, eine Pumpgun, eine Maschinen -
pistole und eine weitere Langwaffe. Bei
Ernst entdeckten sie nach Informationen
des SPIEGELund des NDR zudem fünf
Schalldämpfer, ein Zielfernrohr sowie
1394 Schuss Munition.
Zudem konnten die Ermittler eine so-
genannte Dashcam sicherstellen, eine klei-
ne Kamera, die etwa an der Windschutz-
scheibe im Auto angebracht werden kann.
Darauf sind Aufnahmen von Haus und
Auto des Mordopfers Lübcke gespeichert.
Die Videos wurden gut zwei Jahre vor
der Tat aufgenommen – aus Ernsts Auto
heraus, einem VW Caddy.
Weiterhin ungeklärt ist derweil die Fra-
ge, wie die Mordwaffe in die Hände des
Täters gelangte. Die Ermittler konnten
den in Brasilien produzierten Revolver
der Marke Rossi auf ein schweizerisches
Unternehmen zurückverfolgen, das mit
Waffen handelte und heute nicht mehr
besteht. 1987 hatte die Firma den Revolver
importiert und anschließend laut Ermitt-
lungsakten an einen Schweizer verkauft.
Mitarbeiter des hessischen Landeskri-
minalamts haben den heutigen Rentner
ausfindig gemacht und sich am Telefon
nach der Waffe erkundigt. Er soll bestä-
tigt haben, dass er die Waffe gekauft habe
und sie noch besitze. Auf Nachfrage sei
er sie suchen gegangen – und habe sie zu
seiner angeblichen Überraschung dann
doch nicht gefunden.
Seine Töchter, die nun offenbar in
Kontakt mit der deutschen Polizei stehen,
konnten zwar noch die Originalverpa-
ckung der Pistole finden, die Waffe aber
nicht. Sie wiesen die Ermittler darauf hin,
dass ihr Vater an Demenz leide. Die Er-
mittler behalten sich vor, den Schweizer
trotzdem zu vernehmen.
Die Anklage im Mordfall Lübcke wird
in den kommenden Wochen erwartet.
Rafael Buschmann, Nicola Naber,
Christoph Winterbach, Michael Wulzinger
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