Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

verträge zu widerrufen oder das Geschäft
rückabzuwickeln. Das Strafrecht müssen
die windigen Vertreter hingegen kaum
fürchten – dass Gerichte wie in Rheine
durchgreifen, ist sehr selten.
»Wir sind überzeugt, dass viele Senioren
mit solch erfundenen Geschichten ge-
täuscht werden«, sagt Oliver Klau, im Lan-
deskriminalamt (LKA) Berlin zuständig
für Betrugsdelikte. »Aber es ist nicht ein-
fach, das so zu belegen, dass es für eine
Anklage reicht. Oft steht Aussage gegen
Aussage.« Zudem seien viele Senioren
überfordert, gegen die Täter vorzugehen,
und erstatteten keine Strafanzeige. Daher
komme es selten zu Strafverfahren. Das
LKA habe aber gerade Ermittlungen gegen
eine einschlägig bekannte Firma abge-
schlossen und rechne damit, dass bald
Anklage erhoben werde, sagt Klau.
In Rheine kam der Fall erst ins Rollen,
als eine Sparkasse wegen verdächtig ho-
her Geldbewegungen auf dem Konto von
Carsten J. einen Verdacht auf Geldwäsche
meldete. Doch selbst vor Gericht konnten
nicht alle Fragen geklärt werden, auch weil
die Angeklagten beharrlich schwiegen,
etwa zu ihren Verbindungen zu Bertels-
mann. Wieso verfügten die Männer über
vertrauliche Kundeninformationen?
Der Gütersloher Konzern – der über das
Unternehmen Gruner + Jahr am SPIEGEL
beteiligt ist – beteuert, nichts mit den Vor-
fällen zu tun zu haben. Niemals seien Kun-
dendaten herausgegeben worden, heißt
es. Im Gegenteil: In drei Rundschreiben
seien ehemalige Kunden vor vermeint -
lichen Mitarbeitern gewarnt worden, teilt
Bertelsmann mit.
Über viele Jahre hat die Firma mit ih-
rem Bücher-Klub und dem Verkauf teurer
Nachschlagewerke prächtig verdient. Als
dieses Geschäft aber schrumpfte, brauchte
sie neue Produkte für ihre Vertreter.
Die Reproduktionen kostbarer Hand-
schriften aus dem Mittelalter und frühneu-
zeitlicher Drucke schienen perfekt geeig-
net. Sie werden aufwendig hergestellt, auf
teurem Papier gedruckt und manchmal
sogar mit Gold oder Foliengold – gold -
bedrucktem Aluminium – dekoriert. Lieb-
haber zahlen für limitierte Sammlerstücke
mehrere Tausend Euro.
Bald versuchten sich Vertreter daran,
auch solchen Kunden die Werke schmack-
haft zu machen, die sich kaum je für la -
teinische oder altdeutsche Schriften in -
teressiert hatten. Ein Klassiker war die
»Merian Kupferbibel«, eine rund fünf
Kilogramm schwere Schwarte für 1700 Eu -
ro. Für die Vertreter war der Verkauf lu-
krativ, sie kassierten wegen der hohen
Preise satte Provisionen.
Für Bertelsmann hingegen entwickelte
sich das Geschäft weniger erfreulich. Vor-
schriften schränkten Haustürgeschäfte und
die Nutzung von Adressen ein. Kunden


beschwerten sich, ihnen seien Faksimiles
als Wertanlage verkauft worden. Es folg-
ten Prozesse und negative Schlagzeilen.
2014 stellte das Unternehmen den Di-
rektverkauf ein. 400 selbstständige Han-
delsvertreter, die für das Tochterunterneh-
men Inmediaone unterwegs waren, muss-
ten eine neue Beschäftigung finden. Das
Unternehmen, so heißt es heute im Um-
feld von Bertelsmann, habe versucht, die
Betroffenen in anderen Branchen unter-
zubringen. Das misslang offenbar. Etliche
Vertreter scheinen einfach weiterzuma-
chen. »Eine Gruppe von 20 bis 30 Leuten
ist auf eigene Rechnung nach wie vor aktiv,
die kennen sich alle bestens«, sagt ein
Manager, der anonym bleiben will.
Wie dreist die Verkäufer vorgehen,
erfuhren Ingrid und Gerhard S. im Jahr


  1. Zunächst glaubten sie noch an einen
    Glücksfall, als zwei junge Männer an der
    Tür klingelten. In den frühen Neunzigern
    hatte das Ehepaar S. eine Bertelsmann-Le-
    xikothek gekauft, 24 blaue Bände. Später
    auch den Brockhaus. Seitdem verstaubten
    die Bücher im Regal.


Die Besucher boten an, die alten Bü-
cher zu versteigern. Allerdings müssten
die Bücher um ein Faksimile ergänzt wer-
den. Im Angebot hatten die Männer als
Nachdruck das »Gebetbuch für Kardinal
Albrecht von Brandenburg« zum Preis
von 4999 Euro. Von dem Werk, 1536/37
verfasst, hatte das Paar noch nie gehört.
Ingrid S. ist Reinigungskraft, ihr Mann ar-
beitete in einem Schlachthof. Alte Bücher
interessierten sie eigentlich nicht. Aber
die Aussicht, damit auf einer Versteige-
rung 42 500 Euro erzielen zu können, fan-
den sie verlockend.
Das Ehepaar hat drei Kinder, ein Sohn
sitzt im Rollstuhl und ist arbeitslos. Gern
wollten sie ihn unterstützen. Weil sie sich
das teure Buch nicht leisten konnten, küm-
merten sich die Vertreter gleich um einen
Kredit. Sie sagten den Eheleuten, sie soll-
ten sich schon einmal Gedanken machen,
in welchem Gasthaus die Auktion am bes-
ten stattfinden könne.
Während die beiden auf die Versteige-
rung warteten, stand ein anderer Vertreter
vor der Tür. Er erklärte ihnen, es fehlten
weitere Werke in ihrer Sammlung. Er
schlug vor, diese über einen zusätzlichen
Kredit zu finanzieren. Dann gebe es auch
einen höheren Gewinn. »Ein schlechtes
Gefühl hatte ich schon«, sagt Ingrid S.
Trotzdem unterschrieb das Paar erneut.

Nun sitzen sie bei ihren Anwälten Wolf-
gang Schneider und Patrick Droll in einer
Bielefelder Kanzlei. »Wir haben solche Ge-
schichten schon etliche Mal gehört«, sagt
Schneider. In einer Übersicht hat der Jurist,
der sonst vor allem Wirtschaftsverfahren
führt, alle offenen Verfahren aufgelistet.
Die Schadenssumme beträgt demnach
2,25 Millionen Euro, verursacht von elf
verschiedenen Anbietern.
»Das ist ein mieses Geschäft«, sagt
Schneider, »wir müssen die alten Men-
schen warnen.« Statt aber Polizei und
Staatsanwaltschaft einzuschalten, arbeitet
er diskret auf zivilrechtlichem Weg. »Den
Geschädigten ist das Geld am wichtigs-
ten«, sagt er. »Was nutzt es ihnen, wenn
ein Vertreter tatsächlich strafrechtlich
verurteilt würde? Davon hätten sie ihr
Geld nicht wieder, und auch Kredite
liefen weiter.« Laut Schneider stehen
die Chancen für seine Mandanten nicht
schlecht. Er hält die Verträge für Wucher,
weil der Preis der Nachdrucke und der
tatsäch liche Wert in einem auffälligen
Miss verhältnis stünden.
Dass diese Bücher alles andere als eine
Wertanlage seien, sagt auch Balázs Jádi,
Abteilungsleiter Bücher im angesehenen
Berliner Auktionshaus Jeschke van Vliet.
»Das Grundproblem dieses Geschäfts ist
gerade der rapide Wertverlust«, so der Ex-
perte. »Wenn Sie Glück haben, bekom-
men Sie bei einem Verkauf die Hälfte des
Ausgabenpreises, meist deutlich weniger.«
Manche Opfer landen irgendwann bei
Kurt Rohze, Betreiber eines Antiquariats
in Delmenhorst bei Bremen. Seit 30 Jah-
ren kauft und verkauft er die kunstvollen
Faksimiles. »Lange war das ein wunder-
bares Geschäft für Buchliebhaber«, sagt
er. Inzwischen seien immer weniger Kun-
den bereit, große Summen für Faksimiles
auszugeben. Auch das Interesse von Mu-
seen und Bibliotheken habe nachgelassen.
Neuerdings meldeten sich aber ältere
Menschen, die ihre Nachdrucke zum Kauf
anböten und auf das große Geld hofften.
»Am Telefon höre ich schon, dass es sich
nicht um Sammler handelt«, sagt Rohze.
»Ich sage dann meistens: ›Nehmen Sie erst
einmal Baldrian, bevor ich Ihnen die Wahr-
heit erzähle.‹«
Vor wenigen Tagen rief Heidrun L. aus
Hoyerswerda an, Bertelsmann-Kundin seit
kurz nach der Wende. Elf Faksimiles ha-
ben ihr Vertreter unterschiedlicher Firmen
in den vergangenen vier Jahren verkauft,
zum »Wert eines guten Neu wagens«, wie
sie berichtet. Der Antiquar sagte ihr, dass
er fünf der Werke bereits im Angebot
habe, für zusammen 855 Eu ro. Auch die
angeblich heiß begehrte Bertelsmann-Le-
xikothek steht bei ihm im Regal – 139 Euro
für alle Bände.
Michael Fröhlingsdorf, Lea Hensen

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 49

Deutschland

»Ein schlechtes Gefühl
hatte ich schon«, sagt
Ingrid S. Trotzdem unter-
schrieb das Paar erneut.
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