Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

Reporter


50 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Krisen

Gibt es eine


deutsche Angstlust,


Herr Bandelow?


SPIEGEL:Das Bundesamt für Bevölkerungs-
schutz hat die Bürger aufgerufen, Rezepte
für ein »Notfallkochbuch« ein zureichen,
damit wir im Katastrophenfall nicht ver-
hungern. Was halten Sie davon?
Bandelow:Es gibt eine Lust an der Angst,
die damit bedient wird. Es erinnert mich
an den Abenteuergeist, der Menschen in
den Campingurlaub treibt. Die müssen
sich auch überlegen, wie sie überleben
können, ob sie einen Gas- oder Benzin -
kocher mitnehmen.
SPIEGEL:Warum macht es den Menschen
überhaupt Spaß, Angst zu haben?
Bandelow:Wenn wir Angst haben, wer-
den Endorphine ausgeschüttet: eine natür-
liche Schutzfunktion des Körpers, die zu
Schmerzfreiheit und Euphorie führt. En-
dorphine sorgen dafür, dass man während
eines Kampfes nicht aufgibt. Während
wir zum Beispiel in der Achterbahn durch
die Kurven fliegen, schießen die Angst -
hormone durch den Körper. Wenn wir die
Kurve überlebt haben, ist die Angst weg,
aber die Endorphine sind noch im Blut.
SPIEGEL:Kann das den Deutschen helfen,
ihre schlechte Laune zu überwinden?
Bandelow: Es ist nicht unbedingt so, dass
Leute in guten Zeiten mehr Nervenkitzel
benötigen als in Zeiten, in denen Angst
herrscht. Es gibt ja auch in Krisenländern
Menschen, die Vergnügungen suchen, die
mit Nervenkitzel verbunden sind.
SPIEGEL:Wie erklären Sie sich das?
Bandelow: Ich war mal in einer Favela in
Rio de Janeiro. Da habe ich im Dreck eine
Zeitung gefunden, die mich irritierte, weil
dort großformatig die Leichen der letzten
Morde in den Slums mit den fiesesten
Verletzungen abgebildet waren. Gerade
diese Menschen brauchen das wohl, um
ihre Ängste abbauen zu können.
SPIEGEL:Wie funktioniert das?
Bandelow: Sie sind erleichtert, nicht betrof-
fen zu sein. Deshalb wollen die Leute in
den Nachrichten auch immer von schreckli-
chen Katastrophen hören, in die sie selbst
hätten geraten können. In diesem Moment
springt das Angstsystem an. Die Erleich -
terung darüber, dass einem nichts passiert
ist, erzeugt ein Glücksgefühl.MAH

Borwin Bandelow, 68, ist Angstforscher an
der Universität Göttingen.

Friedemann Roeßler, 72:
Für den Totalschaden unseres mint-
grünen VW-Käfers war ein nervöses
Kapuzineräffchen verantwortlich,
sein Name war Fritzi. Es war Ostern
1960, und mein Vater, der auf dem
Foto vor dem kaputten Käfer steht,
unternahm eine Spazierfahrt ins
Lauenburgische mit meinem Bruder
Gotthard, mir und dem Äffchen. Der
Unfall passierte kurz nachdem wir an
einem Krämerladen gehalten hatten,
wo mein Vater uns Vanilleeis am Stiel
spendierte. Eins für Gotthard, eins
für mich und leider eins für Fritzi.
Mein Vater hatte das Äffchen ge -
schenkt bekommen. Es schlief nachts
in einem Käfig, tagsüber lief es bei
uns im Haus herum. Mein Vater war
Biologielehrer. Wenn Kinder im Wald
verletzte Tiere fanden, brachten sie
die zu uns, wo mein Vater sie auf -
päppelte: einen kranken Fuchs, Igel,
wir beherbergten auch Zwerg ziegen,
Pfauen und Gänse – und Fritzi. Der
hat viel Schaden im Haus angerichtet.
Doch mein Vater liebte Fritzi trotz-

dem. Er liebte alle Tiere. Mein Vater
schimpfte nie, er hatte ein großes
Herz. Er war vom ersten bis zum letz-
ten Tag im Krieg gewesen. Viele
Männer kehrten jähzornig und bitter
heim, aber nicht mein Vater. Ich weiß
nicht, was er im Krieg gesehen hat. Er
hat mit uns nie darüber gesprochen.
Es schien aber, als hätte er sich dazu
entschlossen, jeden Tag zu genießen.
Man sieht es auf diesem Bild. Sein
Auto ist Schrott, doch er lächelt.
Auf der Fahrt schleckten wir das Va-
nilleeis, Fritzi saß auf der Lehne des
Beifahrersitzes. Da begann der Affe
mit seinem Eis auf die Sitze zu schlab-
bern. Wir versuchten, es ihm weg -
zunehmen, doch Fritzi tobte im In-
nenraum des Wagens. Mein Vater
schaute nach hinten, dann fuhr er in
den Graben. Wir blieben unverletzt.
Mein Vater starb viel später, an ei-
nem Novembertag 1990, nach einem
erfüllten Leben. An diesem Tag füt-
terte er die Graugänse am Seeufer
vor unserem Haus, wie üblich. Dann
hörte sein Herz auf zu schlagen.
Aufgezeichnet von Max Polonyi

Familienalbum

Schadenfreude,


1960


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