Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 51


W


ann Bessemer zu stinken begann, weiß Bürgermeis-
ter Adam Zak nicht mehr genau, es kam irgendwie
schleichend. Aber alles fing damit an, dass die Re-
gierung von Michigan im November 2018 entschied, Mari-
huana im gesamten Bundesstaat zu legalisieren. Künftig durf-
te es nicht mehr nur zu medizinischen Zwecken konsumiert
werden, sondern auch einfach so, wenn man Lust dazu hat,
also zum »recreational use«. Damals wurde nicht nur Adam
Zak, sondern wahrscheinlich auch dem letzten Marihuana -
skeptiker in Bessemer klar, dass es selbst hier, in der alten
Minenstadt am Lake Superior, an manchen Ecken bald so
riechen würde wie damals in Haight-Ashbury, der Hochburg
der Hippies in San Francisco.
Inzwischen ist Marihuana in Bessemer angekommen, ei-
nem Städtchen mit 1900 Einwohnern, in dem der Traum
vom Small-Town America weiterlebt. Die Stadtverordnete
Linda Nelson sagte: »Die City
von Bessemer stinkt. Man
riecht Marihuana überall. Es
gibt Leute, die nicht mehr in
ihrem Garten sitzen können,
weil der Gestank, der von
ihrem Nachbarn kommt, so
schlimm ist.«
Was unbestritten ist: Jeder
Bürger in Michigan, der älter
als 21 Jahre ist, darf laut Ge-
setz bis zu zwölf Cannabis-
pflanzen besitzen – voraus -
gesetzt, sie wachsen an einem
Ort, der öffentlich nicht ein-
sehbar ist: in einem Gewächs-
haus beispielsweise, einem
Wohnhaus oder einer Woh-
nung. In Bessemer, wo die
Einwohner durchschnittlich
48,1 Jahre alt sind, also ziem-
lich viele Erwachsene leben,
sind das schnell mehrere Tau-
send Cannabispflanzen, die
angebaut werden dürfen, nur
für den Freizeitgebrauch. Hinzu kommen jene Pflanzen, die
von »medical caregivers« für den medizinischen Gebrauch
gezogen werden dürfen, vor allem zur Schmerztherapie. Pro
Patient sind zwölf Pflanzen erlaubt, jeder Betreuer darf bis
zu fünf Patienten haben – macht bis zu 72 Pflanzen für jeden,
der eine Lizenz als »caregiver« besitzt.
Ganz schön viele Pflanzen sind das für eine kleine Stadt,
was eigentlich kein Problem wäre, wenn Cannabispflanzen,
besonders während ihrer Blütezeit, nicht stark riechen und
die Klimaanlagen den Geruch aus den Wohnzimmern Besse-
mers nicht in die Vorgärten und Gärten pusten würden –
zum Ärger der Menschen, die dort beim Barbecue sitzen.
Die Stadtverwalterin Charly Loper sagt: »Die Blütezeit
dauert sechs bis acht Wochen. Viele Leute beschreiben den
Geruch wie den eines Stinktiers. Er kann sehr stark sein.«
Stinktiersekret riecht wie eine Mischung aus Verwesung,

Knoblauch und faulen Eiern, ziemlich übel also. Aber was
soll die Stadt tun, um den Geruch erträglich zu machen?
Anfang Januar trat der Stadtrat zusammen. Er entschied
sich mit vier zu einer Stimme dafür, ein Gerät anzuschaffen,
das sich »Nasal Ranger« nennt. Es war eine Entscheidung,
die wahrscheinlich nur durch die absolute Ohnmacht der
Stadt gegenüber den Pflanzern zu erklären ist.
Der Nasal Ranger ist ein rüsselartiges Gerät, etwa einen
halben Meter lang. Man hält es sich vor die Nase, um Ge-
ruchsbelästigungen aufzuspüren und zu messen. Es enthält
stufenweise verstellbare Luftfilter, mit deren Hilfe man fest-
stellen kann, wie intensiv ein Geruch tatsächlich ist. 2000 Dol -
lar kostet so ein Gerät, produziert und patentiert von der
Firma St. Croix Sensory, die davor warnt, dass unser tägliches
Leben ein »Ansturm von Gerüchen« sei, ein andauernder
Überfall, und dass Gestank tödlich sein könne.
Grundsätzlich, sagt Bürgermeister Zak am Telefon, sei der
Nasal Ranger gar keine schlechte Idee und nicht so absurd,
wie es für manchen klingen mag. Die Stadt müsste zunächst
eine »odor ordinance« erlassen, eine Verordnung über die
Zulässigkeit von Gerüchen, aber das sei nach dem Stadtrecht
in Michigan kein Problem, jede Gemeinde könne das eigen-
ständig tun. Dann könnten sich Vertreter der Stadt mit dem
Nasal Ranger vor Lüftungsausgänge der Häuser von Pflan-
zern stellen und die Geruchsintensität messen. Man hätte so
zumindest Zahlen, die das Problem beschreiben, nicht nur
den Unmut der Leute. Würden dann die zulässigen Werte
überschritten, könnte die
Stadt die Cannabiskleinbau-
ern dazu verpflichten, zum
Beispiel Luftfilter einzusetzen,
um die Abluftqualität ihres
Hauses zu verbessern.
Aber will die Stadt das tat-
sächlich tun?
Was Bürgermeister Zak am
meisten fürchtet, ist der Ver-
waltungsaufwand, den seine
kleine Stadt bewältigen müss-
te, wenn plötzlich Hunderte
Nachbarn gegeneinander kla-
gen würden. Im Stadtrat war
er deshalb der Einzige, der
gegen die Anschaffung stimm-
te, auch wenn er nicht grund-
sätzlich Einwände gegen den
Nasal Ranger hat. Er würde
das Problem offenbar am
liebsten aussitzen, auch um
der Stadt Kosten zu ersparen.
Aber das ist jetzt nicht
mehr so leicht. Der Beschluss
des Stadtrats kann nur durch ein abermaliges Mehrheits -
votum rückgängig gemacht werden, es laufen derzeit Bera-
tungen mit Rechtsanwälten, um die juristischen Folgekosten
abschätzen zu können. Aber die Vorfreude auf den Nasal
Ranger ist bei einigen offenbar groß. Ein Stadtangestellter
hat sich bereits als Freiwilliger für den Dienst am Nasal
Ranger gemeldet; er sei bereit, sich an dem Gerät schulen
zu lassen.
So weit will Bürgermeister Zak gar nicht denken. Er sieht
noch ein anderes Problem: dass jemand eines Tages auf die
Idee kommen könnte, mit dem Nasal Ranger andere Gerüche
messen zu lassen als den von Cannabispflanzen.
In Bessemer gibt es zum Beispiel eine Sperrholzfabrik, die
Bessemer Plywood Corporation. Und wenn der Nasal Ranger
erst einmal im Einsatz ist, könnte jemand vielleicht auf den
Gedanken kommen, dass auch Sperrholz stinkt. Marc Hujer

Schnüffelei


Wie ein Ort in Michigan gegen den
Geruch von Cannabis vorgeht

Eine Meldung und ihre Geschichte

Geruchstester mit Nasal-Ranger-Gerät

Von der Website Vice.com
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