Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 53

Reporter

E


ine Altbauwohnung in Hamburg
Anfang Februar, hohe Decken,
moderne Kunst, vor dem Fens-
ter ein langer Holztisch: Jens
Söring, »Häftling 179212« und, je
nach Sichtweise, »Justizopfer« oder »Ger-
man Monster«, empfängt hier, um darüber
zu reden, wie man Jahrzehnte in amerika-
nischen Gefängnissen übersteht, wie sich
die Freiheit anfühlt, wie es für ihn jetzt wei-
tergehen soll. Wo die Wohnung liegt, was
man vom Fenster aus sieht, wem sie gehört:
All das soll bitte nicht genannt werden. Er
lerne gerade wieder, was »Privatsphäre«
bedeute und wie man sie schütze, sagt er.
Die Wohnung gehört einem von Sörings
»Unterstützern«, er hat Freunde in ganz
Deutschland und in den USA, die sich über
Jahre hinweg dafür eingesetzt haben, dass
Söring, mittlerweile 53 Jahre alt, aus der
Haft entlassen wird.
Am 30. März 1985 waren die Eltern sei-
ner damaligen Freundin Elizabeth Hay-
som in ihrem Haus in einem Vorort von
Lynchburg, Virginia, brutal ermordet
worden. Nancy und Derek Haysoms Lei-
chen wiesen zahlreiche Stichwunden auf,
beide wurden beinahe enthauptet. Die Er-
mittler bezeichneten den Tatort später als
»Schlachthaus«.
1990 wurde Söring, damals 23 Jahre alt,
in Virginia angeklagt, das Ehepaar getötet
zu haben. In einem Indizienprozess ver-
urteilte ihn der Richter zu zweimal lebens-
langer Freiheitsstrafe. Elizabeth Haysom,
die Tochter der Ermordeten, war schon
zuvor zu zweimal 45 Jahren Haft verurteilt
worden, wegen Anstiftung zum Mord.
Während der Haft schrieb Söring meh-
rere Bücher, darunter einen Krimi, er stellte
insgesamt 15 Anträge auf Entlassung. Deut-
sche Zeitungen und Fernsehsender sorgten

Das Gespräch führten die Redakteure Sarah Heidi
Engel, Hauke Goos und Simone Salden.

dafür, dass sein Fall im Gedächtnis blieb,
die Überschriften lauteten »Vergessen hin-
ter Gittern« (»Süddeutsche Zeitung«) oder
»Lebend begraben« (ZDF), »Die Schöne
und der Sonderling« (»Tagesspiegel«) oder
»Der Häftling mit den leeren Augen«
(»Westfälische Rundschau«). Auch SPIEGEL
ONLINEberichtete über den Fall.
Am 26. November 2019 wurde Söring
aus dem Gefängnis entlassen, nach 33 Jah-
ren, 6 Monaten und 27 Tagen. Am 17. De-
zember landete er auf dem Flughafen in
Frankfurt am Main. Seine Freilassung er-
folgte auf Bewährung. Sie ist kein Frei-
spruch. Söring bleibt rechtskräftig verur-
teilt. Alle Rechtsmittel sind ausgeschöpft.
Er darf nie wieder in die USA einreisen.
Im Hamburger Altbau kommt Söring, 53,
den SPIEGEL-Leuten auf der Treppe bis ins
Erdgeschoss entgegen. Er trägt eine dunkle
Hose und einen schwarzen Pullover, er ist

durchtrainiert und konzentriert. Er hat sich
ein paar Punkte aufgeschrieben, die ihm
wichtig sind, seine »Agenda« liegt während
des Gesprächs vor ihm auf dem Tisch. In
dem Interview soll es zunächst um die Tage
nach der Freilassung gehen und dann um
die Jahre in insgesamt sieben amerikani-
schen Gefängnissen. Am Ende werden wir
auch auf die Tat zu sprechen kommen.
Sörings Medienberater und ein Rechts-
anwalt sitzen mit am Tisch, beide achten
darauf, dass er mit seinen Äußerungen
nicht gegen seine Bewährungsauflagen ver-
stößt, dazu gehört auch »uniform and
good behaviour«, angepasstes und anstän-
diges Verhalten.
Es ist das erste ausführliche Gespräch
mit deutschen Journalisten seit seiner Frei-
lassung. Es wird acht Stunden dauern, un-
terbrochen nur von einer Mittagspause.

SPIEGEL:Herr Söring, Sie sind jetzt 52 Ta -
ge in Freiheit. Wie geht es Ihnen?
Söring: Das waren die besten 52 Tage mei-
nes Lebens. Ich bin so glücklich. Jeder Tag
ist stressig, weil alles so neu ist, aber gleich-
zeitig einfach wunderwunderschön. Ganz
kleine Sachen sind sehr, sehr intensiv für
mich, weil ich sie in 33 ½ Jahren nicht er-
lebt habe. Wenn Regen auf die Erde fällt –
das riecht gut. Im Gefängnis durften wir
bei Regen meistens nicht raus. Dort gibt
es nur Beton.
SPIEGEL:Was ist noch schön?
Söring:Kleinigkeiten. Neben meinem Bett
habe ich ein kleines Schild, darauf steht:
»Ich muss gar nichts«. Ich habe fast mein
ganzes Leben unter der Kontrolle anderer
Menschen verbracht. Alles wird im Ge-
fängnis kontrolliert, auch wann man aufs
Klo geht. Man kann nie frei entscheiden.
Jetzt kann ich das. Ich habe einen Schlüs-
selbund mit einem Schlüssel, ich kann Tü-
ren aufmachen. Teilweise ist Freiheit noch
schwierig. Im Restaurant muss man mir

PETER HÖNNEMANN / DER SPIEGEL
ROANOKE TIMES
Prozessbericht 1990
»Ich bin unschuldig«


»Jede Schwäche, die


du zeigst, führt zu einer


Vergewaltigung«


SPIEGEL-GesprächDer Deutsche Jens Söring, in den USA wegen Doppelmord verurteilt, saß


den größten Teil seines Lebens im Gefängnis. Im November 2019 kam er frei. Nun berichtet er
über die Haftzeit, den Geruch der Freiheit und über eine Tat, die sein Leben zerstörte.
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