Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
Reporter

helfen, weil das Angebot so groß ist. Ich
war bei Edeka. Die Auswahl ist obszön.
Braucht der Mensch wirklich so viele ver-
schiedene Sorten Mandarinen? Im Gefäng-
nis gibt’s ein Loch in der Wand, da schieben
sie den Teller durch. Da gibt’s keine Wahl.
SPIEGEL:Wann haben Sie erfahren, dass
Sie freikommen?
Söring:Am 25. November, gegen vier Uhr
am Nachmittag. Ich saß im Gemeinschafts-
saal des Gefängnisses Buckingham: ein
Trakt für 32 Mann, da haben sie 64 Mann
reingesteckt. Ich telefonierte gerade mit
einer deutschen Unterstützerin. Ein Wär-
ter kam rein und sagte: »Du musst jetzt
sofort zum Kontrollzentrum gehen.«
SPIEGEL:Was erwartet einen da?
Söring:Üblicherweise gibt es nur zwei
Möglichkeiten. Nummer eins: Man hat ge-
gen eine Regel verstoßen und kriegt den
Strafzettel ausgehändigt. Nummer zwei:
Haftentlassung. Ich habe aufgehängt, ohne
auf Wiedersehen zu sagen. Mein Antrag
auf Entlassung war am 24. August 2016
eingereicht worden. Je länger die Entschei-
dung auf sich warten ließ, desto größer
wurde meine Hoffnung.
SPIEGEL:Wo brachte der Wärter Sie hin?
Söring:Es gibt in der Kontrollzentrale ei-
nen Raum, dort habe ich etwa 20 Minuten
gewartet. Ich fühlte, wie ich nervös wurde,
meine Beine begannen ein bisschen zu zit-
tern. Der Gefängnisdirektor führte mich
dann in einen Konferenzraum. Dort saßen
die Vorsitzende und die Ermittlerin des Be-
währungsausschusses. Sie sagten: »Wir sind
hier, weil wir Ihnen bedingte Entlassung ge-
währen. Aber keine Begnadigung.« »Paro-
le« also, kein »Pardon«. Ich war enttäuscht.
SPIEGEL:Der Unterschied zwischen »Pa-
role« und »Pardon« hat für Sie auch eine
finanzielle Bedeutung.
Söring:Wenn man in Virginia begnadigt
wird, kann man einen Antrag auf Haftent-
schädigung stellen. Das Parlament muss
dann darüber abstimmen. Mir hätten
1,4 Millionen Dollar zugestanden, das hat
mir mein Anwalt gesagt. Aber nun kann
ich den Antrag nicht stellen. Mir war sofort
klar: Ich werde in Deutschland um meine
Existenz kämpfen müssen.
SPIEGEL:Wurde die Entscheidung be -
gründet?
Söring:Die Vorsitzende des Bewährungs-
ausschusses und der Gouverneur hatten
beide gesagt, mein Antrag auf Begnadi-
gung sei »without merit«, unbegründet.
Sie würden mich nur entlassen, weil ich
zur Tatzeit jung war, eine lange Strafe ab-
gesessen und mich gut geführt hätte. Mei-
ne weitere Inhaftierung würde nur hohe
Kosten verursachen.
SPIEGEL:Wie ging es weiter?
Söring:Sie gaben mir ein Dokument mit
den Bewährungsauflagen, etwa zehn Exem-
plare, die musste ich alle unterschreiben.
Und dann habe ich mit dem Direktor gere-


det. Er hat sich für mich gefreut und gesagt:
»Wir stecken dich in die Krankenstation, bis
dich die Einwanderungsbehörde abholt.
Damit du nicht angegriffen wirst.« So ist
das im Gefängnis: Wenn jemandem etwas
Gutes passiert, wird er sofort zum poten-
ziellen Opfer. Aber als ich in den Trakt
zurückkam, haben sich alle gefreut. Sogar
einer meiner Feinde ist zu mir gekommen
und hat mir ein Highfive gegeben – vermut-
lich war er froh, dass ich endlich weg war.
SPIEGEL:Was haben Sie aus dem Gefäng-
nis mitgenommen?
Söring:Ich durfte nur die Brille mitnehmen.
Ich hatte seit 2015 einen Beutel in meinem
Spind, darin waren eine Zahnbürste, Zahn-
pasta, Seife, Shampoo, Unterwäsche, eine
Jeans, Hemd und Schuhe. Damit ich sofort
loskann. Den musste ich dalassen. Sie ha-
ben mir nicht mal meine Gefängnisuniform
gelassen. Im staatlichen Gefängnis in Vir -
ginia trug ich Jeans und ein blaues Hemd.
Stattdessen gaben sie mir eine Art Jumpsuit.
Und ein Paar Stiefel ohne Schnürsenkel.
SPIEGEL:Am folgenden Tag durften Sie
tatsächlich raus.
Söring: Es gibt in den Gefängnissen in Vir-
ginia eine Art Käfig, mit einem großen Tor

an jedem Ende. Da fuhr ein weißer Kombi
rein. Die Wärter nahmen mir die Ketten
ab, die Leute von der Einwanderungs -
behörde legten mir die Bundesketten an,
Fuß- und Handschellen. Dann ging das hin-
tere Tor auf, und der Wagen fuhr rück-
wärts raus. Wir fuhren an dem Zaun vor-
bei, mit dem Natodraht und dem Schild
»Buckingham Correctional Center«. Die
Sonne war inzwischen aufgegangen. Der
Wagen bog ab, und durch die Scheibe sah
ich, wie das Gefängnis, in dem ich die letz-
ten zehn Jahre meines Lebens verbracht
hatte, immer kleiner wurde.
SPIEGEL:Haben Sie geweint?
Söring:Ich habe die Zeit im Gefängnis als
Krieg empfunden und mein Leben entspre-
chend geführt. Ich war 33 Jahre lang im
Krieg – und ich habe gewonnen. In dem Mo-
ment war ich einfach glücklich. Geweint
habe ich erst im Flugzeug, als wir über Irland
waren. Auf dem Bildschirm, auf dem man
die Flugroute verfolgt, kann man die Karte
bewegen. Ich habe sie zum Genfer See hin
bewegt, wo ich als Kind oft die Ferien ver-
bracht habe. Ich hatte in dem Moment das
Gefühl, dass ich zurückkomme auf einen
Kontinent, wo ich einmal glücklich war.
SPIEGEL:Was haben Sie auf dem Flug nach
Deutschland gemacht?

Söring:Wir saßen in der drittletzten Reihe:
ich am Fenster und zwei US-amerikani-
sche Beamte neben mir. Wir haben uns
übers Hantelstemmen unterhalten. Als wir
abgehoben sind, habe ich die ganze Zeit
aus dem Fenster geguckt, weil ich sehen
wollte, wie wir amerikanischen Boden ver-
lassen. Ich hatte meinen Freunden immer
gesagt: Wenn wir an Island vorbei sind,
haben sie nicht mehr genug Sprit, um zu-
rück nach Amerika zu fliegen. Aber diesen
Augenblick habe ich verschlafen.
SPIEGEL:Wo haben Sie Ihr erstes Weih-
nachtsfest nach der Freilassung verbracht?
Söring:Hier, in dieser Wohnung. Es war
sehr schön. Meine Freunde und Unterstüt-
zer aus Bitburg, Frankfurt und London wa-
ren da, wir haben alle zusammen gefeiert.
SPIEGEL:Was haben Sie sich für das neue
Jahr gewünscht?
Söring:Nichts Spezielles. Meine Wünsche
waren ja bereits in Erfüllung gegangen.
Jetzt führe ich gewissermaßen meinen
nächsten Kampf: hier in Deutschland an-
zukommen. Ich arbeite jetzt, um mich in
die Gesellschaft zu integrieren und mir ein
neues Leben aufzubauen.

Söring wurde 1966 als Sohn eines deut-
schen Konsularbeamten in Bangkok gebo-
ren. Seine Kindheit verbrachte er in Thai-
land, auf Zypern, in Bonn und im US-Bun-
desstaat Georgia. Von einer Privatschule
in Atlanta wechselte er 1984 mit einem
Hochbegabtenstipendium an die Univer -
sity of Virginia. Damals gab es die DDR
noch, Helmut Kohl stand am Beginn seiner
Kanzlerschaft, die Türme des World Trade
Center waren die höchsten New Yorks.
An der Universität lernte Söring die
zwei Jahre ältere Kanadierin Elizabeth
Haysom kennen. Die beiden verliebten sich
ineinander.
Erst Monate nach dem Mord an Derek
und Nancy Haysom gerieten ihre Tochter
und Jens Söring in Verdacht. Als die ame-
rikanische Polizei Söring um Blutproben
und Fingerabdrücke bat, verließ er flucht-
artig die USA. Elizabeth Haysom folgte ihm
wenig später. Sie reisten durch Deutsch-
land, Osteuropa und Thailand. Am 30.
April 1986, mehr als ein Jahr nach der Tat,
wurden sie in London festgenommen, weil
sie mit gefälschten Schecks bezahlt hatten.
In Virginia, sagt Söring, habe er anfangs
Psychologie studieren wollen, sich dann
aber auch für Film und das Regieführen in-
teressiert. Er hat sein Studium nie beendet
und auch sonst keine Ausbildung gemacht.
Im Gefängnis, sagt Söring, sei das nicht
möglich gewesen.

SPIEGEL:Wovon leben Sie aktuell?
Söring:Momentan von der Unterstützung
meiner Freunde. Ich habe nur ein geringes
Einkommen.
SPIEGEL:Bekommen Sie Geld vom Staat?

54 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Er flüsterte in mein
Ohr: »Was machst du,
wenn ich dich jetzt
in meine Zelle zerre?«
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