Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
Reporter

wurde Fitnessfanatiker, um mich wehren
zu können.
SPIEGEL:Wo haben Sie trainiert?
Söring:Neben dem Gebäude gab es einen
kleinen Sportplatz mit Hanteln. Es geht da-
rum, sich durch Sport aus der Opfergruppe
herauszumanövrieren. 90 Prozent der Häft-
linge machen gar keinen Sport, 5 Prozent
trainieren unregelmäßig. Die letzten 5 Pro-
zent sind Fanatiker. Ich war von Anfang an
einer der Fanatiker. Die Leute, die andere
vergewaltigen, erpressen oder ausrauben
wollen, gucken sich an, wer sich am leichtes -
ten zum Opfer machen lässt. Die gehen nicht
zu den 5 Prozent, die fanatisch Sport treiben


  • sondern zu den 90 Prozent der Häftlinge,
    bei denen kein Widerstand zu erwarten ist.
    SPIEGEL:Sie konnten sich also schützen?
    Söring:Ich konnte es. Man muss immer
    und zu allem Nein sagen. Jede Schwäche,
    die du zeigst, führt zu einer Vergewal -
    tigung.
    SPIEGEL:Was wurde aus dem Mann, der
    Ihnen in der Dusche aufgelauert hatte?
    Söring:Ein paar Tage später lief ich zum
    Sportplatz. Dort sah ich ihn. Ich wusste:
    Wenn ich jetzt zurückgehe ins Gebäude,
    werden alle das sehen. Von da an werde
    ich das totale Opfer sein. Dann werde ich
    zur Knastnutte, dann werden mich alle ver-
    gewaltigen. Ich musste zu ihm gehen. Wir
    waren die Einzigen da draußen.
    SPIEGEL:Sie haben gemeinsam Sport ge-
    macht?
    Söring:Normalerweise hätte ein Häftling
    in dieser Situation eine Hantel genommen
    und dem anderen den Schädel eingeschla-
    gen. Habe ich nicht gemacht. Ich wollte
    Hanteln stemmen. Beim Bankdrücken
    braucht man einen, der einem hilft. Ich
    habe ihm geholfen, er hat mir geholfen. Die
    nächsten drei Jahre, alle zehn Tage etwa,
    haben wir zusammen trainiert.
    SPIEGEL:Sie haben dann noch einen an-
    deren Weg gefunden, sich zu schützen?
    Söring:Ich habe meine Situation analy-
    siert. Das eigentliche Problem bestand da-
    rin, dass ich in der Hierarchie zu niedrig
    stand. Wenn ich jemandem Schutzgeld
    zahle, signalisiere ich, dass ich schwach
    bin. Ich habe dann zwei große Schwarze
    angesprochen, die ganz oben in der Ge-
    fängnishierarchie standen. Ich habe ihnen
    erklärt, wie wir Geld verdienen können.
    Wir wollten Häftlingen Geld leihen, damit
    sie Zigaretten oder Lebensmittel kaufen
    konnten. Ich erzählte ihnen ein wenig über
    Kreditwürdigkeit. Vor allen Dingen, sagte
    ich, müssten sie aufhören, ihre Kunden zu
    verprügeln. Das hatten sie bis dahin ge-
    macht. Fünf Jahre lang war ich im Kredit-
    geschäft. Unsere besten Kunden bekamen
    zu Weihnachten sogar ein kleines Ge-
    schenk. Die anderen Gefangenen haben
    gesehen, dass ich gemeinsam mit den bei-
    den Geld verdiente. Das hat mich ge-
    schützt.


SPIEGEL:Sie haben mehr als drei Jahrzehn-
te im Gefängnis verbracht. Fühlen Sie sich
wie 53?
Söring:In mancher Hinsicht fühle ich mich
wie 153. Es ist sehr viel passiert, ich habe
in meiner Haftzeit kaum ein ruhiges Jahr
gehabt. Deshalb dieses Gefühl, dass ich
viel hinter mir habe: die Intensität der
Kämpfe, die Gefahren, die da lauern. Ich
habe ein schweres Leben gehabt. Ich fühle
mich manchmal sehr alt. In anderer Hin-
sicht merke ich, dass ich immer noch
19 Jahre alt bin. Das betrifft besonders
Frauen: wie man sie anspricht, wie man
sie kennenlernt. Das ist ein Thema, das
ich noch nicht kapiert habe.
SPIEGEL:Waren Sie schon mal allein, seit-
dem Sie in Deutschland sind?
Söring: Am Sonntag, dem 26. Januar, als
ich in Frankfurt war. Da hatte ich einen frei-
en Nachmittag. Das hatte ich so ein geplant.
SPIEGEL:Was haben Sie gemacht?
Söring:Das sage ich Ihnen nicht. Eine der
Sachen, die man im Gefängnis nicht hat,
ist Privatsphäre. Ein Gefängnis ist ein öf-
fentlicher Raum, die Wärter können jeder-
zeit in die Zelle reinkommen. Man ist im-
mer einsam, aber niemals allein. Ich muss

ein Gefühl dafür entwickeln, dass es etwas
Privates gibt, das nur mir gehört. Ich übe
an Ihrer Frage gerade, etwas zurückzuhal-
ten, das nur mir gehört.

Söring war 23, als er in Virginia vor Gericht
stand: ein junger Deutscher mit sehr gro-
ßen, dicken Brillengläsern, der wenig sagte
und sich Notizen machte. Sein Prozess war
einer der ersten, die live im Fernsehen über-
tragen wurden. Im Zuschauerraum saßen
auch sein Vater und sein Bruder. Er sei un-
sicher gewesen, sagt Söring. Immer wieder
grinste er, vor allem wenn der Staatsanwalt
ihn ins Kreuzverhör nahm.
Elizabeth Haysom war bereits drei Jahre
zuvor wegen Anstiftung zum Mord ver -
urteilt worden. Im Prozess gegen ihn trat
sie als Zeugin auf. Söring habe ihre Eltern
getötet, sagte sie.
Im Gerichtssaal wurde auch aus Briefen
zitiert, die Söring und Haysom einander
geschrieben hatten. Sie hatten darin expli-
zite sexuelle Anspielungen und Gewalt -
fantasien geteilt.

SPIEGEL:Wie sah Ihre Zelle aus?
Söring:(nimmt sich ein Blatt Papier und
zeichnet seine Zelle auf)2,60 mal 3,30 Me-
ter. Hier sind die ganzen Rohre drin, da

ist das Klo, hier das Waschbecken, hier der
Spind. Das Bett, der Stuhl. Hier ist die Tür.
Selbst für einen Gefangenen ist das eng.
SPIEGEL:Sie hatten eine Einzelzelle, die
doppelt belegt war?
Söring:Das ist immer so.
SPIEGEL:Haben Sie oben oder unten ge-
schlafen?
Söring:Die letzten paar Jahre unten. Das
ist eine Machtfrage.
SPIEGEL:Unten ist besser?
Söring:Viele Jahre habe ich absichtlich
oben geschlafen. Dort ist man sicherer,
wenn jemand einen belästigen will. Irgend-
wann wollte ich nicht mehr klettern.
SPIEGEL:Sie waren 19, als Sie ins Gefäng-
nis kamen. Sucht man sich jemanden, der
einem sagt, wie es drinnen läuft?
Söring:So einen wie Morgan Freeman in
dem Film »Die Verurteilten«, der einem
alles erklärt? Nein. Es gibt keinen Morgan
Freeman im Gefängnis. Ich hatte mal je-
manden, mit dem ich mich drei Jahre lang
viel unterhalten habe. Ich dachte, wir wä-
ren Freunde. Von einem Tag auf den an-
deren hat er aufgehört, mit mir zu reden.
Ich habe ihn gefragt: Warum? »Ich hatte
es satt zu warten«, hat er gesagt. »Ich woll-
te dich vögeln, das ist nie passiert, jetzt su-
che ich mir einen anderen.«
SPIEGEL:Wie findet man eine Überlebens-
strategie?
Söring:Als ich zum allerersten Mal in ein
Gefängnis reinkam, in England, stand an
der Wand ein Graffito: »Bronco likes little
white boys.« Es stellte sich heraus, dass
Bronco ein Wärter war. Ich sagte damals
zu mir selbst: Sie können dir alles nehmen,
aber nicht deine Menschlichkeit. Ich habe
mich an diesen Satz geklammert im Laufe
der Jahre. Dann wurden es Jahrzehnte,
und im Laufe der Zeit habe ich diesen Satz
mit Bedeutung ausgefüllt. Alles Äußere
wurde mir weggenommen. Nur ein kleiner
Kern ganz tief drinnen hat überlebt. Ich
musste alles daransetzen, diesen kleinen
Kern zu bewahren.
SPIEGEL:Was heißt das?
Söring:Das entscheidende Erlebnis mei-
nes Lebens war die Sache mit der Todes-
strafe. Wir haben alle geglaubt, dass ich
hingerichtet werden würde. Ich wollte trotz-
dem vor den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte gehen – und es hat funk-
tioniert. Damals habe ich gelernt: Solange
ich irgendeinen Weg finden kann weiter-
zukämpfen, kämpfe ich.
SPIEGEL:Muss man wütend bleiben? Oder
sich zur Ruhe zwingen?
Söring:Es gab eine Phase bis zum Jahr
2000, wo ich mich in Selbsthass reinge-
steigert habe. Ich bin morgens aufgestan-
den und habe angefangen, mich zu hassen.
Weil ich so dumm gewesen war, mich in
Elizabeth zu verlieben und mein Leben
zu zerstören. Ich habe dann angefangen
zu meditieren, das hat mein Leben geret-

56 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020

»Alles Äußere wurde mir
weggenommen. Nur
ein kleiner Kern ganz tief
drinnen hat überlebt.«
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