Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
Reporter

dem Gefängnisladen ernährt. Statt zu früh-
stücken, bin ich für zwei Stunden rausge-
gangen, weil ich den Stress abbauen muss-
te. Ich habe Hanteln gestemmt oder bin
gelaufen. Einen Tag neun bis zehn Meilen
joggen, am anderen Tag 424 Klimmzüge,
215 Beugestütze und dann Brusttraining
und Schulterheben mit 80 Pfund.
SPIEGEL:Wann verliert man die Scham,
mit einem Fremden die Zelle und die Toi-
lette zu teilen?
Söring:Das wird einem schnell egal. Man
muss ein bisschen üben, dann geht das. Es
gibt im Gefängnis einen Ausdruck, der lau-
tet: »I’ve got to use the cell.« Dann weiß
man, dass der Zellenmitbewohner gerade
ein bisschen Privatheit braucht.
SPIEGEL:Was ist das Schlimmste am Ge-
fängnis?
Söring:Die Sinnlosigkeit. Das ist das Aller -
schlimmste. Das, was die Menschen kaputt -
macht. Deshalb nehmen so viele Drogen.
SPIEGEL:Stimmt es, dass Sie im Gefängnis
erotische Kohlezeichnungen verkauft
haben?
Söring:Eine kurze Phase. Der Versuch,
mich künstlerisch auszudrücken.
SPIEGEL:Angeblich hatten Sie auch mal
Investmentfonds.
Söring:Gekauft mit dem Geld, das ich
durch das Kreditgeschäft verdient habe.
Damals konnte man ein Depot noch auf
dem Postweg eröffnen. Meine beiden Part-
ner fanden das toll – die dachten, mein
Gott, jetzt sind wir mit dem Deutschen bei
der echten Mafia.
SPIEGEL:Und Sie haben im Gefängnis Tai-
Chi-Unterricht gegeben.
Söring:Ein Mitgefangener hat mir das bei-
gebracht. Es war der einzige Tai-Chi-Kurs
im ganzen Strafsystem in allen Staaten, so-
weit ich weiß. Das ist sonst nirgendwo er-
laubt worden.
SPIEGEL:Sie haben in einem Ihrer Bücher
die Schönheit beschrieben, die entsteht,
wenn sich die Männer beim Tai-Chi im
Gleichklang bewegen.
Söring:Alles im Gefängnis ist so hässlich.
Schönheit sticht jedem sofort ins Auge.
Das ist wie eine kleine Explosion.
SPIEGEL:Haben Sie im Gefängnis Heirats-
anträge bekommen?
Söring:Natürlich gab es ab und zu mal ro-
mantische Briefe. Auf der Grundlage, dass
ich unschuldig bin.
SPIEGEL:Entwickelt sich aus so einer Brief-
freundschaft mehr?
Söring:Ich habe mich in meiner gesamten
33-jährigen Haftzeit einmal auf eine ro-
mantische Beziehung mit einer Frau ein-
gelassen, von Ende 2003 bis Anfang 2005.
Sie hat mich besucht und anderthalb Jahre
lang gewartet, dass ich rauskomme. Dann
hat sie die Geduld verloren.
SPIEGEL:Kennen Sie die Bilder, wie die
Flugzeuge am 11. September 2001 ins
World Trade Center fliegen?


Söring:Die habe ich erst Jahre später gese-
hen. Ich war an jenem Tag im Gefängnis in
Brunswick in der Bibliothek. Sie hatten
dort Computer, die nicht mit dem Internet
verbunden waren, ich habe dort mein erstes
Buch abgetippt. Ein Gefangener lief herum
und sagte: »Mensch, da sind irgendwelche
Flugzeuge in die Hochhäuser geflogen.« Ich
sagte: »Stör mich nicht, ich arbeite an mei-
nem Buch. Erzähl mir den Scheiß später.«
SPIEGEL:Haben Sie etwas im Gefängnis
gelernt?
Söring:Ich dachte immer, das Gefängnis
wäre wie eine Insel im Fluss der Gesell-
schaft. Und alle Strömungen, die es in einer
Gesellschaft gibt, fließen um das Gefängnis
herum. Aber das stimmt so nicht. Vieles,
was sich später in der Gesellschaft durch-
gesetzt hat, fing im Gefängnis an. Die Über-
wachung zum Beispiel. Der Strafvollzug
ist so etwas wie das dunkle Herz Amerikas.
Diese ganzen Gedanken zu Rache und Stra-
fe und Gewalt, alles wichtige Themen der
amerikanischen Kultur, konzentrieren sich
in der Justiz und im Strafvollzug.
SPIEGEL:Sie waren 18, als Sie sich in Eli-
zabeth Haysom verliebten. Wie würden
Sie den jungen Jens Söring beschreiben?

Söring:Damals waren Teenager allgemein
unglaublich unsicher und nervös. Bei mir
war das noch verstärkt, weil ich der Klas-
senprimus war, ein Strebertyp, der alles
besser wusste und der alle anderen wissen
lassen musste, dass er alles besser wusste.
Auf diese Weise wurde ich mit meiner Ner-
vosität fertig. Das kam als Arroganz rüber.
SPIEGEL:Sie kamen mit einem Stipendium
an die Uni.
Söring:In dem Studentenwohnheim leb-
ten etwa 250, 300 Leute, alle hochbegabt.
Ich hatte sehr viele soziale Kontakte. Bis
dahin war ich nie mit einem Mädchen zu-
sammen gewesen. Elizabeth war zwei Jah-
re älter als ich. Sie war aus dem Internat
in Großbritannien ausgebüxt, hatte auch
lesbische Beziehungen gehabt. An der Uni
war sie der Star. Ich hatte mir gar keine
Gedanken gemacht, dass sie irgendwie an
mir interessiert sein könnte. Sie hatte so
viel erlebt. Sie schien mir wie ein Mentor
zu sein, der sich Zeit nimmt, um mir die
Welt zu erklären.
SPIEGEL:Warum, glauben Sie, hat sich Eli-
zabeth Haysom in Sie verliebt?
Söring:Mir kam der Gedanke gar nicht,
dass sie in mich verliebt sein könnte, des-
halb war ich so schockiert. Ausgerechnet
ich! Ich konnte mein Glück nicht fassen.

Das war so überwältigend für mich. Ich
war einfach dankbar.
SPIEGEL:Haben Sie Elizabeth Haysoms
Eltern kennengelernt?
Söring:Ich habe sie einmal getroffen, 30
bis 45 Minuten. Bei einem Mittagessen,
sie wollten irgendwas besprechen. Ich hat-
te das Gefühl, dass sie mir gegenüber kri-
tisch eingestellt waren. Elizabeths bisheri-
ge Freunde waren ziemlich schräge Typen
gewesen.
SPIEGEL: Wie sind Sie auseinander -
gegangen?
Söring:Positiv.
SPIEGEL:Wie war das Verhältnis zu Ihren
eigenen Eltern?
Söring:Schwierig. Meine Mutter war Alko -
holikerin. Es kriselte immer zwischen mei-
nen Eltern, ich war nicht glücklich zu Hause.
SPIEGEL:Haben Ihre Eltern wegen des Al-
kohols gestritten?
Söring:Ja. Das war ein Thema während
meiner ganzen Jugend. Es war ein fatales
Familienleben, es hat immer zu Stress ge-
führt. Die Ehe war unglücklich. Meine Mut-
ter hat getrunken, mein Vater hat gebrüllt.
SPIEGEL:Was war schlimmer?
Söring: Mit meiner Mutter hatte ich eher
Mitleid. Das Brüllen meines Vaters war
für mich schwer auszuhalten.

Auch beide Opfer, Derek ebenso wie Nancy
Haysom, waren zum Zeitpunkt der Tat
alkoholisiert.
In der britischen Haft gestand Söring
mehrmals, im Haus der Haysoms gewesen
zu sein und die Eltern seiner Freundin ge-
tötet zu haben: gegenüber den Ermittlern,
vor zwei Psychiatern, die ihn untersuchten,
sowie vor einem deutschen Staatsanwalt.
Die Polizei sagte, Söring habe in seinen Ge-
ständnissen Wissen offenbart, das nur ein
Tatbeteiligter gehabt haben könne. Söring
behauptet, andere Details seines Geständ-
nisses stimmten nicht mit den Befunden
am Tatort überein.
Söring hatte vor dem Europäischen Ge-
richtshof für Menschenrechte dagegen ge-
klagt, nach Virginia ausgeliefert zu werden,
weil es dort die Todesstrafe gibt. Erst als
Virginia zusagte, im Falle einer Verurtei-
lung auf die Todesstrafe zu verzichten, wur-
de er an die USA ausgeliefert.

SPIEGEL:Hat Ihre Familie während der
Haftzeit in Großbritannien und während
des Prozesses zu Ihnen gestanden?
Söring:Natürlich.
SPIEGEL:Wann hat sich das geändert?
Söring:1997 starb meine Mutter. 2001 kam
es zu einem Zerwürfnis zwischen meinem
Vater, meinem Bruder und mir. Seit 2001
habe ich keinen Kontakt mehr.
SPIEGEL:Warum nicht?
Söring:Mein Bruder und mein Vater ha-
ben unter der Situation auch sehr gelitten,
und sie haben nun ein Recht auf Privat-

58 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


»Ich habe mich
nicht zum Opfer
machen lassen.
Darauf bin ich stolz.«
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