Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

6


Würde bis zum Schluss


LeitartikelDas Karlsruher Urteil zur Sterbehilfe ist eine notwendige Zumutung.


D


as Bundesverfassungsgericht hätte es sich und der
Politik leicht machen können. In seinem Urteil zur
Sterbehilfe hätte es an Krebspatienten erinnern
können, denen ein Tumor aus dem Hals wuchert.
An Lungenkranke, die nachts aus Angst vor dem Er -
stickungs tod wach liegen. An Verzweifelte also, denen der
Staat unerträgliches Leid nicht zumuten dürfe.
Doch die Karlsruher Richter beschränkten sich nicht
auf das Schicksal Schwerstkranker. Jede Bürgerin und jeder
Bürger, so urteilten sie am vergangenen Mittwoch, habe
das Recht auf einen selbstbestimmten Tod. Ausdrücklich
schlossen sie auch alle Menschen ein, die nicht unheilbar
krank sind. Die Richter eröffneten
damit einen Freiheitsraum, der so
weit ist, dass es an eine Zumutung
grenzt. Es ist eine Zumutung, die
notwendig war.
Vordergründig scheint das
Urteil allen religiösen Wert -
vorstellungen zu widersprechen:
Das Verfassungsgericht macht
den Menschen zum Entscheider
über das eigene Sterben. Aller-
dings hat es dieses Recht keiner
gött lichen Instanz entrissen.
Sondern dem Staat.
Der vorgeschobene Verweis
auf das christliche Menschenbild
hat die politische Debatte über
die Sterbehilfe in Deutschland seit
Jahren geprägt. Als der Bundes-
tag das bisherige Gesetz im Jahr
2015 beschloss, argumentierten
die Befürworter, der Staat solle
jedes Leben schützen – egal wel-
che Qualen es bereithalte. Er müsse gebrechliche oder
schwer kranke Menschen vor gesellschaftlichem oder fami-
liärem Druck bewahren, ihr Leben vorschnell zu beenden.
Ein bedenkenswertes Argument. Allerdings setzte sich die
Politik damit faktisch über den freien Willen aufgeklärter
Menschen hinweg.
Selbst liberalere Kräfte erinnerten damals an die Prinzi-
pien der Bibel. So trat der inzwischen verstorbene CDU-
Politiker Peter Hintze dafür ein, dass es Ärzten erlaubt sein
müsse, unheilbar Kranken aus ihrer Not zu helfen. Der
Theologe verstand das als Akt der Nächstenliebe.
Nun mahnten die Karlsruher Richter, dass religiöse oder
kulturelle Prägungen – so lauter ihre Anliegen auch sein
mögen – in dieser Debatte keine Rolle spielen dürfen.
Jeder Mensch müsse frei entscheiden können, wann und
wie er sterben will. Das gebiete seine Würde. Der Staat
dürfe dieses Grundrecht nicht entleeren. Es brauchte diese
Deutlichkeit, um ein missratenes Gesetz zu kippen.

Vor mehr als vier Jahren hatte der Bundestag die
»geschäftsmäßige«, also wiederholte Förderung des Suizids
unter Strafe gestellt. Er wollte damit umstrittene Vereine
verbieten, die gegen einen Mitgliedsbeitrag versprechen,
notfalls einen todbringenden Giftbecher bereitzustellen.
Allerdings vergrößerte das Gesetz die Verwirrung,
die es bei der Sterbehilfe in Deutschland ohnehin schon gab.
Mediziner waren verunsichert, ob sie sich schon strafbar
machen, wenn sie mit Verzweifelten über Suizidwünsche
reden. Zehn regionale Ärztekammern drohen ihren
Mitgliedern bis heute mit dem Entzug der Approbation,
sollten sie bei einem Suizid assistieren, sieben andere
tun das nicht. Schwerstkranke,
die sich in ihrer Not selbst ein
todbringendes Medikament
beschaffen wollen, scheitern,
weil ihnen die zuständige
Bundesbehörde die Erlaubnis
verweigert.
Es blieb ihnen in letzter Kon-
sequenz nur, sich vor den Zug
zu werfen. Der Staat hatte alle
anderen Auswege versperrt.
Das Verfassungsgericht hat die
Uhr jetzt wieder zurückgestellt.
Es ist an der Zeit für eine neue
gesellschaftliche Debatte darüber,
wie wir sterben wollen und wel-
che Hilfe wir dabei erwarten dür-
fen. Das Urteil gibt dazu den
Anstoß, ganz ausdrücklich.
Bis es eine Neuregelung gibt,
können die Sterbehilfevereine
wieder ihrer Arbeit nachgehen.
Anbieter dürften damit sogar
Geld verdienen, was kaum erträglich ist. Deshalb ist die
Politik erneut gefragt. Sie darf die Suizidbeihilfe regulieren,
sie darf bedenkliche Formen verbieten, auch dafür bietet
das Urteil Raum. Sie darf alles versuchen, Menschen vom
Weiterleben zu überzeugen. Sie darf den Suizid nur nicht
unmöglich machen.
Gefordert ist ein sensibles Regelwerk, in dem die Assis-
tenz zum Suizid nur die letzte aller Lösungen sein kann.
Selbstbestimmtheit bedeutet, dass es Alternativen gibt, aus
denen gewählt werden kann. Dass Palliativmedizin und
Hospize weiter ausgebaut werden, die sich in Deutschland
erst viel zu spät entwickelt haben. Dass Betroffene aufge-
klärt werden, ob sie Aussicht auf Therapien haben. Dass
sie beraten werden, wie ihre Seele Hilfe findet – und genau
an dieser Stelle wäre manchmal auch der Beistand der
Kirchen sinnvoll. Doch dass die Menschen am Ende, wenn
es keinen Ausweg gibt, auf letzte Hilfe hoffen dürfen.
Cornelia Schmergal

FRANZ ROTH

Das deutsche Nachrichten-Magazin

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020
Free download pdf