Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

D


as Testlabor versteckt sich in
e i n e m I n d u s t r i e g e b i e t i n R e s t o n ,
Virginia, nahe dem Washingtoner
Flughafen. In einer Wellblechhal-
le sitzen vier Männer an Klapptischen und
starren auf Laptops. Nichts scheint sie
bei ihrer Arbeit zu stören; die Männer bli-
cken nicht einmal auf, als das Rolltor am
Eingang hochfährt – und ein gelbes Elek-
troauto der US-Marke Chevrolet in die
Halle gleitet.
Das E-Mobil hält vor einer Reihe von
weißen Metallpfeilern. Die Apparate strah-
len grünes Licht aus. An ihren Seiten bau-
meln dicke, schwarze Kabel. Es sind Zapf-
säulen für Elektroautos aller Fabrikate –
egal ob Tesla, Porsche oder Chevrolet. Sie
sollen später zu Tausenden aufgestellt
werden, auf Parkplätzen und an Auto-
bahnraststätten von der Ost- bis zur West-
küste der USA, von Kanada bis Mexiko.


Der Fahrer des Chevrolets heißt Gio-
vanni Palazzo und ist Chef des Großpro-
jekts, dessen Name in schwarzen Lettern
an der Rückwand der Halle prangt: »Elec -
trify America«. »Wir wollen den Wechsel
zum E-Auto so einfach wie möglich ma-
chen«, sagt er, »Elektromobilität soll in
den USA endlich Realität werden.«
Nichts in der Halle deutet darauf hin,
wer hinter dem Milliardenprojekt steckt.
Die US-Regierung, einer der Tech-Konzer-
ne aus dem Silicon Valley? Nein, es ist ein
Autohersteller aus Deutschland: Volkswa-
gen. Der Konzern verfolgt den Plan dis-
kret. Denn Electrify America ist für VW
kein Vorzeigeprojekt, sondern eine Straf-
arbeit. Der Aufbau eines Ladenetzes ist
Teil des rund 20 Milliarden Dollar teuren
Ve rg l e i c h s , d e n d e r V W- Ko n z e r n n a c h d e r
Dieselaffäre mit der US-Justiz abgeschlos-
sen hat.

Hier in Amerika hatte der Dieselbe-
trug begonnen. Hier hatten VW-Ingenieu-
re schon im Jahr 2007 Betrugssoftware
verbaut, um die Abgaswerte zu fälschen.
Um sicherzustellen, dass sich der Skandal
nicht wieder holt, musste der Konzern
hohe Entschä digungen zahlen. Nebenbei
soll er der E-Mobilität in den USA zum
Durchbruch verhelfen.
Ausgerechnet diese Strafarbeit könnte
VW nun zum Comeback in den Staaten
verhelfen. Denn der einstige Abgassünder
verkauft dort mittlerweile keine neuen Die-
selautos mehr, er setzt auf dem nach China
zweitgrößten Automarkt der Welt zuneh-
mend auf E-Mobilität, mit dem klaren Ziel,
zum globalen Marktführer aufzusteigen.
Das Ladenetz ist da ein zentrales Ver-
kaufsargument. Die Stromtankstellen sind
nämlich schon vorhanden, wenn VW seine
Elektroautos auf den Markt bringt. »Da-
mit befreien wir die Kunden von ihrer
Reichweitenangst«, sagt Scott Keogh, VW-
Landeschef in den USA.
Ohne den Zwang durch die US-Behör-
den hätte Volkswagen vermutlich nicht so
flott gehandelt. In Deutschland zögerten
die Autohersteller lange, eigenes Geld in
Ladenetze zu investieren. Bis sich BMW,
Daimler, Ford und VW im Herbst 2016
endlich dazu durchgerungen hatten, eige-
ne Stromtankstellen aufzustellen, hatte ein
US-Rivale bereits die Welt mit rund 5000
Ladesäulen überzogen: Tesla. Kein Her-
steller verkauft derzeit vergleichbar viele
E-Fahrzeuge; die eigene Infrastruktur hat
sich für die Kalifornier ausgezahlt. Und
während es VW nie wirklich gelang, in den
USA Fuß zu fassen, dringt Tesla immer
tiefer in die Heimat der deutschen Auto -
industrie vor. In der neu geplanten Tesla-
Fabrik in Brandenburg sollen künftig jähr-
lich bis zu 500 000 E-Autos vom Band rollen.
Tesla greift in Brandenburg an, VW in
Virginia. Der Zweikampf zwischen dem
größten Autobauer der Welt und dem in-
novativsten wird weltweit ausgetragen.
VW-Chef Herbert Diess, immer noch glo-
baler Marktführer bei klassischen Antrie-
ben, macht kein Geheimnis daraus, dass
er sich herausgefordert fühlt. Volkswagen
müsse »deutlich schneller werden«, for-
derte er seine Topmanager unlängst auf.
Ansonsten werde der würdige Nachfolger
des Käfers und des Golfs kein VW-Fahr-
zeug mehr sein, warnte Diess im internen
Redetext, sondern ein Tesla mit einer Mil-

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Wirtschaft

In Teslas Revier


Autoindustrie Im fünften Jahr nach Dieselgate bemüht sich Volkswagen um ein Comeback
in den USA. Dabei hilft ausgerechnet ein Milliardenprojekt, das als Strafe gedacht war.

Schwächelnde
Wolfsburger
Pkw-Absatz der Marke VW
in den USA, in Tausend

363
323

438

09 12 16 19

213


Sonstige

VWinkl. Audi und Porsche

58%


3,8 4,2


3,8

3,5
6,5

7,2

Neue Werte
Die größten Autohersteller nach Börsenwert,
in Milliarden Euro


Spätstarter
Schnellladesäulen
in den USA 2019


Mobile Zukunft
Verkaufte E-Autos* auf dem US-Markt,
in Tausend

200

131

76
44 42

Toyota Tesla VW Honda Daimler

mehr als


2012 + 500 %


2019

53

327

1812

7426

Electrify America
(VW-Tochterfirma)
Te s l a

Tesla


Toyo t a

Chevrolet
Nissan

BMW

Honda

Marktanteile der


E-Mobil-Hersteller*


in den USA
2019, in Prozent

Stand: 27. Februar 2020

* Tesla nur Batteriefahrzeuge,
übrige Hersteller inkl.
Plug-in-Hybride

Quellen: Bloomberg, AFDC, Carsalesbase

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