Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

lion Einheiten pro Jahr. Es geht also um
viel. Deshalb hat Diess dem VW-Konzern
einen radikalen Wandel verordnet. Er will
Tesla schlagen, um nicht vom E-Auto-Pio-
nier abgehängt zu werden. 60 Milliarden
Euro sollen in Elektroautos und Digitali-
sierung fließen – ein gigantisches Unter-
fangen.
Die Aufholjagd kann nur gelingen,
wenn der Konzern alle Weltmärkte mit
konkurrenzfähigen E-Modellen versorgt.
Dazu gehören auch die USA, wo die Mar-
ke VW derzeit auf klägliche zwei Prozent
Marktanteil kommt.
Jahrelang setzten die Car-Guys aus
Wolfsburg auf Dieselautos als vermeint-
lich umweltfreundliche Motorisierung.
Der »Clean Diesel« sollte in Europa und
Amerika Milliardenerlöse einspielen. Elek-
troautos hielten die Konzernstrategen für
Nischenprodukte. Erst um das Jahr 2010
herum begannen sie, sich intensiver mit
E-Mobilität zu beschäftigen. Sie holten
einen jungen Daimler-Manager aus Ita-
lien, der dort den Elektro-Smart auf den
Markt gebracht hatte: Giovanni Palazzo
sollte für VW Ideen entwickeln, wie man
mit E-Mobilität Geld verdienen konnte.
Doch in Wolfsburg hatte er anfangs einen
schweren Stand.
Sein Vorschlag, ein eigenes Ladenetz
aufzuziehen, um der E-Mobilität zum
Durchbruch zu verhelfen, stieß damals im
Management auf Skepsis. In der Konzern-


spitze hielt man das für ein unsicheres
Geschäftsmodell, darum sollten sich lie-
ber die Energieversorger kümmern. Doch
schon bald beurteilte VW das anders.
Als im Herbst 2015 der Abgasbetrug
aufflog, änderte sich Palazzos internes
Standing schlagartig. Der Italiener saß mit
am Tisch, als VW-Juristen den Milliarden-
vergleich in den USA aushandelten, der
den Konzern auch verpflichtet, zwei Mil-
liarden Dollar in ein landesweites Lade -
netz zu investieren. Mindestens bis Ende
2026 muss VW das Netz aufbauen, betrei-
ben und instandhalten.
Im Sommer 2018 wurde Palazzo in die
USA versetzt, als Chef von Electrify Ame-
rica, einer hundertprozentigen VW-Toch-
ter. Nahe der US-Hauptstadt Washington,
D. C., rund 6600 Kilometer von Wolfsburg
entfernt, hat er sich ein kleines E-Reich ge-
schaffen. In den Büros in Reston, unweit
des Testlabors, arbeiten rund 80 Leute da-
ran, das Ladenetz auszubauen. Sie suchen
Standorte, beantragen Baugenehmigun-
gen, verhandeln mit Behörden und Ener-
gieversorgern. Viele kommen von Konkur-
renten wie BMW, Ford oder Tesla. Nur je-
der Zehnte kommt von Volkswagen.
Die räumliche und kulturelle Distanz
zur VW-Zentrale ist nötig, um Misstrauen
abzubauen. Andere Netzanbieter wie
Chargepoint fürchteten zunächst, Electrify
America werde sie mithilfe der VW-Mil -
liarden ausbremsen. Volkswagen verwand-

le sich »vom Diesel-Schmuddelkind zum
Elektro-Gorilla«, warnte das US-Fach -
portal E&E News.
Mittlerweile hat sich die Stimmung ge-
dreht. Electrify America und Chargepoint
haben 2019 ihre Netze verbunden, mehr
als 30 000 Ladepunkte können nun be-
quem von Kunden beider Anbieter ge-
nutzt werden. Auch zum VW-Rivalen
Tesla, dem Betreiber des derzeit größten
Schnellladenetzes in den USA, pflegt Pa-
lazzo Kontakt. Man trifft sich, um gemein-
sam Stromtankstellen zu planen und mit
Behörden oder Versorgern zu verhandeln.
Die Wettbewerber eint das Interesse,
ihre Ladeinfrastruktur möglichst zügig aus-
zubauen. Doch während Tesla ein ge-
schlossenes Netz betreibt, das andere Mar-
ken ausschließt, ist Electrify America zur
Neutralität verpflichtet. Elektroautos aller
Hersteller dürfen die Schnellladesäulen be-
nutzen. Ein klarer Vorteil, sagt Palazzo:
»Mit einem offenen Netz können wir viel
mehr Nutzer gewinnen und ein stabiles
Geschäftsmodell entwickeln.«
Die Zahl der aktuell rund 1800 Schnell-
ladesäulen soll sich bis Ende 2021 fast
verdoppeln. Wenn Electrify America in
diesem Tempo weitermacht, könnte das
Unternehmen bis Ende 2026 etwa 1600
Stationen mit mehr als 7000 Ladesäulen
aufgestellt haben.
Längst verfolgt Palazzo eine Wachs-
tumsstrategie, die über Amerika und das

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 65


STEPHEN VOSS / DER SPIEGEL

Electrify-America-Chef Palazzo
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