Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

Mandat der US-Justiz hinausgeht. Seit
2019 stellt die Schwesterfirma »Electrify
Canada« Ladesäulen auch im Nachbar-
land auf. Zudem sondiert Palazzo den Vor-
stoß in neue Märkte wie Südamerika. Die
Namensrechte hat er sich bereits gesichert.
Für die Expansion brauchte er jedoch
mehr Geld. Das könnte von externen In-
vestoren kommen oder von VW selbst.
Der Konzern nutzt derzeit jede Chance,
sich als E-Auto-Vorreiter zu profilieren.
Während VW in Deutschland bis heute be-
streitet, gegen Gesetze verstoßen zu ha-
ben, geben Diess und Co. in den USA den
reumütigen Dieselsünder. Sogar in Werbe-
spots. In ihnen sitzt ein VW-Designer zer-
knirscht in einem düsteren Büro, im Hin-
tergrund verkünden Nachrichtensprecher
»neue Details im wachsenden Skandal um
Volkswagen«. Plötzlich kommt dem De-
signer die rettende Idee: Er baut einen al-
ten VW-Bulli zum strahlenden E-Mobil
um. Der passende Claim: »In der Dunkel-
heit haben wir das Licht gefunden.«
Scott Keogh, seit November 2018 USA-
Chef von VW, ist ein Marketingprofi. In
den Vereinigten Staaten komme es gut an,
Reue zu zeigen und Wiedergutmachung
anzubieten, sagt er. Wer wieder aufstehe,
wie der gestrauchelte Filmboxer Rocky,
der erhalte auch eine zweite Chance. »Wir
bieten eine großartige Botschaft, und die
Amerikaner werden sie mögen.«
Am Eingang der Amerikazentrale in
Herndon bei Washington, 2200 Ferdinand
Porsche Drive, hängt eine weiße Motor-
haube. Darauf steht ein Satz, der fast wie
ein Bibelvers klingt: »Ich verspreche, in
all meinem Tun mit Ehrlichkeit, hohem
moralischem Charakter und ethischem
Verhalten zu handeln.« Darunter finden
sich Unterschriften von Mitarbeitern.
Keogh erzählt vom Amerika der späten
Sechzigerjahre, als VW zunächst zur Kult-


marke avancierte. Vom Farmer bis zum
Hippie, fast jeder habe damals einen Käfer
gefahren. Auch seine Eltern. »Wir alle ha-
ben eine Volkswagen-Geschichte«, sagt er.
In den Neunzigern erlebte die Marke ei-
nen zweiten kleinen Höhenflug mit den
Modellen Golf und Jetta. Doch dann ver-
lor VW das Gespür für den US-Markt. Im-
mer mehr Amerikaner fuhren SUVs, und
solche Sportgeländewagen hatte Volkswa-
gen nicht rechtzeitig im Sortiment.
Auch Pick-ups, eines der größten Wachs -
tumssegmente in den USA, fehlten lange
im Portfolio. Entsprechend schwach liefen
die Verkäufe, die US-Tochter rutschte in
die roten Zahlen. Der Ärger in Wolfsburg
war groß, VW-Betriebsratschef Bernd
Osterloh bezeichnete das USA-Geschäft
als »Katastrophenveranstaltung«.
Den letzten Rest an Sympathie verspiel-
te Volkswagen im Herbst 2015, als der Die-
selbetrug aufflog. In Befragungen gab da-

raufhin fast ein Drittel der Verbraucher
an, die Marke komplett zu meiden. Im
Branchenschnitt liegt dieser Wert bei 8 bis
9 Prozent. Auch gut vier Jahre später ge-
hen immer noch 16 Prozent der Kunden
VW-Händlern bewusst aus dem Weg, sie
be suchen noch nicht einmal die Website.
Technisch betrachtet brauchte der Kon-
zern dringend neue, sauberere Antriebe.
Moralisch gesehen musste das Bösewicht-
Image weg. »Wer in den USA als Darth
Vader wahrgenommen wird«, sagt Keogh,
»kann keine Autos verkaufen.«
Unter dem Druck der Behörden bemüh-
te sich VW um Schadensbegrenzung. Etwa
tausend Leute waren damit beschäftigt, rund
2,7 Millionen Anrufe erboster US-Kunden
entgegenzunehmen. Etwa 400 000 Be-
trugsdiesel nahm der Hersteller aus dem
Markt. Seither kämpft der Konzern um
Marktanteile und Sympathien.
VW hat die Modellpalette mittlerweile
um einige SUVs ergänzt. Deren Anteil an
den Verkäufen stieg innerhalb weniger Jah-
re von knapp 15 Prozent auf mehr als 50
Prozent. Der Absatz hat sich etwas erholt,
er liegt jedoch noch unter dem Niveau von
2014, dem Jahr vor Ausbruch der Diesel-
krise. Das endgültige Comeback soll »mit
bezahlbaren E-Autos« (Keogh) gelingen.
Das US-Werk in Chattanooga, Tennes-
see, wird gerade um eine E-Fertigung er-
weitert. Rund tausend neue Arbeitsplätze
sollen dort entstehen. Das ist zwar nur ein
Bruchteil dessen, was Tesla in Deutschland
plant. US-Präsident Donald Trump war
dennoch begeistert, auf Twitter sprach er
von einem »großen Sieg«.
Die amerikanische Justiz sieht ebenfalls
Fortschritte. Im Sommer soll US-Aufpas-
ser Larry Thompson, der VW seit Mitte
2017 überwacht, seinen Abschlussbericht
vorlegen. Ihm waren zuletzt keine groben
Verstöße mehr aufgefallen. Die Chancen
scheinen gut, dass sein Mandat bald endet.
Damit aus der geplanten Sanierung
(2020 soll VW in Nordamerika endlich
wieder Gewinn machen) auch eine Wachs-
tumsstory wird, denken die Strategen in
Wolfsburg darüber nach, sich enger mit ei-
nem US-Konzern zu verbünden. Mit Ford
arbeitet VW bereits zusammen, etwa bei
Nutzfahrzeugen und autonomen Fahrsys-
temen. In einigen Jahren, so die Idee,
könnte die Allianz ausgeweitet werden.
Fast alles sei denkbar, auch, dass VW
in Amerika künftig Pkw unter der Marke
Ford anbietet, heißt es. Der US-Konzern
könnte im Gegenzug Pick-ups für Volks-
wagen bauen. Fords großes Händlernetz
böte sich für den Verkauf der gemeinsa-
men Fahrzeuge an. Es wäre die Kombina-
tion deutscher Ingenieurskunst mit einer
etablierten amerikanischen Marke.
Und eine ernste Herausforderung für
Tesla in dessen Revier. Simon Hage

66 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020

JENS BÜTTNER / DPA
VW-Vorstandsvorsitzender Diess: Kampf um Marktanteile und Sympathien

Teurer Betrug
Kosten des Dieselskandals für VW in den USA
2016/17 insgesamt: rund 20,8 Mrd. Dollar

rund 10 Mrd.
Entschädigung
für Kunden

8,8 Mrd.
sonstige Strafen,
Vergleichs- und
Ausgleichszahlungen

2,0 Mrd.
Verpflichtung zum
Aufbau einer
Ladeinfrastruktur
für E-Mobilität

VW-
Konzerngewinn
weltweit
nach Steuern
2014:
13,5 Mrd.
Dollar

zum
Vergleich:
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