Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
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Wirtschaft

Die Szenarien liegen so weit auseinan-
der, weil sie von unterschiedlichen Annah-
men ausgehen, wie sich Demografie und
Wirtschaft entwickeln. Sinkt beispielswei-
se die Arbeitslosigkeit oder arbeiten mehr
Frauen, kassiert der Staat mehr Steuern
und muss weniger für Sozialleistungen
ausgeben.
Von ausgeglichenen Etats, Überschüs-
sen gar muss die Republik laut der Pro -
gnosen Abschied nehmen. Im schlechteren
Fall dreht der Staatshaushalt bereits 2025
ins Rote. Bis zum Jahr 2060 stiege das jähr-
liche Defizit auf fast 14 Prozent vom BIP,
nach heutigen Maßstäben fast eine halbe
Billion Euro. In der günstigen Variante
dauert es drei Jahre länger bis zum Minus
in der Staatskasse. Das Defizit würde
2060 auf knapp fünf Prozent steigen.
Alle paar Jahre soll der Finanzminister
den Tragfähigkeitsbericht vorlegen. Dieses
Mal aber ließ das Werk ziemlich lange auf
sich warten. Das liegt zum einen daran,
dass der Bericht unter Scholz deutlich um-
fangreicher ausfällt als unter seinen Vor-
gängern. Aber die Trödelei hat auch einen
politischen Grund. Scholz und seine Leute
wollten vermeiden, dass die düsteren Pro -
gnosen die schöne Nachricht vom Rekord-
überschuss im Bundeshaushalt von 2019
überschatten.
Denn die Botschaft seiner Fachleute ist
eindeutig: Es muss etwas geschehen. Die
öffentlichen Kassen präsentieren sich alles
andere als zukunftsfest.
Oder im Deutsch der Ministerialbüro-
kratie: »Mit dem Bericht zur Tragfähig-
keit der öffentlichen Finanzen verfügt das
Bundesfinanzministerium über ein eta -
bliertes Frühwarnsystem«, wie es in dem
Entwurf heißt.

Dumm nur, wenn die Warnungen ver-
hallen. Denn schon im letzten Bericht von
2016 war von drohenden Tragfähigkeits-
lücken die Rede – relativ wie absolut fielen
sie damals allerdings noch geringer aus.
Die finanzpolitische Zögerlichkeit der
Koalition hat die Probleme offensichtlich
nicht gelöst, sondern verschärft, trotz Dau-
erwachstum, Rekordbeschäftigung und
Überschüssen.
Scholz’ Fachleuten ist diese Erkenntnis
offenbar peinlich. Jedenfalls weisen sie in
ihrem Bericht selbst nicht darauf hin: Der
Vergleich zu früheren Projektionen, sonst
üblich, fehlt diesmal.
Die Defizitkaskade, die dem Land be-
vorsteht, wirkt sich natürlich auch auf die
Schuldenstandquote aus. Sie gibt an, wie
hoch der Staat im Verhältnis zum BIP ver-
schuldet ist. Auch dort sieht es düster aus.
In der Negativvariante verdreifacht sich
die Quote von derzeit rund 60 Prozent bis
2060 auf mehr als 180 Prozent. In der
Positivprognose steigt sie auf 75 Prozent.
Vieles hängt auch davon ab, wie sich
die Zinsen entwickeln. Sollte die aktuelle
Niedrigzinsphase noch bis 2060 anhalten,
würde der Schuldenstand mit 125 Prozent
im Negativszenario immer noch hoch,
aber deutlich niedriger liegen als befürch-
tet. Im günstigen Fall würde er sogar auf
50 Prozent sinken. Wahrscheinlich ist die-
se Zinsprognose aber nicht.
Scholz’ Leute schlagen vor, die Lücken
in den Haushalten nicht auf einen Schlag
zu schließen, sondern schrittweise über
die nächsten fünf Jahre verteilt. Im Posi-
tivszenario müsste die Regierung dann
Jahr für Jahr eine Summe von rund 10
Milliarden Euro im Jahr aufbringen, im
zweiten eine von knapp 30 Milliarden
Euro.
Die Regierung kann dazu entweder
sparen, die Einnahmen verbessern oder
eine Mischung aus beidem beschließen.
Besonders wirksam wäre, wenn die Deut-
schen später in Rente gingen.
Die segensreiche Wirkung eines sol-
chen Schritts auf die Staatsfinanzen liegt
auf der Hand. Wer länger arbeitet, zahlt
mehr Steuern und bezieht kürzer Rente –
das entlastet die öffentlichen Kassen. Ein
zusätzliches Jahr Lebensarbeitszeit ab
2037 würde die Lücke um 0,44 Prozent
vom BIP mindern, rechnet der Bericht
vor. Das wären rund 15 Milliarden Euro.
Das Problem für den Finanzminister
bleibt jedoch, dass seine Partei bislang
stets ausgeschlossen hat, das Rentenein-
trittsalter noch einmal zu erhöhen. Dass
ausgerechnet ein Bericht aus dem Hause
des Sozialdemokraten Scholz die Wirk-
samkeit einer solch unpopulären Maßnah-
me hervorhebt, zeigt nur eines: wie ernst
es um die Staatsfinanzen steht.
Christian Reiermann

D


ie Zeiten der schwarzen Null nei -
gen sich dem Ende zu. Das offen-
bart der sogenannte Tragfähigkeits -
bericht, den Bundesfinanzminister Olaf
Scholz (SPD) in der kommenden Woche
im Kabinett vorstellen will und dessen Ent-
wurf dem SPIEGEL vorliegt. In dem Papier
werden zwei Szenarien durchgespielt, wie
sich die öffentlichen Finanzen bis 2060
entwickeln könnten. Beide Varianten ent-
halten dieselbe Botschaft: Die fetten Jahre
sind vorbei.
Die entscheidende Größe in dem Be-
richt ist die Tragfähigkeitslücke. Sie be-
schreibt, wie viel Geld dem Staat ange-
sichts des demografischen Wandels fehlt,
um dauerhaft alle öffentlichen Aufgaben
und den Schuldendienst leisten zu können.
Es geht um enorme Summen.
Im Positivszenario fehlen in den Kassen
von Bund, Ländern, Gemeinden und So-
zialversicherungen 1,49 Prozent des Brut-
toinlandsprodukts (BIP) – ein Betrag von
rund 50 Milliarden Euro. In der Negativ-
berechnung fehlen gar 4,1 Prozent des BIP,
rund 140 Milliarden Euro.


Tschüss,


Überschuss


FinanzenDie Regierung
rechnet langfristig
mit einer Finanzlücke von bis
zu 140 Milliarden Euro.
Schon 2025 droht ein Defizit.

Kaum zukunftsfest
Geschätzte Entwicklung des gesamtstaatlichen Haushaltssaldos, in Prozent des Bruttoinlandsprodukts


Variante T+ Variante T–

2020 2030 2040 2050 2060

0%

–5%

–15%


Quelle: Bundesfinanzministerium

–10%


–13,8 %

–4,9 %

Variante T– geht im Vergleich zu Variante T+
unter anderem von einer niedrigeren Geburtenziffer
und Zuwanderung sowie einer höheren Lebenserwartung
und Erwerbslosen- und Arbeitslosenquote aus.
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