Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
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Cyberangriff


Zerstrittenes Europa


 Die USA und Großbritan-
nien haben die EU außenpoli-
tisch vorgeführt. Mutmaßlich
russische Hacker hatten im
Oktober 2019 Tausende Web-
sites der georgischen Regie-
rung und mehrere TV-Sender
lahmgelegt. Washington und
London planten daraufhin
zusammen mit den Georgiern
eine Verurteilung der Russen –


was die EU-Staaten am 6. Fe -
bruar vom Auswärtigen Dienst
der EU erfuhren. Die EU-
Kommission stritt sich laut
internen Dokumenten mit den
Mitgliedsländern um eine
gemeinsame Erklärung: Sie
konnten sich nicht über den
richtigen Zeitpunkt dafür eini-
gen und diskutierten, ob sie
Russland als Urheber des
Angriffs nennen sollten, wie
die deutsche EU-Vertretung
nach Berlin kabelte. Frank-

reich und Italien verhinderten
demnach eine Schuldzuwei-
sung. Der Vertreter Roms habe
vor der Rache Putins gewarnt.
Eine EU-Reaktion könnte »die
Beziehung zwischen EU und
Drittstaaten beeinträchtigen«.
Paris habe sogar eine Distan-
zierung verlangt: Die EU müs-
se klarstellen, dass sie sich die
Erklärung aus Tiflis »nicht zu
eigen mache«. Am Donnerstag
vergangener Woche verurteil-
ten die USA und Großbritan-

nien den »russischen Cyber -
angriff auf Georgien« – Polen,
Estland, Lettland, Tschechien,
Dänemark sowie die Nieder-
lande schlossen sich ihnen
prompt an. Der EU-Außen be -
auftragte Josep Borrell konnte
tags darauf nur noch erklären,
dass die EU-Staaten »ihre
Besorgnis über den Cyberan-
griff ausdrücken«.Dies unter-
stützt die deutsche Regierung
zwar, will aber auch keine
Schuld zuweisen. MBE

Kolumbien


Morde im


Nationalpark


 Umweltschützer leben
gefährlich in dem südamerika-
nischen Land. Von Januar
bis Anfang Februar wurden
laut Angaben der Hilfsorgani -
sation Indepaz mehr als
30 Menschen ermordet, die
sich für die Bewahrung der
Menschenrechte und der Um -
welt einsetzten. Im vergan -
genen Jahr wurden nach
Angaben der Vereinten Natio-
nen 107 Aktivisten ermordet,
Kolumbien zählt damit zu
den weltweit gefährlichsten
Ländern für Aktivisten. Das
jüngste Opfer war ein Ranger
des Nationalparks El Cocuy,
der seit zwei Jahren dort gear-
beitet hatte. Die National-
parks und indigenen Schutz-
gebiete haben die Begehrlich-
keit diverser bewaffneter
Gruppen geweckt, die seit
dem Friedensabkommen zwi-
schen der Regierung und der
Guerilla Farc vor vier Jahren
Aufwind verspüren. In vielen
Gegenden des Landes hat die


Regierung die Kontrolle ver-
loren oder nie besessen; Dro-
genhändlerbanden, abtrünni-
ge Rebellen, die ihre Waffen
nicht abgegeben haben, und
rechtsradikale Paramilitärs
nutzen das aus. Der Landkon-
flikt ist neu aufgeflammt:
Indigene und Kleinbauern,
die während des Bürgerkriegs
ihre Ländereien aufgaben,
sind auf ihre Parzellen
zurückgekehrt oder haben im
Rahmen des Friedensabkom-
mens neue Grundstücke
erhalten. Die Regierung ist
jedoch nicht in der Lage, ihre
Rechte zu sichern. Hinzu
kommt, dass illegale Holzfäl-
ler und Goldsucher, die sich
während des Bürgerkriegs
nicht in die oft von der Farc
kontrollierten Schutzgebiete
wagten, jetzt verstärkt in die-
se Regionen strömen. Der
Urwald war zu Zeiten des
Bürgerkriegs weitgehend
unberührt, er birgt zahlreiche
Bodenschätze. Der bewaffne-
te Konflikt habe die Zonen
»in wahre Kriegsschauplätze«
verwandelt, sagt Harold
Ospino von der Umweltschutz -
organisationFCDS. JGL

Frankreich

»Pistole


auf der Brust«


Der französi-
sche Politologe
Roland Cayrol,
78, über die
geringen Aus-
sichten der
Regierung, die
umstrittene Rentenreform
auf normalem Weg durch das
Parlament zu bringen

SPIEGEL: Herr Cayrol, seit
zwei Wochen streiten die
Abgeordneten über die Geset-
zesvorlagen zur Rentenre-
form. Die Opposition hat ins-
gesamt 41 768 Änderungsan-
träge eingebracht. Wie realis-
tisch ist es, dass noch eine
Mehrheit zustande kommt?
Cayrol: Die Frage ist eher,
wie lange die Regierung die-
ser Blockadesituation
zuschauen kann und will. Der
Parlamentspräsident hat aus-
gerechnet, dass man noch
150 Tage brauchen würde,
um im bisherigen Tempo alle
vorliegenden Anträge zu
bearbeiten. Das wären fünf
Monate, selbst dann wäre
nicht garantiert, dass man mit
allem durch ist. Die Regie-
rung will das Gesetz aber
noch vor den Kommunalwah-
len Mitte März in erster
Lesung verabschieden.
SPIEGEL: Was sind das für
Änderungsanträge?
Cayrol: Es geht um tausend
unwichtige Kleinigkeiten, oft
um einzelne Wörter: Ein
»ungefähr« soll da durch ein
»genau« ersetzt werden oder

umgekehrt. Es sind Versuche,
insbesondere der linken Par-
tei »La France insoumise«,
die Reform zu sabotieren.
SPIEGEL: Und wie geht es
trotz der parlamentarischen
Blockade weiter?
Cayrol: Es bleiben nicht viele
Möglichkeiten. Die Opposi -
tionsparteien werden ihre
Strategie nicht ändern. Inso-
fern wird die Regierung die
Reform wohl per Dekret und
nicht auf dem normalen
Abstimmungsweg durch das
Parlament bringen müssen.
Der Artikel 49.3 unserer Ver-
fassung erlaubt ihr das, ist
allerdings nicht sonderlich
beliebt, weil er als demokra-
tiefeindlich gilt.
SPIEGEL: Was vor allem dem
Präsidenten Emmanuel
Macron schaden könnte, dem
viele Franzosen ohnehin nach
den wochenlangen Streiks
unterstellen, er mache, was er
wolle?
Cayrol: Ich sehe den Schaden
auf mehreren Ebenen. Das
Parlament würde beschädigt,
auch die Opposition hätte
keine glorreiche Rolle ge -
spielt. Und Macron stünde
als jemand da, der die Demo-
kratie nicht respektiert. Aber
viele Präsidenten vor ihm
haben mithilfe des Artikels
49.3 regiert, Charles de Gaulle
hat auf diese Weise die ato -
mare Abschreckung durch
das Parlament gebracht. Ich
denke, die Regierung wird
noch ein wenig abwarten, um
zu zeigen, dass sie überhaupt
nicht anders handeln konnte,
dass ihr die Pistole auf der
Brust saß. Und dann kommt
das Dekret. BSA

P. MATSAS / BRIDGEMAN

CHRISTIAN KOBER / PICTURE ALLIANCE
Nationalpark El Cocuy
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