Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
Titel

D


er Karneval in Gangelt-Lang-
broich ist eine große Sache;
Bernd B. bereitet sich seit dem
vergangenen Sommer auf die tol-
len Tage in seiner niederrheini-
schen Heimat vor. Der 47-Jährige, der im
Nachbarort gemeinsam mit seinem Bruder
seit 1999 eine Immobilienfirma mit sechs
Mitarbeitern führt, tanzt im Männerballett
des örtlichen Karnevalsvereins Langbröker
Dicke Flaa.
Am 15. Februar, einem Samstag, besucht
er die traditionelle Kappensitzung in der
Langbroicher Bürgerhalle. Die rund 300
Narren feiern bis in den späten Abend. Zu
diesem Zeitpunkt trägt Bernd B. das hoch
ansteckende Coronavirus Sars-CoV-2 ver-
mutlich bereits in sich.
Gut eine Woche später verschlechtert
sich sein Zustand dramatisch. Am Ro -
senmontag fährt er mit seiner Frau ins
knapp 30 Kilometer entfernte Hermann-
Josef-Krankenhaus von Erkelenz. Gegen
11.15 Uhr betreten die beiden die Klinik.
B. ist kaum noch ansprechbar. Er kommt
auf die Intensivstation, wird isoliert. Die
Ärzte vermuten Influenza. Doch das Test-
ergebnis ist negativ.
In der Nacht geht es weiter bergab mit
B.s Befinden, er muss künstlich beatmet
werden. Nun wird den Ärzten klar: Die
Symptome deuten auf das neuartige Coro-
navirus hin – obwohl B. in den vergange-
nen Wochen nach allem, was man bislang
weiß, weder in China oder Südkorea war,
noch in Italien oder Iran. Die Ärzte ent-
nehmen Sekret aus der Lunge, am Fast-
nachtsdienstag gegen Mittag bringt ein
R e t t u n g s w a g e n d i e P r o b e m i t B l a u l i c h t i n s

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»Wir sind nicht

vorbereitet«

Labor der Düsseldorfer Uniklinik. Um
17 Uhr meldet der zuständige Virologe
per Telefon den Kollegen in Erkelenz den
positiven Befund.
Um 0.30 Uhr in der Nacht auf Ascher-
mittwoch wird B. auf eine Isolierstation
der Düsseldorfer Uniklinik verlegt und an
eine künstliche Lunge angeschlossen. Sein
Zustand ist kritisch, er kämpft um sein Le-
ben. Mit ihm wird auch seine Frau verlegt.
Ihr Test war zunächst negativ ausgefallen,
erst bei einer zweiten Probe am Mittwoch
wird auch bei ihr das Virus nachgewiesen.
Die beiden sind die ersten Coronavirus-
Patienten in Nordrhein-Westfalen.
Fast gleichzeitig tauchten auch in Baden-
Württemberg Fälle auf: Ein 25-Jähriger aus
dem Kreis Göppingen, der nach Mailand
gereist war, hatte sich infiziert, ebenso sei-
ne 24-jährige Begleiterin aus Tübingen.
Die wiederum steckte ihren 60-jährigen
Va t e r a n , O b e ra r z t i n d e r Pa t h o l o g i e a m
Tübinger Universitätsklinikum.
We i l d e r Pa t h o l o ge a n e i n e m O b e rä r z te -
treffen teilgenommen hatte, teilte das
K l i n i k u m m i t , h a b e m a n e i n D u t z e n d
Medi ziner getestet und aus der Kranken-
versorgung herausgenommen.
Am Mittwoch wurde das Virus bei ei-
nem 32-jährigen Mann aus dem Kreis Rott-
weil nachgewiesen. Der Mann war zuvor
ins italienische Codogno gereist. Am Don-
nerstagnachmittag ergab ein Test, dass ein
Mann Anfang dreißig aus Kaiserslautern
an Covid-19 erkrankt ist. Am Donnerstag-
abend wurden vier weitere Fälle in Baden-
Württemberg und je einer in Bayern, Hes-
sen und Hamburg bekannt – bei Letzte -
rem handelt es sich um einen Mitarbeiter

KrisenDas neuartige Coronavirus dringt in Deutschland


vor, und die Frage ist nur noch: Wie schlimm wird
die Epidemie? Experten warnen, dass sie Ärzte, Ämter und

Kliniken überfordern könnte.


DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020
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