Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 83


Ausland

SPIEGEL:Herr Barnier, am kommenden
Montag startet der zweite Teil der Brexit-
Gespräche. Werden diese Verhandlungen
über das künftige Verhältnis der EU zu
den Briten einfacher oder schwieriger als
die über den Scheidungsvertrag, also das
Austrittsabkommen?
Barnier:General de Gaulle hat einmal
gesagt, wo ein Wille ist, da ist auch ein
Weg. Wir haben den Willen, zu einem
Abschluss zu kommen. Das galt bei den
Scheidungsverhandlungen, und das gilt
auch jetzt. Das Problem ist, dass wir nicht
viel Zeit haben. Aber ich bin optimistisch,
dass es reicht, um einen soliden Sockel
zu bauen.
SPIEGEL:Der Abschluss der Gespräche
über das Austrittsabkommen musste wie-
der und wieder verschoben werden, am
Ende erwiesen sich die Verhandlungen als
deutlich zäher als gedacht. Welches Bre-
xit-Drama erwartet uns diesmal?
Barnier:Was diese Verhandlung jetzt
schwieriger machen könnte, ist der Zeit-
druck. Nicht weil wir das wollen, sondern
weil Boris Johnson die Übergangsfrist, die
derzeit gilt, nicht über das Jahresende
hinaus verlängern will. Das bedeutet: Am
Ende des Jahres wird Großbritannien Bin-


nenmarkt und Zollunion verlassen. Bis da-
hin müssen wir mit einem einfachen Ab-
kommen fertig sein, dem Sockel, von dem
ich spreche. Darauf können wir in Zukunft
aufbauen.
SPIEGEL:Die Verhandlungen könnten
auch deswegen kompliziert werden, weil
die große Einigkeit, die die Europäer in
den vergangenen Monaten gezeigt haben,
sich aufzulösen scheint. Was können Sie
tun, um den Zusammenhalt zu festigen?
Barnier:Die Europäer bleiben zusammen.
Das ist kein frommer Wunsch, sondern
Realität. Soeben haben 27 Europaminister
mein Verhandlungsmandat einstimmig be-
schlossen. Aber Einigkeit gibt es nicht ein-
fach so. Vergangene Woche saß ich in Ber-
lin im Kabinett mit Frau Merkel und den
mit dem Brexit befassten Bundesministern
zusammen, ähnliche Besuche führen mich
nach Paris oder Warschau. Ich höre mir
die Sorgen und Befindlichkeiten der Mit-
glieder an. Das schafft Vertrauen.
SPIEGEL:Mit Verlaub, die Bruchlinien
zeichnen sich doch ab: Die Niederlande
sorgen sich um ihre Häfen, Deutschland
sorgt sich um die Autoindustrie und Frank-
reich um den Zugang seiner Fischer zu bri-
tischen Gewässern. Wie wollen Sie daraus

eine gemeinsame Verhandlungsposition
der EU schmieden?
Barnier:Natürlich gibt es Differenzen, sie
rühren aus der unterschiedlichen Entfer-
nung zu Großbritannien her, der unter-
schiedlichen wirtschaftlichen Verflechtung
oder dem Grad der ideologischen Nähe.
Was aber alle EU-Mitglieder eint, ist das
Interesse an ihrer Wirtschaft – und damit
an der Integrität des Binnenmarkts.
SPIEGEL:Boris Johnson sagt, er strebe ein
Abkommen nach dem Vorbild des Frei-
handelsvertrags an, den die EU mit Ka -
nada geschlossen hat. Zuletzt drohte die
britische Regierung sogar damit, die Ge-
spräche abzubrechen, wenn hierzu bis
Juni keine Klarheit herrschen sollte ...
Barnier:... ich sage immer: Bleibt ruhig
und verhandelt! Klar ist, dass angesichts
der roten Linien, die die Briten für ihr künf-
tiges Verhältnis zur EU gezogen haben, nur
ein Freihandelsabkommen in Betracht
kommt, wie wir es mit Kanada, Korea oder
Japan geschlossen haben. Aber jedes Ab-
kommen hat seine Eigenheiten, je nach
Vertragspartner. Zwischen Großbritannien
und Kanada gibt es beispielsweise den ent-
scheidenden Unterschied, dass Kanada
von Europa mehr als 5000 Kilometer ent-
fernt ist, Dover aber nur 42 Kilometer von
Calais. Das hat Auswirkungen, auch auf
die Inhalte des Abkommens.
SPIEGEL:Das Handelsvolumen der EU
mit den Briten übersteigt das mit den Ka-
nadiern um ein Vielfaches, um einen wei-
teren Unterschied zu nennen ...
Barnier:... dazu kommt: Als wir mit Ka-
nada verhandelten, ging es darum, sich ge-
genseitig anzunähern, um künftig mög-
lichst reibungslos Handel zu treiben. Mit
den Briten ist es nun genau umgekehrt.
Zum ersten Mal beginnen wir Handels -
gespräche mit einem Partner, mit dem wir
sehr eng verflochten sind, nämlich im
Binnenmarkt. Wir müssen nun nicht zu-
sammenfinden, sondern ein Stück weit das
entflechten, was wir über Jahrzehnte ge-
meinsam aufgebaut haben. All das zeigt,
Großbritannien wird ein spezieller Fall.
SPIEGEL:Eine wichtige Besonderheit ist
die Forderung der EU, dass die Briten sich
auch künftig an Regeln halten sollen, die
denen der Gemeinschaft ähneln, etwa
beim Arbeits- und Verbraucherschutz oder
bei Beihilfen. Warum sollten sich die Bri-
ten darauf einlassen?
Barnier:Die EU und die Briten wollen
künftig möglichst reibungslos Handel trei-
ben. Null Zölle, null Tarife, das ist unser
Angebot. Dafür brauchen wir fairen Wett-
bewerb, also auf beiden Seiten Regeln und
Gesetze, die zusammenpassen. Die Briten
können sich als souveräne Nation dafür
entscheiden, dass bestimmte EU-Regeln
weiter gelten. Ich würde das begrüßen,
weil es gute Regeln sind. Aber sie können
das gleiche Ergebnis – faire Wettbewerbs-

MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL

»Ich lasse mich nicht


über den Tisch ziehen«


EuropaZum Start der neuen Gespräche mit den Briten macht
EU-Chefunterhändler Michel Barnier, 69, klar, wo die

roten Linien verlaufen und wie weit er Boris Johnson vertraut.

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