Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
bewusst annehmen und ihrerseits ein biss-
chen dynamischer werden?
Barnier:Wir sind nicht ängstlich, aber wir
sind auch nicht naiv. Wenn es um den Bin-
nenmarkt geht, gibt es keine Kompromis-
se. Der Binnenmarkt ist heute und in
absehbarer Zukunft das wichtigste gemein-
same Gut der 27 EU-Mitglieder. Der Bin-
nenmarkt ist der entscheidende Grund,
warum Donald Trump uns respektiert.
Der Binnenmarkt ist der Grund, warum
Chinas Präsident Xi Jinping die EU ernst
nimmt – und, bislang jedenfalls, nicht un-
sere Außen- oder Verteidigungspolitik.
SPIEGEL:Für den Erfolg von Verhandlun-
gen ist gegenseitiges Vertrauen besonders
wichtig. Wie steht es darum bei Ihnen und
Boris Johnson? Wie kommen Sie mit die-
sem Typen zurecht, der sich wie Donald
Trump ähnlich einem Schulhof-Rowdy
verhält?
Barnier:Wir sind beide Politiker. Auf die-
ser Grundlage verstehen und respektieren
wir uns. Ich bewundere die unglaublichen
Energiereserven, die er in Verhandlungen
abrufen kann. Johnson ist sehr clever, aber
er weiß auch, dass ich das Geschäft nicht
erst seit gestern mache und mich nicht
über den Tisch ziehen lasse.
SPIEGEL:Dennoch gibt es bereits Anzei-
chen dafür, dass die britische Regierung
genau das versucht. Premier Johnson, so
heißt es in London, lasse Alternativen
zu den Kontrollen auf der britischen See
prüfen, die für britische Güter gelten sol-
len, die nach Nordirland eingeführt wer-
den und zu denen sich die Briten vor
wenigen Monaten in Brüssel verpflichtet
haben.
Barnier:Wenn wir ein Abkommen über
unser zukünftiges Verhältnis abschließen
wollen, brauchen wir von Anfang an Ver-
trauen und Respekt. Das sollte man nicht
unterschätzen. In Irland geht es nicht nur

bedingungen – natürlich auch mit eigenen
Gesetzen herstellen.
SPIEGEL:Noch mal: Ist es nicht gerade der
Sinn des Brexits, der Kern des Projekts,
sich von den EU-Regeln zu befreien?
Barnier:Das ist das gute Recht der Briten.
Der Zugang zu unserem Binnenmarkt
mit mehr als 440 Millionen Menschen
wird aber künftig proportional davon
abhängen, inwieweit es zwischen beiden
Seiten fairen Wettbewerb gibt. Genauso
haben wir es mit den Briten erst vor we-
nigen Monaten in der politischen Erklä-
rung beschlossen. Daran war auch Boris
Johnson beteiligt. Niemand kann von die-
ser Posi tion der EU ernsthaft überrascht
sein.
SPIEGEL:In einer Rede wies der britische
Premier Johnson zuletzt darauf hin, dass
Frankreich zweimal so viel Geld für staat-
liche Beihilfen ausgibt wie Großbritannien
und Deutschland sogar dreimal so viel.
Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass
die Briten die EU-Regeln nach Wildwest-
manier unterbieten wollen?
Barnier:Natürlich vergeben Franzosen
und Deutsche staatliche Beihilfen, aber im
Rahmen der gemeinsamen Regeln, die die
EU setzt. Darum geht es: um fairen Wett-
bewerb. Ich versichere Ihnen, ich höre mir
genau an, was Boris Johnson und andere
Politiker in Großbritannien so sagen. Die
Idee eines »Singapur an der Themse«, also
einer wenig regulierten Konkurrenz vor
unseren Küsten, stammt ja nicht von mir.
Keine Frage, es ist das gute Recht der Bri-
ten, diesen Weg zu gehen. Klar ist aber
auch, dass der Zugang zum Binnenmarkt
davon abhängt, ob und inwieweit wir in
bestimmten Feldern auf einem vergleich-
baren Regelniveau bleiben.
SPIEGEL:EU-Kommissionschefin Ursula
von der Leyen plant derzeit zahlreiche
neue Umweltgesetze, gerade in der Klima-
politik. Erwarten Sie, dass sich die Briten
künftig ebenfalls daran halten?
Barnier:Darüber werden wir reden müs-
sen. Aber ich mache mir da keine allzu
großen Sorgen. Wer die Briten kennt,
weiß, dass sie im Kampf gegen den Klima-
wandel fortschrittlicher sind als so man-
cher EU-Mitgliedstaat. Wenn wir nun auch
in der EU ambitionierter werden, ergänzt
sich das gut. Moderner Handel sollte nach-
haltiger Handel sein. Ich bin mir sicher,
die Briten wollen einen Freihandelsver-
trag, der Qualität liefert – in der Umwelt-,
aber auch in der Sozialpolitik und bei den
Beihilfen.
SPIEGEL:Wenn wir Ihnen so zuhören,
Herr Barnier, dann haben wir den Eindruck,
dass die EU mitunter sehr ängstlich auf das
Großbritannien blickt, das nach dem Brexit
entstehen könnte. Muss der größte Han-
delsblock der Welt ein »Singapur an der
Themse« wirklich fürchten – oder sollte die
EU den neuen Wettbewerber nicht selbst-


um Kontrollen bestimmter Güter oder Tie-
re, wie es sie übrigens zum Teil schon vor
dem Brexit gab. Dort steht viel mehr auf
dem Spiel. Es geht um Frieden und Stabi-
lität auf der irischen Insel. Dafür sind die
EU, die britische und die irische Regierung
gemeinsam verantwortlich.
SPIEGEL:Johnson will seinen Wählern
zeigen, dass der Brexit ohne große Zumu-
tungen ein Erfolg wird. Muss die EU um-
gekehrt das Gegenteil beweisen, also für
den Misserfolg des Brexits sorgen, und
sei es nur, um Populisten abzuschrecken,
die gleichfalls vom Ausstieg aus der EU
träumen?
Barnier:Nein. Ich kenne dieses Argument,
aber so werde ich nie an diese Verhand-
lungen herangehen.
SPIEGEL:Aber was passiert, wenn die bri-
tische Wirtschaft, womöglich angeheizt
von Konjunkturspritzen nach dem Vorbild
Trumps und der USA, künftig stärker
wächst als die der Eurozone? Wäre das
nicht Wasser auf die Mühlen all jener, die
den Briten nacheifern wollen?
Barnier:Das glaube ich nicht. Ich drücke
dem Vereinigten Königreich den Daumen
für seine Zukunft. Rechtspopulisten in der
EU graben wir nicht dadurch das Wasser
ab, dass wir den Briten keinen Erfolg gön-
nen, sondern indem wir in der EU die rich-
tigen Lehren aus dem Brexit ziehen. Und
es gibt durchaus Antworten.
SPIEGEL:Bitte schön, erklären Sie uns:
Warum haben 52 Prozent der Briten gegen
den Verbleib in der EU gestimmt?
Barnier:Dabei spielten sicher spezielle
britische Gründe eine Rolle. Aber es gab
auch eine Stimmung, die man so ähnlich
in vielen EU-Ländern spürt: Die Men-
schen fühlen sich nicht ausreichend ge-
schützt, in manchen Regionen haben sie
keine Perspektiven, sie werden wütend.
Denken Sie an die Gelbwesten in Frank-
reich. Ich glaube zudem, dass die Briten
vor gut 30 Jahren, anders als die Deut-
schen, einen Fehler gemacht haben, als
sie die klassische Industrie weitgehend ab-
schrieben und alles auf Dienstleis tungen
setzten. Ohne Industrie geht es nicht.
SPIEGEL:Manchmal, so scheint es uns,
schwingt bei Ihnen ein wenig Bitterkeit
mit, wenn Sie über den Austritt der Briten
sprechen. Was haben Sie empfunden, als
der Brexit nun Ende Januar tatsächlich
stattgefunden hat?
Barnier:Für mich war das wie eine per-
sönliche Verletzung. Die erste Stimme,
die ich jemals bei einer Wahl abgegeben
habe, war ausgerechnet eine für den Bei-
tritt Großbritanniens zur Europäischen
Gemeinschaft. Dazu gab es 1972 in Frank-
reich ein Referendum. Ich habe mich für
die Aufnahme der Briten eingesetzt – und
ich hatte nie Grund, es zu bereuen.
Interview: Markus Becker, Peter Müller

84 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


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