Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

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ir hassen unser Land nicht, aber wenn wir blei-
ben, werden wir getötet.« Das sagte mir ein
Demonstrant in Idlib, im Nordwesten Syriens,
vor Kurzem am Telefon. Er war einer von
Hunderten Zivilisten, die sich jüngst an der türkischen
Grenze zu einer Kundgebung eingefunden hatten, um die
Welt zu bewegen, sie zu erhören.
Auslöser der Proteste war die verstärkte Militäroffen -
sive durch das Regime von Syriens Diktator Baschar
al-Assad und seinem wichtigsten Unterstützer, Russland,
auf die letzten syrischen Gebiete, die von der Opposition
kontrolliert werden.
Das sind der Großteil der Provinz Idlib, Teile Aleppos
und Latakias – ein Territorium, das von Tag zu Tag
schrumpft. Durch die Offensive sind die mehr als drei Mil-
lionen Menschen, die dort leben, in Gefahr. Das Regime
und Russland greifen unentwegt aus der Luft an, setzen
dabei auch Streumunition ein.
Assad und der russische Präsident Wladimir Putin
greifen nicht nur an der eigentlichen Front an – sie
attackieren auch Krankenhäuser und Rettungssanitäter,
Schulen, Märkte und Wohngebiete. Den Vereinten Natio-
nen zufolge haben seit Dezember rund 900 000 Men-
schen die Flucht ergriffen – zusätzlich zu den 400 000,
die seit April 2019 bereits vertrieben worden sind. Mehr
als 1700 Zivilisten sind seit vergangenem April ums
Leben gekommen. Manche Beobachter vor Ort glauben,
dass die tatsäch liche Zahl sehr viel höher liegt.
Wieder und wieder fliehen zu
müssen ist für die meisten Menschen
in dieser dicht besiedelten Gegend
zur Normalität geworden. In Idlib
haben mehr als eine Million Vertrie-
bene aus verschiedenen Regionen
Syriens Zuflucht gefunden. Alle hier
stehen jetzt vor demselben Problem:
dass es keine sichere Gegend in
Syrien mehr gibt.
Da die Weltgemeinschaft ihrem
Leiden gleichgültig zusieht, haben
Zivilisten im Großraum Idlib zu dem
Marsch an die türkische Grenze auf-
gerufen. Mit dieser Aktion wollen sie
der Türkei und westlichen Ländern
deutlich machen, was ihnen droht.
Wenn die ihrer Verantwortung, den
Massenmord in Idlib zu stoppen,
nicht endlich nachkommen, werden
zahllose Flüchtlinge versuchen, zu
ihnen zu drängen.
Die Situation in Idlib ist dramati-
scher denn je. Schon in den vergan-

genen Jahren war das Leben hier von Unsicherheit
geprägt, gab es Angriffe. Dennoch wollten viele, anders
als in Europa oft angenommen, nicht von hier weg.
Viele Syrer haben sich jahrelang geweigert, Idlib zu
verlassen, selbst als es noch vergleichsweise einfach und
erschwinglich war, über die Türkei nach Europa zu
gelangen. So auch meine Familie aus der Stadt Atarib im
ländlichen Raum von Aleppo.
Jahrelang hatte ich sie bekniet, zu ihrer eigenen Sicher-
heit in die Türkei zu ziehen – aber das stieß bei meinen
Eltern und drei meiner Schwestern auf taube Ohren.
Trotz meiner inständigen Bitten waren sie entschlossen
zu bleiben. Sie beharrten darauf: »Hier ist unser
Zu hause.«
Erst vergangene Woche führten wir diese Auseinander-
setzung noch einmal per Telefon, als klar war, dass das
Regime auf meine Heimatstadt vorrückte. Meine Ver-
wandten weigerten sich immer noch. Aber die massiven
und wahllosen Angriffe zwangen sie Stunden später, mit-
ten in der Nacht um ihr Leben zu rennen.
Atarib ist nun zu einer Geisterstadt geworden, die Ein-
wohner hatten keine andere Wahl, als zu fliehen. Unter
den Vertriebenen ist auch eine Familie, die bei meinen
Eltern Unterschlupf gefunden hatte: nach ihrer Flucht aus
Ost-Ghuta, einem Vorort von Damaskus, der im Frühjahr
2018 auf ähnlich dramatische Art vom Assad-Regime
zurückerobert wurde. Wie viele andere flohen sie von
einem Ort zum anderen, weil es kaum noch Schutz gibt.
Doch wohin sollen sie jetzt noch?
Wegen der Menschenrechtsverbrechen, die das Regime
in vormaligen Oppositionsgebieten verübt, fällt es den
Menschen schwer, etwaigen Versprechen oder Abkom-
men, die ihren Schutz garantieren sollen, zu trauen.
»Hast du die Videos gesehen, in denen Assads Milizen in
den Gegenden, wo sie jetzt gerade vorgerückt sind, die
Gräber schänden? Wenn sie schon die Toten terrorisieren,
was soll dann diejenigen erwarten, die ihren letzten Atem-
zug noch nicht getan haben?«, fragte mich der Mitarbei-
ter einer Gesundheitsbehörde vor wenigen Tagen.
Was die Lage noch schlimmer macht: Es gibt keine
Lager, die dafür gerüstet wären, eine große Anzahl von
Menschen aufzunehmen. Die bestehenden Camps
sind bereits überfüllt, und wegen der Kämpfe dringt die
ohnehin knappe humanitäre Hilfe kaum noch durch.
Was dazu führt, dass Tausende unter freiem Himmel in
Olivenhainen schlafen, ohne Schutz, ohne Zugang zu
Wasser oder medizinischer Versorgung. Täglich sterben
Babys und Kleinkinder, weil sie der schneidenden Kälte
ausgesetzt sind.
Trotz dieser humanitären Katastrophe schier unglaub -
lichen Ausmaßes hat die Welt kaum etwas unternom men,
um Russland oder das syrische Regime zu bewegen,
die Kampfhandlungen einzustellen und die systematische
Tötung von Zivilisten.
Fast alle, mit denen ich in Idlib spreche, erzählen mir
von ihrer wachsenden Wut, Enttäuschung, ja Verbitterung,
was die internationale Gemeinschaft, ihre Versprechen
und ihre Untätigkeit angeht. Die Welt erlaubt es dem
Regime, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen,
ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.
»Assad ist damit davongekommen, dass er Chemie -
waffen eingesetzt, eine halbe Million Menschen getötet
und die Hälfte der Syrer vertrieben hat«, sagte mir
ein 43 Jahre alter Lehrer, der jüngst aus Atarib geflohen
ist. »Deswegen denkt er noch nicht einmal darüber
nach, ob sein Angriff auf Idlib irgendwelche Folgen nach

Haid Haid


Tut was!


EssayHunderttausende Flüchtlinge sitzen an


der Mauer zwischen der Türkei und Syrien


fest. Der Westen muss Diktator Assad stoppen.


DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020

Haid,36, stammt aus


der Stadt Atarib im Nord-
westen Syriens. Der Kon -
fliktforscher hat für das Uno-
Flüchtlingshilfswerk in
Damaskus gearbeitet, ehe er
2012 selbst vor dem Krieg
floh. Nach einer Station bei
der Heinrich-Böll-Stiftung
in Beirut arbeitet er heute
als Senior Fellow für Chat-
ham House, die renom -
mierte britische Denk fabrik
in London.

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