Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
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sich ziehen könnte. Er weiß einfach, dass dies nicht
geschehen wird.«
Die Eingeschlossenen in dieser letzten Enklave sind
sich bewusst, dass der Westen sich so sehr vor weiteren
Flüchtlingen fürchtet, dass er lieber wegschaut – egal
was Assad in Syrien anrichtet.
»Wenn der Westen nur darauf aus ist, uns innerhalb
Syriens zu halten, ungeschützt und egal wie gefährlich das
für uns ist, werden wir ihm unser Leid auf eine Art und
Weise vor Augen führen, die er versteht«, ist eine Dro-
hung, die ich in meinen täglichen Gesprächen mit Syrern
oft höre.


S


o entstand auch das Motto des Protestmarsches:
»Von Idlib nach Berlin«. Es geht nicht darum,
illegal in großer Zahl in die Türkei zu gelangen –
zumindest jetzt noch nicht –, sondern darum
darzustellen, wie dringend Schutz und sichere Zufluchts-
orte gebraucht werden.
Das klingt vielleicht widersprüchlich, aber man muss
sich die Verzweiflung vergegenwärtigen. Die Türken sind
im Moment die einzige Hoffnung der Menschen in Idlib,
weil sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan
gegen Assad stellt.
Gleichzeitig sollen türkische Soldaten ohne Vorwar-
nung auf Menschen schießen, die versuchen, über die
Grenze zu kommen. Ein junger Journalist, der es nicht
überleben würde, Assads Soldaten in die Hände zu fallen,
sagte mir unlängst wütend: »Als ob es nicht genug wäre,
vom Regime beschossen zu werden, feuern die türkischen
Soldaten von der anderen Seite, sobald jemand versucht,
dorthin zu flüchten.«
So hoffen die Organisatoren der Kampagne »Von Idlib
nach Berlin«, dass sie die internationale Gemeinschaft


aufrütteln, sodass diese endlich ihrer Verantwortung
gerecht wird.
Was heißt das? Das stärkste Mittel wäre militärische
Abschreckung, um die Attacken zu stoppen. Die Nato,
eine Uno-Friedensmission, irgendeine Macht müsste
der Türkei jetzt sofort militärisch beistehen. Deren Trup-
pen sind ja da, aber allein wagen sie es nicht, Assad und
Putin ernsthaft herauszufordern, schaffen es nicht.
Vielleicht würde es auch schon genügen, wenn etwa
die Nato zumindest symbolisch Präsenz demonstrieren
würde. Irgendetwas, mehr als das völlige Nichtstun.
»Sie sollen wenigstens zeigen, dass sie es versucht
haben«, sagte mir ein Retter, den ich in einem der Dörfer
erreichte. »Dass sie mehr tun, als nur diese immer glei-
chen Statements abzugeben!« Es ist nicht viel, was die
Menschen fordern: »Wir hoffen, die Angriffe werden ein-
gestellt! Selbst wenn es darauf hinausläuft, dass wir in
einem endlosen Albtraum gefangen bleiben, aus dem kein
Ausweg sichtbar ist«, sagte Waleed al-Ahmed, ein huma-
nitärer Helfer in Idlib.
Die Ironie der Situation ist, dass eine ungehinderte
Fortsetzung der Angriffe genau das erreichen könnte, was
der Westen fürchtet: eine Massenflucht in die Türkei –
und von dort aus weiter. Die Menschen, die in Idlib fest-
stecken, sind in ihrer Not davon überzeugt, keine andere
Wahl mehr zu haben als die Flucht – selbst wenn das
heißt, die Mauer, den Stacheldraht an der türkischen
Grenze, die Soldaten mit Schießbefehl zu überwinden.
Ahmed Khalid Hassoun, einer der Organisatoren der
Kampagne, sagte mir: »Wenn man alles verliert, vor
allem die Hoffnung, ist die einzige Möglichkeit, alles aufs
Spiel zu setzen – auch das eigene Leben und das der
Familie. Um ein besseres, sichereres, würdigeres Leben
zu haben. Oder dabei zu sterben, dass man es wenigstens
versucht.« 

MUHAMMED SAID / ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES
Zivilisten im zerstörten Idlib
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