Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

V


or einem Jahr standen wir schon
einmal hier, in Beit Schemesch.
Es ist wieder dunkel und kühl
wie damals, und auch sonst hat
sich nicht viel verändert. Jeremy Saltans
Rechtsbündnis Yamina steht in den Wahl-
umfragen bei acht Parlamentssitzen. Seine
Mutter ist wieder gekommen. Der Pre-
mierminister muss vielleicht ins Gefängnis.
Es scheint immer noch keine Regierungs-
mehrheiten zu geben, aber Saltan hat eine
neue Krawatte.
Er wurde ganz in der Nähe groß, zwei
Straßenecken weiter. Seine Mutter wohnt
da immer noch. Ihr Sohn ist seit sechs Stun-
den hier, um für Yamina eine Wahlkampf-
veranstaltung zu organisieren. Es ist die
dritte Parlamentswahl in einem Jahr. Das
Werben wird nicht einfacher.
Jeremy Saltan hat einen Saal gemietet
und einen DJ, er hat Snacks gekauft, seine
Poster aufgestellt, er hat über die sozialen
Medien Einladungen an Freunde und Ver-
wandte geschickt. Seine Mutter hat ihm
geholfen. Sie steht vor der Tür und begrüßt
jeden Gast einzeln. Sie heißt Anne, ist 61
Jahre alt und stammt ursprünglich aus Sko-
kie, dem jüdisch geprägten Vorort von Chi-
cago, und wer die Zusammenhänge nicht
kennt, könnte denken, sie sei die Wahl-
kampfmanagerin.
»Die Zimmermanns kommen nicht, Je-
remy«, sagt sie. »Sie haben eine Hochzeit.
Ist Rina Hollaender da?« – »Noch nicht«,
sagt ihr Sohn.
Um acht Uhr soll die Wahlkampfveran-
staltung beginnen, jetzt ist es fünf vor acht,
und im Saal sitzen sechs Leute. Zusam-
men mit Saltan wird heute Abend auch
der Yamina-Spitzenkandidat in Beit Sche-
mesch auftreten, Naftali Bennett, Mil -
lionär, Verteidigungsminister, einer der
bekanntesten Politiker des Landes. »Es
kommen sowieso nur die Leute, die noch
nicht wissen, wen sie wählen sollen,
Mom. Insofern ist es ein gutes Zeichen,
wenn wenig da sind«, sagt Saltan. Er sieht
müde aus.
Sein Bündnis strebt eine Koalition mit
dem rechten Likud-Block von Premier-


minister Benjamin »Bibi« Netanyahu an.
Es vertritt die Interessen der Siedler, will
das Rechtssys tem reformieren und die be-
setzten Ge biete im West jordanland an-
nektieren. Die Yamina-Leute wollten Ne-
tanyahu nach rechts drängen, sagen sie.
Aber im vergangenen Jahr schien es eher
so, als würden sie von ihm durch die Ge-
gend geschleift.
Die Wahl am 2. März ist wie die beiden
Wahlen zuvor vor allem eine Abstim-
mung über Netanyahus Schicksal. Der Mi-
nisterpräsident inszeniert sich als Staats-
mann. Im Januar stand er an der Seite von
US-Präsident Donald Trump in Washing-
ton, als dieser seinen »Deal des Jahrhun-
derts« präsentierte.
181 Seiten ist das Dokument lang, es
sieht Tunnel und Brücken zwischen dem
Westjordanland und dem Gazastreifen vor,
einen lebensfähigen Staat Palästina aber
nicht.
Bislang war Netanyahu nicht in der
Lage, eine Regierung zu formen. Aber
auch sein Herausforderer Benny Gantz
von dem Mitte-Bündnis Blau-Weiß hat kei-
ne Mehrheit. Die eine Hälfte der vielen
israe lischen Parteien will Bibi loswerden,
die ande re folgt ihm.
Beim zweiten Anlauf im vergangenen
Herbst machte Saltan Wahlkampf an
der Seite von Naftali Bennett. »Die Leute
sind echt müde«, sagte er schon damals.
Yamina bekam sieben Sitze, aber es
gab wieder keine Regierungsmehrheit.
Wenigstens wurde Bennett Verteidigungs-
minister. Übergangsweise. Alles in der
israelischen Politik wirkt mittlerweile pro-
visorisch.
Unmittelbar nach der Wahl, am 17. März,
muss sich Netanyahu wegen Betrug, Be-
stechlichkeit und Untreue vor Gericht ver-
antworten. Noch eine Abstimmung über
Bibi. Auch die dürfte sich hinziehen. Die
Zeugenliste hat 333 Namen.
Eigentlich war die Wahl für den 10. März
geplant, aber da ist Purim, der fröhlichste
jüdische Feiertag. Das passte nicht, das
konnte man niemandem mehr zumuten.
Das israelische Volk ist erschöpft.

»Schön, dass Sie gekommen sind«, sagt
Saltans Mutter zu einem jungen Mann.
»Ich bin ja auch siebenmal angerufen wor-
den«, sagt der Mann und nickt ihrem
Sohn zu.
Im Saal sitzen inzwischen 50 Leute.
Es ist halb neun. Fünf Minuten später be-
ginnt Jeremy Saltan mit dem Warm-up.
Saltan sagt, dass er beim letzten Mal mit
Ayelet Shaked hier gewesen sei, der ehe-
maligen Justizministerin, die gern auch
die künf tige Justizministerin werden wür-
de. Er habe damals, anschließend an ihren
Wahlkampfauftritt, noch Fragen der Bür-
ger seiner Heimatstadt beantwortet, bis
weit nach Mitternacht sei das gegangen.
Das wolle er heute wieder so halten. Er
sei für sie da.
Jemand gibt Zeichen, dass sich Naftali
Bennett dem Gebäude nähere. Der Star.
Der Yamina-DJ spielt den Jingle der Partei.
Es ist die Melodie des Liedes »Bella Ciao«.
Laut einer Legende ein Klagelied der ita-
lienischen Reispflückerinnen gegen ihre

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Jeremy macht


weiter


IsraelZum dritten Mal innerhalb eines Jahres wählt


das Volk einen Premier. Unterwegs
mit einem Politiker, der das Land noch weiter

nach rechts drängen möchte.


Ausland
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