Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

Sohn säkularer amerikanischer Juden.
Ben netts Eltern stammen aus Kalifornien,
wo der Vater in der Bürgerrechtsbewegung
aktiv war, er hat Sit-ins in einem Hotel in
San Francisco veranstaltet, weil dort
Schwarze keinen Zutritt hatten.
Irgendwann wurde er religiös, seine
Energie floss in die Erhaltung des Staates
Israel. Saltans Vater war ein Ingenieur aus
Chicago, der in Buenos Aires geboren wur-
de und nie eine richtige Heimat hatte, be-
vor er israelischen Boden betrat.
Jeremy Saltan kam in Israel an, als er
elf war. Er wurde gehänselt und verprü-
gelt, weil er nicht gut Hebräisch sprach.
Als er sich beim Direktor beschwerte, sag-
te der ihm: Du musst zurückschlagen, um
ein Israeli zu werden.
Mit 15 Jahren machte er seinen ersten
Wahlkampf. Er verteilte Aufkleber für
Benny Begin, den Sohn des früheren Mi-
nisterpräsidenten, der eine rechte Partei
mitgegründet hatte, weil er sich über die
Osloer Abkommen ärgerte.
»Der Grund, warum wir hier sind und
nicht in Uganda, ist, dass hier unsere
Geschichte liegt«, sagt Saltan. Er ist Mitte
dreißig, hat zehn Jahre lang einen Come-
dy-Klub in Jerusalem betrieben und führt
heute einen populären Politikblog, ist aber
auf einem sehr alten Weg. Dort scheinen
inzwischen die meisten israelischen Politi-
ker zu wandeln.
An einem Abend in Tel Aviv kommen
die Kandidaten aller großen Parteien nach-
einander in ein kleines Studio von Keep
Olim, einer gemeinnützigen Organisation
für Neuankömmlinge, um über Facebook
Wählerfragen zu beantworten. In drei
Stunden erlebt man das gesamte Parteien-
spektrum.


Ein ukrainischer Jude aus Kriwoi Rog,
der für die Partei Israel Beitenu in der
Knesset sitzt, will vor allem beweisen, dass
sie nicht nur die Interessen ehema liger
Sowjetbürger vertreten.
Die Likud-Vertreterin ist Veganerin,
setzt sich für die Legalisierung von Can-
nabis und für Tierschutz ein. Und vertei-
digt Netanyahu.
Die Kandidatin von Blau-Weiß ist Toch-
ter eines kanadischen Bürgerrechtlers, hat
vier Kinder und sagt, sie könnten nicht
mit den arabischen Parteien zusammen -
arbeiten, weil diese den jüdischen Staat
nicht anerkennen. Jeremy Saltan redet
über die Annexion des Jordantals.
Alle scheinen im Grunde dasselbe zu
wollen. Wenn man nach drei Stunden nach
Hause geht, weiß man nur noch, dass die
Kandidaten ihr Land lieben, besser, stärker
und strahlender machen und gegen jeden
Feind verteidigen wollen. Und natürlich
geht es immer um Benjamin Netanyahu.
Ob es ein Leben nach ihm gibt. Ohne ihn.
In den letzten Tagen vor der Wahl stei-
gen die Werte für Netanyahu und seinen
Likud wieder. Die Analysten streiten sich,
woran es liegt. Vielleicht am Coronavirus.
Vielleicht daran, dass aus Gaza wieder
mehrere Dutzend Raketen nach Israel flo-
gen, nachdem die israelische Armee einen
Dschihadisten getötet hatte. Vielleicht da-
ran, dass sich Netanyahu in Hebron zeigte.
Vielleicht daran, dass Bernie Sanders im
amerikanischen Wahlkampf ankündigte,
die US-Botschaft womöglich wieder aus
Jerusalem abzuziehen, sollte er die Wahl
gewinnen. Wahrscheinlich ist es von allem
ein bisschen.
Die Leute schließen sich um den kran-
ken König zusammen. Parlamentarische

Mehrheiten allerdings sind nicht zu er -
kennen. Manche reden schon von vierten
Wahlen. Manche sagen, dass der ewig
wankelmütige Avigdor Lieberman von
Israel Beitenu sich diesmal für Benny
Gantz entscheiden werde. Gegen Netan -
yahu hat er sich bereits entschieden. Wahr-
scheinlich.
An einem der letzten Abende vor der
dritten Wahl erklärt Jeremy Saltan in
einem Wohnzimmer in Naharija sein Ver-
hältnis zu Bibi. Naharija ist eine Küsten-
stadt im Norden des Landes, dicht an der
Grenze zum Libanon. Im Wohnzimmer
sitzen etwa 20 Leute. Keiner ist jünger als


  1. Die meisten waren schon bei Saltans
    vorigem Besuch vor einem Jahr hier. Die
    Fragen sind dieselben geblieben.
    Alle haben Angst vor einer weiteren
    Wahl. Ein Mann, der ursprünglich aus
    England stammt, fragt, wie jemand ein
    Land führen könne, der unter Anklage
    stehe.
    »Ich hätte es auch gut gefunden, wenn
    Netanyahu zurückgetreten wäre«, sagt
    Jeremy Saltan. »Aber Bibi hat die überwäl -
    tigende Unterstützung seiner Partei.«
    Er habe, sagt Saltan, bei seinen Wahl-
    kampfauftritten den Wunsch der Leute ge-
    spürt, dass Naftali Bennett, sein Parteichef,
    das Land übernimmt. Aber erst dann,
    wenn Netanyahu nicht mehr da sei. Selbst
    seine Freunde bei den Linken und in der
    Mitte glaubten nicht mehr daran, Netan -
    yahu schlagen zu können.
    Die meisten Herausforderer, die jetzt
    antreten, haben unter Netanyahu gedient.
    Sie waren seine Minister, seine Stabs-
    und Bürochefs, seine Generäle. Jeder
    kennt jeden.
    Bei einer Fernsehdebatte mit sieben
    Parteien schrien sich die Teilnehmer
    an, aber als die Kameras ausgingen, mach-
    ten sie Witze und Selfies miteinander.
    Sie wirkten wie Geschäftsleute. Das ist
    manchmal lustig und beruhigend. Und oft
    ermüdend.
    Auch an diesem Abend in diesem Wohn-
    zimmer gelingt es Saltan nicht, die Aus-
    weglosigkeit zu vertreiben. Sie scheint
    eher zuzunehmen, je länger er redet.
    Nach zwei Stunden geht ein pensionier-
    ter Professor, der erklärt hat, dass er seine
    Miete nicht mehr bezahlen könne, obwohl
    er Sprachunterricht gebe. Er wird wohl
    nicht mehr wählen. »Bitte geht wählen«,
    ruft Saltan. »Ich würde mich freuen, wenn
    ihr für uns stimmt. Aber noch schlimmer,
    als nicht für uns zu stimmen, ist, gar nicht
    zu stimmen.«
    Er redet in einem Schlussplädoyer über
    Demokratie. Über grundsätzliches Vertrau-
    en. Er redet gegen die Enttäuschung an
    und die Müdigkeit. Gegen vierte Wahlen.
    Gegen die untergehende Welt. Er fängt die
    letzten Seelen.Alexander Osang


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Ausland

AMMAR AWAD / REUTERS
Netanyahu-Wahlplakat in Jerusalem: Die Zeugenliste hat 333 Namen
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