Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

ten ein Gutachten vorlegen. Das Gutach-
ten gibt es bis heute nicht; nun wäre es we-
gen der Verjährung Ende April auch zu
spät. Und Zwanzigers Hinweis, dass sich
Beckenbauer noch im Juli 2019 in der
Öffentlichkeit blicken ließ und gar nicht
so gebrechlich wirkte, machte auf das
Schweizer Gericht keinen großen Ein-
druck. Ein Prozess und ein öffentlicher
Auftritt, das könne man nun wirklich nicht
vergleichen.
Für die Schweizer Ermittler ist Becken-
bauer bis heute der mögliche Drahtzieher
des Millionendeals, »eventualiter Anstif-
ter«. Schmidt, Zwanziger, Niersbach, Lin-
si – sie alle seien nur das Aufräumkom-
mando gewesen. Sie hätten beschlossen,
das Geld an Louis-Dreyfus zurückzuschaf-
fen, das der Kaiser selbst nicht zurückzah-
len konnte oder wollte. Einziges Motiv des
Quartetts: die Bombe entschärfen. Des-
halb müssen heute die deutschen Ange-
klagten den Kopf für Beckenbauer hinhal-
ten, auch wenn sie – wie der Kaiser – ihre
Unschuld beteuern.
Zu Zwanzigers Verteidigungslinie ge-
hört dabei ein Abkommen mit dem DFB
aus dem März 2019. Zwanziger will es so
verstanden wissen, dass sich der DFB gar
nicht geschädigt sieht, zumindest nicht von
ihm. Tatsächlich steht in dem Papier, es
sei dem DFB und Zwanziger »ein Bedürf-
nis, den Streit im Interesse des Fußballs
zu beenden und sich auf ein gemeinsames
Vorgehen zu verständigen«.
Weiter heißt es da: Wenn der DFB be-
schädigt sei, dann nur, weil Zwanzigers
Nachfolger Niersbach falsch reagiert habe.
Nach ersten Hinweisen, dass die Bombe
doch platzen könnte, habe er die Affäre
nicht energisch aufgedeckt. Stattdessen
habe er im Juni 2015 »durch seine Ent-
scheidung, das Präsidium nicht unverzüg-
lich über die Zahlung(von 2005–Red.) zu
informieren, gegen die Satzung des DFB
verstoßen«. So habe am Ende nicht der
DFB, sondern der SPIEGELdie Affäre öf-
fentlich gemacht. Hätte Niersbach dagegen
»transparent« aufgeklärt, hätte »Schaden
vom DFB und den der Strafverfolgung
ausgesetzten Personen abgewendet wer-
den können«. Niersbach wollte dazu auf
SPIEGEL-Anfrage nichts sagen.
Alles gut mit dem DFB, so das Signal,
das Zwanziger sendet. Warum verfolge das
Schweizer Gericht überhaupt noch einen
Fall, in dem der Verband geschädigt sein
soll? Für Zwanziger ist die Anklage ein
Machtmissbrauch der Schweizer Justiz,
die sich an einem deutschen Fall vergrei-
fe. Das Vorgehen sei »unverantwortlich«,
»absurd«. Um das zu erkennen, braucht
Zwanziger nicht mal seine Augen. Das er-
kennt seiner Ansicht nach jeder Blinde.
Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch,
Jörg Schmitt


I


m Skigebiet Ehrwalder Alm, unweit
der Zugspitze, ist in der Nähe einer
Piste ein Schneebrett abgegangen.
Der Bergretter Bernhard Lutnig, 52,
inspiziert die Stelle unterhalb einer Lift-
station mit dem Fernglas.
Lutnig gehört zur Tiroler Lawinenkom-
mission. Sie hat für diesen Samstag im
Februar wegen der starken Schneefälle in
den Tagen zuvor die zweithöchste Warn-
stufe herausgegeben. Es sei »saugefähr-
lich« jetzt im Gelände, sagt Lutnig.
Aber die Sonne scheint. Es ist Wochen-
ende. Und in den Hängen unterhalb des
Vorderen Tajakopfes und der Sonnenspitze
lockt der Pulverschnee. Lutnig kann bereits
die ersten Spuren der Skitourengeher sehen,
die sich ihren Spaß nicht von einer kriti-
schen Lawinenlage verderben lassen wollen.
Die Zahl der Wintersportler, die sich
fern der Lifte ihren eigenen Weg auf den
Gipfel suchen, nimmt in fast allen Regio-
nen der Alpen zu. Skibergsteigen ist ein
Trendsport, man ist in der Natur und nicht
bei den Massen auf den Pisten.
Viele der Enthusiasten unterschätzen
jedoch die tödlichen Gefahren in den Ber-

gen. 2019 kamen in Österreich 39 Men-
schen beim Tourengehen oder beim so-
genannten Freeriden abseits der Pisten
ums Leben. Viele Opfer wurden von
Lawinen verschüttet. Die mit Abstand
meisten Bergtoten in Österreich waren
im vergangenen Jahr zwischen 51 und
60 Jahre alt.
Lutnig, ein kräftiger Mann mit wetter-
gegerbtem Gesicht, gehört seit mehr als
20 Jahren zur Bergrettung in Ehrwald. Wie
die meisten seiner Kolleginnen und Kolle-
gen macht er den Job ehrenamtlich. Sein
Geld verdient Lutnig im Winter als Ski -
lehrer und Skitourenführer.
Er lebt von der Sehnsucht der Men-
schen nach den Bergen. Er bringt seine
Kunden sicher hinauf auf den Gipfel und
wieder hinunter. Manchmal muss er sie
enttäuschen, wenn eine geplante Tour
nicht zustande kommt, weil das Wetter es
nicht zulässt. Oft zögen die Touristen dann
auf eigene Faust los.
»Die Leute akzeptieren keine Grenzen«,
sagt Lutnig, »sie meinen, alles müsse je-
derzeit möglich sein.«
Vor einigen Jahren traf er morgens an
der Talstadion der Ehrwalder Almbahn
zwei Tourengeher, die unterwegs waren
in die »Neue Welt«, eine der faszinierends-
ten Freeride-Abfahrten der Alpen. Aber
auch eine der riskantesten. Sie führt vom
Gipfel des Schneefernerkopfes über bis
zu 45 Grad steile Hänge hinunter Richtung
Ehrwald. Lutnig plauderte mit den Sport-
lern, sie tauschten Nummern aus. Er riet
ab, er warnte, das Wetter werde um -
schlagen.
Als er am Nachmittag nach der Arbeit
sah, dass ihr Auto immer noch auf dem
Parkplatz der Talstation stand, rief er ei-
nen der Männer an und erreichte ihn – in
großer Not. Die beiden waren doch los -
gezogen und in der Neuen Welt an einer
senkrechten Wand angekommen, die man
hinabklettern muss, um anschließend auf
Ski weiter ins Tal abfahren zu können.
Die Sportler hatten für den Abstieg
jedoch eine Stelle gewählt, für die das
Seil, das sie mitgenommen hatten, viel zu
kurz war. Einer der Skiläufer baumelte
bereits hilflos über dem Abgrund. Sein

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Sport

»Die rennen


einfach los«


TrendsSkibergsteiger wollen den Massentourismus meiden –
viele der Enthusiasten unterschätzen jedoch
die tödlichen Gefahren abseits der präparierten Pisten.

WILFRIED FEDER / LOOKPHOTOS
Skibergsteiger am Schneefernerkopf
Eines der riskantesten Abenteuer
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