Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

Partner schaffte es nicht, ihn wieder hoch-
zuziehen.
Lutnig gab Alarm. Nachdem ein Ver-
such gescheitert war, die Tourengeher mit
einem Hubschrauber zu bergen, machte
er sich mit drei Kollegen auf zu den Tou-
risten. Sie hievten den einen Skifahrer aus
der Wand. Anschließend seilte sich die ge-
samte Gruppe ab.
Doch mittlerweile hatte der Schnee-
sturm begonnen, eine Abfahrt ins Tal war
unmöglich geworden. Die Retter bauten
ein Biwak aus Schnee unter einem Fels-
überhang. Mehr als zwölf Stunden lang
harrten die Helfer mit den Skibergsteigern
bei minus 20 Grad in der Höhle aus. Von
den Hängen über ihnen donnerten immer
wieder Lawinen herab.
Am nächsten Mittag mussten sie per Ski
runter vom Berg, aus Sorge, eine weitere
Nacht bei der Kälte nicht zu überleben.
»Wir hatten großes Glück«, sagt Lutnig,
»hätte uns bei der Abfahrt eine weitere La-
wine überrascht, wäre das wohl übel aus-
gegangen.«
Lutnig stammt aus Ehrwald, er hat fast
alle Gipfel im umliegenden Wetterstein -
gebiet und im Mieminger Gebirge bestie-
gen und jede mit Ski befahrbare Berg -
flanke bewältigt. Er weiß, wie sich wech-
selnde Temperaturen und Winde auf die


Stabilität einer Schneedecke auswirken.
Er erkennt die Zonen, in denen sich Lawi-
nen oder Schneebretter besonders leicht
lösen können.
Ende Januar bricht er auf zu einer kur-
zen Skitour Richtung Brandjoch. Im Zick-
zackkurs arbeitet Lutnig sich den Hang
zum Grat hinauf. Der Himmel ist klar, es
gilt die niedrigste Lawinenstufe. Gämsen
jagen durch das nur mäßig verschneite
Gelände.
Wenn das Wetter umschlägt, kann sich
ein alpines Idyll innerhalb weniger Stun-
den in eine Todeszone verwandeln. Vor
gut einem Jahr wären unweit des Brand-
jochs fast drei Studenten umgekommen.
Ein Unwetter hatte sie überrascht. Sie ka-
men im tiefen Schnee nicht mehr weiter
und mussten sich eine Schutzhöhle graben.
Erst nach Stunden konnten die jungen
Männer in einer waghalsigen Hubschrauber -
aktion geborgen werden.
In Deutschland hat sich laut Alpenver-
ein die Zahl der Tourengeher in den ver-
gangenen 15 Jahren mehr als verdoppelt
auf 600 000. Der Freizeitspaß hat Zulauf,
weil viele Wintersportler es satthaben, auf
überfüllten Pisten Ski zu laufen.
Die meisten Skibergsteiger verlassen sich
bei ihren Wanderungen nicht auf das Glück.
Sie haben Karten dabei und zusätzlich auf

ihrem Smartphone eine Touren-App herun-
tergeladen, die ihnen die richtige Route fast
metergenau anzeigt. Sie sind ausgestattet
mit Funktionsklamotten, mit Sendern, Son-
den und Lawinenschaufeln. Manche tragen
sogenannte Lawinen-Airbags mit sich, die
verhindern sollen, dass man vom Schnee
begraben wird. Das teure Equipment gibt
ihnen ein Gefühl von Sicherheit.
Bergsportschulen und Alpenvereine bie-
ten für Skibergsteiger unzählige Kurse an.
Sie sind gut besucht. Die Teilnehmer ler-
nen, sich im Gelände zu orientieren. Ex-
perten bringen ihnen bei, wie man einen
Vermissten mit dem Lawinenverschütte-
tensuchgerät finden kann.
Denn im Ernstfall bleibt nicht viel Zeit.
Nach 15 Minuten sinkt die Überlebens-
chance für einen Verschütteten rapide ab.
Die ganze Ausbildung und Ausrüstung
hilft aber manchmal nichts, weil die Natur
unberechenbar ist.
Vor einem Jahr wurden die Ehrwalder
Bergretter zu einem Notfall in die Ammer-
gauer Alpen gerufen. Tourengeher aus
Deutschland waren beim Abstieg von ei-
nem Gipfel in einem steilen Waldgebiet
von einer 200 Meter breiten Nassschnee-
lawine erfasst worden.
Eigentlich gilt die Regel, dass Skiberg-
steiger im Wald ziemlich sicher sind. Dies-

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 95

WILFRIED FEDER / LOOKPHOTOS
Freerider bei »Neue Welt«-Abfahrt in den Alpen: »Über bis zu 45 Grad steile Hänge Richtung Ehrwald«
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