Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
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Klimawandel
Noch heißer

 Das Jahr 2020 wird »so gut
wie sicher« eines der zehn
weltweit wärmsten seit
Beginn der Temperaturauf-
zeichnungen vor mehr als
140 Jahren. Diese Vorher sage
treffen Klimaforscher um
Karin Gleason von der US-
Wet terbehörde NOAA. Sie
gründen ihr Urteil auf den
ungewöhnlichen Jahresbeginn:
Die globale Durchschnitts -
temperatur lag im Januar 1,14
GradCelsius über dem lang-
jährigen Mittel, wodurch der
Monat zum wärmsten Januar
der Messgeschichte wurde.
Aus ihren statistischen Analy-
sen schließt Karin Gleason,
dass ein heißer Verlauf für das
restliche Jahr weitaus eher zu
erwarten ist als ein kühler.
2020, so die Forscherin, wer-

de mit einer Wahrscheinlich-
keit von mehr als 98 Prozent
zu einem der fünf wärmsten
Jahre. Es besteht eine Chance
von knapp 50 Prozent, dass
dieses Jahr sogar den bisheri-
gen Rekordhalter – 2016 – als
das heißeste überhaupt ablöst.
Auch Klimatologen des briti-

schen Met Office erwarten
hohe Temperaturen. Als Ursa-
che dafür geben sie den men-
schengemachten Klimawan-
del an: Die Menge an Kohlen-
dioxid in der Atmosphäre
werde in diesem Jahr Werte
erreichen wie seit vielen Mil-
lionen Jahren nicht. ME

Fußnote

Jahrealt ist ein Vogelkadaver,
den eine Forscherin wegen
seines sehr guten Zustands
zunächst für ziemlich frischen
Ursprungs gehalten hat. Tat-
sächlich aber lebte die ver -
blichene Ohrenlerche zu Zei-
ten der Mammuts und der
Wollnas hörner. Als das Weib-
chen sein Leben im Nordosten
Sibiriens aushauchte, wurde
es rasch im schützenden Perma -
frost eingeschlossen. Wissen-
schaftler haben das Alter des
Federtiers jetzt mithilfe der
Radiokarbonmethode ermit-
telt. Zwei heute lebende Unter-
arten der Ohrenlerche sind
mit der Ahnin aus der Eiszeit
sehr eng verwandt.

46000


Sebastian Kur-
tenbach, 32,
Soziologe von
der Fachhoch-
schule Münster,
über die Fra ge,
ob in Zeiten
digitalen Dauer-
kontakts per Chat und Face-
book Nachbarn noch wichtig
sind

SPIEGEL:Herr Kurtenbach,
kennen Sie Ihre Nachbarn?
Kurtenbach: Ja, sehr gut sogar.
Das Problem der wachsenden
Anonymität ist nicht so groß,
wie oft unterstellt wird. Tat-
sächlich sind viele Menschen,
die Tür an Tür leben, intensiv
miteinander vernetzt. Auch
heute leben wir in guten Zei-
ten für Nachbarschaften.
SPIEGEL:Woran liegt das?
Daran, dass ständig online
bestellte Pakete hin- und her-
geschleppt werden?
Kurtenbach:Es liegt schon am
Internet, aber entscheidender
sind die Plattformen für den
nachbarschaftlichen Aus-
tausch, auf denen sich Men-
schen zum Beispiel in Lauf-

gruppen organisieren oder
Tauschangebote machen.
Allein Nebenan.de hat schon
mehr als eine Million Nutzer.
So wird das Internet immer
mehr zu einer Erweiterung der
Nachbarschaft – und ganz
bestimmt nicht zu deren Ende.
SPIEGEL:Trifft das für alle
Bevölkerungsgruppen zu?
Kurtenbach:Es sind vor allem
Nachbarschaften der jungen
urbanen Mittelschicht, die bis-
her von den Plattformen profi-
tieren. Eine digitale Vernet-
zung wäre aus unserer Sicht
aber besonders in Quartieren
mit hoher Armutsprägung
sinnvoll, denn darüber lässt
sich informelle Hilfe organisie-
ren und die Lebensqualität
steigern.
SPIEGEL:Sind Menschen in
funktionierenden Nachbar-
schaften zufriedener?
Kurtenbach:Ja, sogar gesün-
der, das ist in vielen Studien
nachgewiesen worden, und
das ist auch unser Befund. Bei
einer breit angelegten Umfra-
ge in Köln-Chorweiler, einem
Stadtteil mit vielen sozialen
Problemen, haben wir außer-

dem herausgefunden, dass die
Menschen, die dort leben,
weniger Vertrauen in ihre
Nachbarn haben und kaum
Netzwerke aufbauen. So wird
eine Chance vertan, das Wohl-
befinden zu steigern.
SPIEGEL:Soziologen beklagen
oft die Segregation, also
den Umstand, dass einzelne
Stadtteile zunehmend von
Menschen aus dem gleichen
Kulturkreis und der gleichen
Bildungs- und Einkommens-
schicht bewohnt werden.
Welchen Einfluss hat das auf
die Qualität von Nachbar -
schaften?
Kurtenbach:Es fällt den Men-
schen natürlich leichter, sich

wohlzufühlen und zu vernet-
zen, wenn die Unterschiede
abnehmen. Insofern hat Segre-
gation in diesem Zusammen-
hang einen positiven Effekt.
SPIEGEL:Stimmt es eigentlich,
dass Nachbarschaften auf dem
Land besser funktionieren als
in der Stadt?
Kurtenbach:Das halte ich
eher für eine Legende, die den
ländlichen Raum verklärt.
Allerdings haben wir in einer
Studie herausgefunden, dass
Nachbarschaften intensiver
sind, wenn es, wie auf dem
Land, viele Eigentümer gibt.
Kaufen statt mieten kann also
auch deswegen eine sinnvolle
Entscheidung sein. GUI

DANIEL BOCKWOLDT / DPA
Sonnenbadende an der Elbe in Hamburg im Rekordsommer 2016

Soziologie

»Gute Zeiten für Nachbarschaften«


INA FASSBENDER / AFP
Wohnhaus in Köln-Chorweiler

WILFRIED GERHARZ

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