Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

SEITE 2·SAMSTAG, 14.MÄRZ2020·NR.63 FPM Politik FRANKFURTER ALLGEMEINEZEITUNG


W


ir sind zugegebenermaßen
ziemlichfrüh dran.Aberda
niemandweiß, wasdas Co-
ronavi rusmit uns allen noch vorhat,
geben wirunser en Vorschlagfür die
Wahl zumWortdes Jahressiche rheits-
halber schon jetzt zu Protokoll. Er lau-
tetnatürlich: Geisterspiele. Dem unbe-
kanntenErfinder dieses Begriffs,der
in dieserZeitun gzum ersten Malam
24.September 1959ineinem Artikel
über den Sowjetzonen-Sportauftauch-
te und demVolksmund zugeschrieben
wurde, muss man noch heut efür sei-
nenGeistesblitz danken.Denndamit
lässtsichnicht nur treffend diesesfast
lautloseBallgeschiebebeschreiben,
bei demesmangels Pöbels auf den
Rängen nurnochauf demPlatz zu je-
nenBeleidigungenund Schmähungen
kommenkönnte,ohnedie derFußball
kein Fußball ist, wie manjetzt so oft
hört. DieSpieler abersindinzwischen
alsRassistentotaleVersager,das hat
manihnen erfolgreichabtrainiert.
Undsoschlicht eGemüter,dasssie die
Hand eines Mäzens beißen,der si emit
Millionenfüttert, habennicht einmal
jeneFußballer,die vergoldeteSteaks
essen.
„Geisterspiele“ begeistert uns,weil
dieserTerminus auch zu Vorgängen in
derPoliti kpasst,für die einem sonst
die Wortefehlenwürden.Wirdenken
da etwa an die überraschendeEnt-
scheidung desThüringer Ministerprä-
sidentenRamelowvon der Linkspar-
tei, mi tseinerStimme demGenossen
Kaufmannvonder AfD zurWahl zum
Vizepräsidenten des Landtags zuver-
helfen–jenes Landtags,von demRa-


melownur dann zum Regierungschef
gewähltwerde nwollte,wenn das
ohne eineeinzi ge Stimmevonder AfD
geschehenwürde .Vollendsgespens-
tisc hwurde dieser Spielzugdadurch,
dassdie Af Ddie stille WahlhilfeRame-
lows widerspruchslosannahm, ob-
wohl si eden Linkensonstverteufelt,
alswäreerSatans Großvater. An der
Hufeisentheoriescheint aber dochet-
wasdran zu sein,schonwegen des
Hufs.
Das schönste abgekartete Spielin-
klusiveGeisterbeschwörung fand in
der vergangenen Woche noch t iefer im
ehemaligenSowjetreichstatt, direkt in
Moskau.Dortkam dieDumaganz
spontan zu demSchluss,dassesfür
alle doch dasBeste sei, wenn Wladi-
mirPutinauchnachInkrafttreten sei-
ner nagelneuenVerfassung Präsident
bleibe. Dochkann man eine solcheZu-
mutung natürlich nicht ohne seineZu-
stimmung beschließen.Alsodachten
wiebei einer SéancealleAbgeordne-
tenganzfestanihn,und schon er-
schien Putin mitten unter ihnen,ganz
wieMephisto oderdie bezaubernde
Jeannie. Jetzt muss noch–Russland
istein Rechtsstaatmit Gewalten tei-
lung–das Verfassungsgerichtnicken
und–Russlandist eineDemokratie –
dasVolk. Es bekommtdazu Gelegen-
heit am 22. April, de m150.Geburts-
tagLenins, der ehemalsberühmtesten
MumiederWelt. PurerZufall? Es gibt
einenRoman, da wird ein Einbalsa-
mier ternochnachTausendenvonJah-
renwieder zumLebenerweckt .Der
Abgeordn eten Tereschk owa, die Putin
beschwor, Russlandnicht alleinzulas-
sen,würden wir auch daszutrauen,
ausmehrerenGründen.
Unddanngeistertenatürlichauch
noch DonaldTrumpüber denRasen
desWeißen Hauses.Den Präsidenten
hatoffenbar diePanikerfasst,Corona
könnteihm die Wieder wahl vermas-
seln.Weil eineErhöhung derEinfuhr-
zölle aufdas Virus, das sich einfach
nichterpressen lässt,nicht sgebracht
hätte,wollte Trumpgleich ganz die
Grenzenfür denPersonen- undWa-
renverkehr ausmit Coronaversifften
Gegenden schließen–bis ihm einerzu-
flüsterte, dass diekomplette Einstel-
lung desImportsnichtwirklich eine
gute Ideesei. Blödes Spiel!
ZumGlückfandTrump aber wieder
Prügelknaben,die schuld an allem
sind: Seiner Horrorgeschichtenachha-
bendie (Kontinental-)Europäerdas
Coronavi rusnachAmerikaeinge-
schleppt wiedamals dieKonqui stado-
rendie Syphilis.Undwer sind die bes-
ten, alsoschlimmstenEuropäer?Na-
türlichwir Deutsche! Daswirduns
Trump, der uns ohnehinscho nauf
dem Kiekerhat,nochheimzahlen,
wenn er dochgewinnt. Undnochschei-
nendie Amerikaner denPoltergeist
nichtaustreibenzuwollen,den sievor
vier Jahrenriefen.Trumps Geister-
stundekönntealso durchaus in dieVer-
längerunggehen, in seinemFallaber
wohl eherauf demGolfplatz. bko.


FRAKTUR


I

nZeiten derPandemie müssen sich
die Italiener an vielesgewöhnen,
wasvor zweiWochen nochundenk-
bar schien. Einganzes Land, ein
ganzesVolk steht unter Hausarrest,der
nur für lebensnotwendigeBesorgungen
kurz fristigverlassenwerden darf. Dazu
wirdder katholischenNation Italien auch
nochder geistlicheTrostnur nochauf vir-
tuellemWege zugestanden.Weil Gottes-
dienste seit Mittwochverbotensind, grei-
fenGeistliche auf die elektronischeForm
der Verkündigung zurückund streamen
Gottesdienste und Gebete übersInternet.
AuchPapstFranziskus hattedas Angelus-
GebetamSonntag nicht wiegewohnt am
offenenFensterdes ApostolischenPa-
lastsgesprochen, sonderninder dortigen
Bibliothek,von wo aus die Bilder auf
Großleinwände amPetersplatz übertra-
genwordenwaren. Dorthinwarenaber
nurwenigeGläubigegekommen. Seit Mit-
te der Woche istder Petersplatzgesperrt.
Im BistumRomwirdjedenAbend die
Abendmesse aus dem menschenleeren
Santuario Madonna del Divino Amore
über denkatholischen SenderTV2000 so-
wie über einschlägigekatholische Inter-
netportale übertragen.Keinen virtuellen
Ersatz gibt es für Beisetzungsfeiern. Mehr
als tausend Menschen sind in Italien bis-
her an der durch das Coronavirusverur-
sachtenLungenkrankheitgestorben.Aus
Neapel wurde am MontagvomTod einer
unter Epilepsie leidenden 47 Jahrealten
Frau berichtet,die mit ihrem Bruder und
dessen Kindernineinem Haushaltgelebt
hatte, der sichwegen einer Coronavirus-
Infektion wievorgeschrieben ingemeinsa-
me Quarantänebegeben hatte. DerLeich-
nam derVerstorbenen wurde erst andert-
halbTage spätervonBehördenmitarbei-
tern in Schutzkleidung abgeholt und so-
gleichzum Friedhofgeschafft.Die Fami-
lie durftedie Quarantäne nichtverlassen.
Dassviele Corona-Opfer auf ähnlich
unwürdigeArt und Weise ihreletzte Ruhe
finden, wirdinder Öffentlichkeitkaum
thematisiert. HeftigenStreit gibt es hinge-
genüber die SchließungvonKirchen. Das
BistumRomhatteamDonnerstagabend
verfügt, dassvon Freitag an alle Kirchen
des Hauptstadtbistums bis zum 3. April
zugesperrt bleiben sollten. Bisherwaren
die Kirchen inRomwie auchinanderen
Bistümernungeachtet des allgemeinen
Versammlungsverbots, das auchfür Mess-
feierngilt, wenigstens zumstillen Gebet
geöffnetgewesen, soferndie Gläubigen
dabei den erforderlichen Mindestabstand
voneinem Metervoneinander einhielten.
Die zuständigen Gemeindepfarrerwür-

den für diestrikteEinhaltung der Schlie-
ßungsverfügung sorgen, hattedas Bistum
mitgeteilt.Die harte Entscheidung diene
dem Gemeinwohl, so die Begründung
vonKardinalvikar Angelo De Donatis.
„In diesenZeitenwerden unsereHäuser
mehr als sonstzuHauskirchen.“ DerVor-
gabe des BistumsRomwidersetztesich
am FreitagmorgendemonstrativKurien-
kardinalKonrad Krajewski. DerPäpstli-
cheAlmosenverwalter ,ein engerVertrau-
tervon PapstFranziskus, öffnete seine
TitularkircheSantaMaria Immacolata
all’Esquilino eigenhändig.
„Untervoller Berücksichtigung der Si-
cherheitsnormen istesmein Recht,den
Armen eine offene Kirchezubieten“, sag-
te der Kardinal demvatikanischen Inter-
netportal„VaticanNews“. Sokönnten die
Armen „das Eucharistiesakrament anbe-
ten, das in dieserZeit großer Schwierig-
keiten derganzenWelt Trostgibt“, sagte
Krajewski. DieTitularkirchedes polni-
schenKardinals liegt imStadtteil Esquili-
no nahe dem BahnhofTermini, wo es vie-
le Obdachlose gibt.Ineiner Erklärung
vomFreitagmittag nahm das BistumRom
die allgemeine Schließungsverfügung
dann zurück. Nunsollen die Priesterder
Pfar rkirchen jeweils gemeinsam mit den
Gläubigen über „verantwortungsvolleZu-
gangsmöglichkeiten“ zu den Gotteshäu-
sernentscheiden. Schon in seiner über
das Internetverbreiteten Frühmessevom
Freitag hatteder Papstgesagt, dass„dras-
tische Maßnahmen nicht immer gut“ sei-

en. In diegleicheKerbe hattezuvor schon
der Historikerund Gründer derkatholi-
schen Gemeinschaft„Sant’Egidio“, An-
drea Riccardi,geschlagen. Niemals seien
in der GeschichteItaliens Messen ausge-
setztworden, schrieb Riccardi in einem
Gastbeitrag für dieTageszeitung „Corrie-
re della Sera“vomvergangenen Sonntag.
Gerade in Krisenzeiten sei die Kirche„im-
mer ein wichtiger Bezugspunktgewesen,
wie etwavon1943 bis 1945während der
Zeit der deutschen Besatzung und ange-
sichts dervonden Besatzernverübten Ge-
walttaten“. Riccardiverwies darauf, dass
das Messeverbotbei vielen das Gefühl
der Verlassenheitverstärken würde:„Wir
unterschätzen dieFolgen der Einsamkeit.
WarumMesse undgemeinsames Kirchen-
gebetverbieten, wenn wir diese dochun-
terEinhaltung derhygienischen Sicher-
heitsvorschriftenfeiernkönnten?“
DerMailänder ErzbischofMario Delpi-
ni stieg aufsDachdes für Messengesperr-
tenDoms und sprachvor der goldenen
Statue der Madonna ein Gebet. „Stehe
deinen erschöpftenKindern bei, dieuner-
müdlichumdie Heilung der Krankenrin-
gen, gib ihnen Kraft, Geduld, Güte, Ge-
sundheit undFrieden!“ Das Bild des be-
tenden Erzbischofswar am Donnerstag
auf denTitelseiten mehrerer italienischer
Tageszeitungen zu sehen, nachdem Minis-
terpräsident Giuseppe Contedie Schlie-
ßung allerKaffeebars,Restaurants und
nahezu aller Geschäfte außer Supermärk-
tenund Apothekenverkündethatte.

Geiſterspiele


löw. WIEN. In Österreichsind amFrei-
tagdie Maßnahmen zur Eindämmung
des Coronavirusweiter verschärft wor-
den.Vonnächs terWoche anwerden
alle Geschäfte geschlossen, die nicht
der unmittelbar notwendigenVersor-
gung dienen;geöffnetbleiben Anbieter
unentbehrlicher Produkteund Dienst-
leistungen wie Lebensmittelhändler,
Zeitungskioske, Apotheken und Bankfi-
lialen. Barsund Restaurants müssen
von15Uhr an schließen. DerZug- und
Flugverkehr mit den besondersbelaste-
tenLändernSchweiz, Frankreichund
Spanien wird eingestellt, die Grenzüber-
gängezur Schweizwerden weitgehend
geschlossen, wie es bereits mit Italien
gehandhabt wird.
Diese Schrittesind vorerstauf eine
Wochebefris tet. Zuvorhatte diekonser-
vativ-grüne Regierung unter Bundes-
kanzlerKurz (ÖVP) undVizekanzler
Kogler (Die Grünen) bereits einVer-
sammlungsverbotfür Gruppen über
hundert(im Freien: 500)Personen und
ein Ende des regulären Schulunter-
richts bis Ostern beschlossen. Beson-
dershartwirdder Schnitt für zwei Ge-
biete in Tirol, in denen es viele Corona-
Ansteckungen gegeben hat:das Paz-
nauntal mitTourismusortenwie Ischgl
und Galtür sowieSt.Anton am Arlberg.
14 Tage lang soll dortprinzipiell nie-
mandhinein- oder hinausfahren.Urlau-
ber aus Österreichwie aus demAus-
landkönnen abreisen, sollen sichdann
aber zu Hause in eine zweiwöchigeQua-
rantäne begeben.Kurz versicherte,die
Bewohner würden „selbstverständlich
bestens versorgt“.
Kurz rief die Bevölkerung auf, die
Einschränkungen zumWohl der durch
eine mögliche Ansteckung besonders
gefährdetenMenschen wie Alteund
Krankezuakzeptieren. Sie bedeuteten
„Entschleunigung“ für die einen, für an-
dereaber auchArbeit bis an die Belas-
tungsgrenze, sagteKurzund dankteMe-
dizinernund Pflegern,Polizistenund
Versorgern.„Ab Montag müssen wir un-
ser soziales Leben auf ein Minimumre-
duzieren“, fügteerhinzu.
Bislang sind nachden Angabenvon
GesundheitsministerAnschober (Die
Grünen) 432 Corona-Erkrankungen be-
stätigtworden. DieZahl erscheinege-
ring, dochhabe es in denvergangenen
TagenZuwächse um jeweils vierzig Pro-
zentgegeben. Erverwies auf die italie-
nischeRegion Lombardei, in der die Ge-
sundheitsinfrastruktur zu kollabieren
drohe. Dortsei die Entwicklung zu-
nächstähnlichverlaufen wie bislang in
Österreich, nur mit einem negativen

„Vorsprung“vonzweiWochen. „Wir
wollen eine Entwicklung wie in Italien
mit allen demokratischen Handlungs-
möglichkeiten vermeiden.Unser Ziel
istes, Zeit zugewinnen.“Wann die
Maßnahmen zurückgefahren werden
könnten, hängevon der Beurteilung
der Entwicklung ab, dieständigvorge-
nommenwerde.
Im Gesundheitswesen gibt es eben-
falls Einschränkungen: FürPatienten
in Krankenhäuserngilt generell ein Be-
suchsverbot. So sollverhindertwerden,
dassdas medizinische und pflegende
Personal angestecktwirdund womög-
lichganzeAbteilungengeschlossenwer-
den müssen.Ausnahmen sind Kinder-
undPalliativstationen. DasAußenmi-
nisterium inWien gabeine Reisewar-
nung höchsterStufefür Frankreich, Spa-
nien und die Schweiz aus, wie siewe-
genCorona bereits für Italien, Iran und
Teile Chinas gilt.Österreichischen
Staatsbürgern dortwirddringend emp-
fohlen, zurückzukehren. Wenn keine
Flügeund Zügemehr verkehren, will
das Außenministerium dieRückkehr er-
möglichen.Wasdie Einstellung desVer-
kehrsmit diesenLändernbetrifft, versi-
cherte InnenministerNehammer
(ÖVP),dasrichtesichnichtgegendie-
se, sondernausschließlich „gegen das
Virus“. Maßstabsei die Empfehlung
der Fachleute. GrenznahePendler aus
der oder in die Schweiz sollen–mit ent-
sprechendenNachweisen–weiterhin
die Grenze überquerenkönnen.
Aufder anderen Seitehaben Slowe-
nien, Ungarn,die Slowakeiund die
Tschechische Republik ihrerseits die
Grenze zu Österreichgeschlossen. In
diesen Ländernist die Corona-Ausbrei-
tung nochnicht ganz soweit.InÖster-
reichruftdas vorallem Sorgenwegen
der großenZahl an Altenpflegernaus
diesen Ländernhervor. NachAngaben
des Wiener GesundheitsstadtratsPeter
Hackergeht es um 60 000 24-Stunden-
Pflegekräfte,die nachÖsterreich pen-
deln.Wenn sie nicht mehr ein- und aus-
reisenkönnten, „dann bekommen wir
schlagartig ein Problem, dasgrößer ist
als die Corona-Erkrankungen“, sagte
der SPÖ-Politiker im ORF-Fernsehen.
Die Regierungspolitikerriefen die Be-
völkerung zugleichdazu auf, besonnen
zu bleiben und sichnicht vonfalschen
Nachrichten beunruhigen zu lassen, die
in sozialen Netzenkursierten. Weder
solle die Hauptstadt Wien mit ihren
zwei Millionen Einwohnern„abgerie-
gelt“ werden, nochwerde esAusgangs-
sperrengeben,versicherteKurz.Auch
die Lebensmittelversorgung sei gesi-
chert.

Noch in denvergangenenTagenpilger ten
im KönigreichZehntausendeFans in Fuß-
ballstadien. DieRegierung machtkeine
Vorgaben.Wenn Veranstaltungen abge-
sagtwerden, geschieht das auf Betreiben
der Organisatoren; so setztedie Premier
League dieFußballspiele amFreitag bis
vorerstzum 3. April aus.Auch Universitä-
ten, Schulenund Kindergärten bleibenge-
öffnet, und jeder darfins Land einreisen.
PremierministerBoris Johnson wider-
setzt sichdem globalenTrend zu drasti-
schen Maßnahmen–und beruftsichauf
wissenschaftliche Empfehlungen. Immer
mehr Bürgerbeginnen jedochzufragen:
Wasweiß ihreRegierung,wasRegierun-
geninanderen Hauptstädten nicht wis-
sen? Nicht nur die meistenLänder auf
demKontinent, auchdie Verantwortli-
chen auf derNachbarinsel Irlandversu-
chen, dieAusbreitung des Coronavirus
mit der SchließungvonBildungseinrich-
tungen und demVerbotvon Großveran-
staltungen einzudämmen. Das beliebte
Nachrichtenmagazin „Newsnight“von der
BBC zeigteamDonnerstagabend eine in-
ternationaleVergleichstafel ,auf der Groß-
britannienals einsameAusnahme hervor-
stach.Aber Johnson zeigt sichunbeein-
drucktvonseinerAußenseiterrolle.
Mangelnde Aufklärung,garVerharmlo-
sungkann man ihm nichtvorhalten.Fast
täglichgibt er,flankiertvon seinen bei-
den Fachberatern, Pressekonferenzen, in
denen er auchvor dramatischenAussa-
gennicht zurückschreckt.Als er am Don-
nerstagabend die aktuellenZahlenvor-
stellte–590 offizielle Infektionen, 10 000
geschätzteInfektionen, zehnTote im Kö-
nigreich–,sagteer: „Nochsehr viel mehr
Familienwerden Angehörigevor ihrer
Zeit verlieren.“ Johnson und seine beiden
Berater,der „Chefmediziner“ Professor
Chris Whitty und der obersteWissen-
schaftsbeauftragteder Regierung, der Me-
dizinerPatric kVallance,vertretendie

Haltung, dassdrastische Maßnahmen
zumgegenwärtigenZeitpunktkontrapro-
duktiv wirkenkönnten. Sie fürchten,dass
sie einer „Müdigkeit“Vorschub leisten
und nicht mehr befolgt würden,wenn es,
vielleichtineinigenWochen, am wichtigs-
tensei. „DieVerhaltensforschung zeigt,
dassdie Menschen mit den bestenAbsich-
tenbeginnen, aber der Enthusiasmusvon
einem bestimmten Punkt an abnimmt“,
sagteWhitty,der auf Epidemiologie spe-
zialisiertist. LautVallance hat die emp-
fohlene Selbstisolierung jener,die Sym-
ptome zeigten, die „größteWirkung“ im
Kampfgegen dasVirus. „Amwahrschein-
lichs teninfiziertman sichdurch Familien-
angehörigeund Freunde an einem klei-
nen Ort, nicht an einemgroßen Ort.“Am
Freitag erklärteVallance, es sei davonaus-
zugehen, dassdas Coronavirus zu einem
„jährlichen“ Phänomenwerde. Insofern
sei dieStrategie derRegierung, den Ge-
sundheitsdienstzuentlasten, nicht aber
das Virusvollständig zustoppen.Weil die
überwältigende Mehrheit der Menschen
nur leicht erkranke, sei derAufbau einer
„Herdenimmunität“ wünschenswert. Die-
se sei erreicht,wenn etwa sechzig Prozent
der Bevölkerung infiziertseien. Diesen
Prozessgelteesallerdings in die Längezu
ziehen.
Beide Beratergenießeneinen tadello-
sen Ruf, und niemand zieht ihreQualifi-
kation in Zweifel. Kritiker halten ihnen
und derRegierung allerdingsvor, dasssie
die zahlreichen–sichteilweise widerspre-
chenden–Empfehlungen aus denWissen-
schaftsdisziplinen fragwürdiggewichten.
Kritisiertwird insbesondere, dasssie Ver-
haltensforschernund Modellberechnern
so großes Gewicht beimessen. Am Diens-
tagmischtesichmit RichardHortonein
Schwergewicht in die Debatteein. Der
Chefredakteur der Medizinzeitschrift
„The Lancet“griffdie Regierung inStak-
kato-Sätzen an: „Boris Johnson und Ge-

sundheitsministerMatt Hancockbehaup-
ten, siefolgten derWissenschaft. Aber
das istnicht wahr.Die Beweislageist klar.
Wirbrauchen einerascheUmsetzung so-
zialer Distanzierung und Schließungsre-
geln. DieRegierung spieltRoulett emit
der Öffentlichkeit.“
Hortons Kritik,die vonvielenViro lo-
gengeteilt wird, istauchimpolitischen
Raum angekommen. Der langjährigeGe-
sundheitsministerJeremyHunt, der nach
seinerKandidatur für denParteivorsitz
vonJohnson insAbseitsgeschobenwor-
den war, holteamDonnerstag zum
Schlag aus: Er nanntees„überraschend
und besorgniserregend“, dassdie Regie-
rung Großveranstaltungen nicht untersa-
ge.Großbritannien sei nur vierWochen
vonder aktuellenNotlageinItalien ent-
fernt. „Man sollteannehmen, dassalles,
waswir in diesen vierWochen tun, darauf
gerichtetist,die Verbreitung desViruszu
verlangsamen.“ Druckerhält der Premier-
ministerauchaus demrechtspopulisti-
schen Lager.Nigel Farage hielt Johnson
einen „Mangel anFührungsstärke“vor
und forderte,Flugverbindungen in beson-
dersbetroffene Gebiete einzustellen.
Eher linkseingestellteRegierungskritiker
wiederum unterstellen Johnson, erstelle
mit seiner Herangehensweise dasWohler-
gehen derWirtschaftüber die Gesund-
heit der Bevölkerung.
All dies scheint den Premierminister
nicht anzufechten. SeineRegierungsteht
bislang zu seinemKurs,und vieleKom-
mentatoren loben Johnson für seinkali-
briertesAuftr eten. AmFreitag ließ er ei-
nenRegierungssprecher diewachsende
Kritik mit nüchternenWorten zurückwei-
sen: „Wir folgen den Empfehlungen unse-
reswissenschaftlichen Chefberatersund
des Chefmediziners.Unser Ziel istes, den
Gipfel der Epidemie hinauszuzögern, so
dassder Nationale Gesundheitsdienstmit
sichverbesserndemWetter in einerstärke-
renVerfass ung ist.“

Ein Gebetandie Madonna:Erzbischof Delpini auf dem Mailänder Dom FotoRopi

Der britischeSonde rweg


Johnsonhält nichtsvondrastischen Maßnahmen/Von Jochen Buchsteiner,London


Freitag, der Dreizehnte


ÖsterreichschließtdiemeistenGeschäfte


mic./rso.PARIS/STUTTGART. Frank-
reichist zunehmendirritiertüber die
Grenzkontrollen der Bundespolizei an
der deutsch-französischen Grenze, die
„ohneAbsprache“ eingeführtwurden.
Die zuständigeRegionalpräfektin Josia-
ne Chevalier sagte: „Ichbin vonmeinen
eigenenPolizeibeamtendarüber infor-
miertworden. Diese Methodeist etwas
überraschend.Das Viruskenntkeine
Grenzen“, sagtesie der französischen
Presse. Angesichts der imAachenerVer-
trag beschlossenenbesseren Abstim-
munginden grenznahen Regionen
schaltetesichauchdie französische Bot-
schaftinBerlin ein. In einemKommuni-
quéwurde darauf hingewiesen, dassdie
neueRegion„Grand Est“ (etwa: Großer
Osten) zehn Departements umfasst und
vomElsass bis zur Champagne reicht.
Die französische Botschaftstellte
richtig, dassallein das Departement
Haut-Rhin (Oberrhein)mit Colmar als
Präfektursitz Anlass zu besonderer
Wachsamkeitgebe. In denmeistenande-
renDepartements der Großregion seien
die Infektionsfälle niedriger als im be-
nachbartenBaden-Württemberg. Am
OberrheinsindlautAngabenderBot-
schaftbislang 359 Corona-Infektionen
bekannt, das seien 61 Prozent derFälle
in dergesamtenRegion. DieFälle ge-
hen auf einFastentreffender evangeli-
schenFreikirche„La PorteOuverte“ in
Mulhousevom17. bis 24.Februar zu-
rück. Die Kircheist bis aufweiteresge-
schlossen, aber nicht alle der mehrals
2000 Teilnehmer derFastenwoche konn-
tennachverfolgt werden.
In Baden-Württembergverstarb
schon am 4. Märzein 67 Jahrealter
Mannaus demRems-Murr-Kreis, der
mit seinerFrau an denFastentreffenteil-
genommen hatte. Der Leichnamwar
erst im Nachhinein auf Corona unter-
suchtworden. Seine70JahrealteFrau
wird seiteinerWocheintensivmedizi-
nischbetreut. In Frankreichsind fast
alleRegionenvonden Pfingstchristen-
Fällen betroffen. EtlicheTeilnehmerka-
men auchaus der Schweiz und aus
Deutschland. „Das Krisenmanagement
in dieser Epidemie solltedurch engeKo-
operationsbereitschaftgeprägt sein, be-
sonders imgrenznahen Bereich“, mahn-
te die französische Botschaft.
In Freiburg, in Südbaden und auchin
der baden-württembergischen Landes-

regierung verfolgt man die Entwick-
lung der Corona-Pandemie im Elsass
seit Tagenmit großer Sorge und auchei-
ner gewissen Verärgerung. Angeblich
sei es den französischen Behörden
nichtgelungen,Kontaktevon infizier-
tenPersonen dauerhaftzuverfolgen.
Weil auchinSüdbaden die Sorge
wuchs, dassbei einemweiteren Anstieg
der Zahl der Infiziertendas Gesund-
heitssystem kollabierenkönnte, traten
die Stadt Freiburgund die Landkreise
Breisgau-Hochschwarzwald, Ortenau,
Emmendingen und Lörrach am Freitag
die Flucht nachvornan: „Wir müssen
alles tun, damit wir nicht oder zumin-
destnicht schnell auchRisikogebiet
werden“, sagteStefanBreiter (CDU),
der für öffentliche Ordnung zuständige,
beigeordnete BürgermeisterFreiburgs.
Deshalb entschied man, alleVeran-
staltungen mit mehrals fünfzigTeilneh-
mernzuverbieten. „Wir haben Sorgen,
dassunser Gesundheitssystem an Gren-
zenstößt,wenn wir dasTempo, mit
dem sichdas Virusverbreitet,nicht mi-
nimieren.“ Theater,Bäder und öffentli-
cheEinrichtungen wie Museen und das
Planetarium werden ebenfallsgeschlos-
sen.Fürnoch wichtiger als diese loka-
len Maßnahmen halten diePolitiker in
Südbaden aber die Verstärkung der
Grenzkontrollen auf deutscher Seite.
Die Landrätin für Breisgau-Hoch-
schwarzwald, Dorothea Störr-Ritter
(CDU), sagteineiner Pressekonferenz
am Freitag inFreiburg: „Ichhoffe,dass
nochheutedie amtliche Anweisung
kommt, die Grenzkontrollenweiter aus-
zuweiten.“ Es müsse Gesundheitskon-
trollengeben, und Corona-Verdachtsfäl-
le müssten künftig nachFrankreichzu-
rückgeschicktwerden.
Vorallem amWochenende besuchen
Franzosengern die großen Supermärk-
te in Deutschland. Viele Kommunalpoli-
tiker ärgert,dassdie sonstgerngesehe-
nen Gäste ihr Verhalten trotzder drama-
tischen Lagenicht geänderthätten.
„Alle Bürgermüssen ihr sozialesKon-
taktverhalten prüfen, esgeht nicht mehr
darum, mit einer Salamitaktikaneiner
Schraubezudrehen“, sagteStörr-Ritter.
Nach der Sondersitzung der grün-
schwarzen Landesregierung kündigte
der baden-württembergische Innenmi-
nisterThomas Str obl (CDU)stärkere
Maßnahmen an; eswerdespürbare Ein-
schränkungen im Grenzverkehr geben.

Bet en gegen dasVirus


WieMephisto:gespenstischstill und
leise ZeichnungWilhelm Busch


„DasVirus kennt


keineGrenzen“


Parisist durchnicht abgesprochene Kontrollen


an der deutsch-französischen Grenzeverstimmt


In Italien sind auch


Gottesdienste untersagt


worden.Das Bistum


Romordnete soga rdie


Schließ ungallerKirchen


an. Dochdie P roteste


warenzustark.


VonMatthiasRüb, Rom

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