Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik SAMSTAG, 14.MÄRZ2020·NR.63·SEITE 3


Er habe den ZweitenWeltkriegvonAn-
fang bis Ende mitgekämpftund sei da-
nachinKriegsgefangenschaftgeraten:
Über „Corona“ mache er sichdakeinen
Kopf. Das Gesprächmit einem betagten
Bewohner des Kreszentia-StiftesinMün-
chen, das Geschäftsführer ChristianPoka
wiedergibt, zeigt seiner Meinung nachdie
„relativrelaxteEinstellung“ der Senioren
der Einrichtung beimUmgang mit der Kri-
se. Die Bewohner würden beherzt und be-
sonnen darauf reagieren,große Ängste
hätten diewenigsten.
Trotzdemsteht für ChristianPoka und
seinTeam nicht erst seit diesemFreitag,
an dem die bayerische Gesundheitsminis-
terinMelanie Huml (CSU) „massive“ Ein-
schränkungen der Besuche in Seniorenhei-
men angekündigt hat, der Schutz der ih-
nen anvertrautenMenschen unter beson-
derenVorzeichen. Einschränkungen im
Publikumsverkehr gibt es imStift, in dem
215 Menschen leben, 150vonihnen im
vollstationären Pflegebereich, ohnehin
schon länger:Abgesagt wurden alleTref-
fenmit Kindergartengruppen, gesellige
Zusammenkünfte der Bewohner dürfen
nicht mehr „bereichsübergreifend“statt-
finden, Geburtstagsfeiernsollen im engen
Wohnbereichdurchgeführtund Besuche
generell deutlichreduziert werden.
Gerade erst hat Poka der Kreisverwal-
tung eineAbsagefür die am Sonntag statt-
findende Kommunalwahl erteilt:Das
Stift, bislang immer als Wahllokalge-
nutzt, steht diesmal nicht zurVerfügung.
Auch wenn bis Donnerstag nochüberlegt
wurde, wie man einegrößtmöglicheTren-
nungvonWahlvolk und Bewohner nhinbe-
kommenkann. Die Kreisverwaltung habe,
so Poka,mit Unverständnis auf seine ab-
schlägigeEntscheidung reagiert. „Doch
wir können nicht einerseits die Besucher
auf Abstand halten und dann Hunderte
Wähler in dieNähe vonPflegebedürftigen
bringen.“ Bei der Europawahl hätten die

Wähler schließlichinlangen Schlangen an-
stehen müssen. „Daskönnen wir nichtris-
kieren.“ Esgehe darum, Infektionen nicht
in die Einrichtung „hineinzutragen“.
Schon die Einschränkungen des norma-
len Besuchsverkehrsakzeptieren manche
Angehörigen nicht:Pokaberichtetvon
demTelefonat mit einer erbostenFrau,
diesichbeschwert hatte, weil eine Bekann-
te nicht zu ihrer Mutter ins Zimmer durf-
te.„Sie lassen sie jetzt darein!“, habe sie
ihn angewiesen.Umdie Folgen der Be-
suchsverbote für Angehörigeund voral-
lem Bewohner zu mildern, sollen im Kres-
zentia-Stiftnun Skype-Räume eingerich-
tet und Kopfhörer angeschafft werden.
Im besondersbetroffenen Kreis Heins-
berginNordrhein-Westfa len sind die Pfle-
ge-und Seniorenheime schon seitrund
zweieinhalbWochen damitkonfrontiert,
den Kontakt zwischen Senioren und Ange-
hörigen zureduzieren. „Dabeistoßen wir
auf vielVerständnis“, sagt AndreasWag-
ner,Geschäftsführer desAwo-Kreisver-
bands Heinsberg.„Angehörige, die doch
kommen müssen, halten sichvorbildlich
an die Hygienevorschriften und dasVer-
meidenvonUmarmungen oderKüssen.“
Außerdem habe man Besuchsgelegenhei-
tenimFoyer eingerichtet, damitVerwand-
te nicht in dieWohnbereiche müssten.
Auch dieSenioren selbstzeigtengroßes
Verständnis dafür.„Eine Schwierigkeit
stellt nur derUmgang mit Demenzkran-
kendar.Diese Bewohnerkönnen einfach
aufgrund ihrer Krankheit nichtverstehen,
warumihreAngehörigen oderFreunde im
Momentwenigerkommen. Hier versu-
chen die Mitarbeiter,viel aufzufangen.“
Gerade für Demenzkrankesei es zudem
schwierig bis unmöglich, nun per Skype,
Internetoder Telefon mit ihrenVerwand-
tenzukommunizieren.
In Heinsberghabe das Leben mit der
Ausnahmesituation, die nun erst auf den
Rest Deutschlands zukomme, gelehrt,

„von TagzuTag“ zu entscheiden,sagt
Wagner.Dazu gehörten solcheFragen:
„Wie vielPersonal haben wir heute?Wel-
cheAngebotekönnen wir den Bewohnern
bieten?Wieist die Infektionslage?“ Man-
ches Mal sei das ein „tryand error“. „Aber
bisher haben wir die Lageinunseren Ein-
richtungen gut im Griff. Man mussdie
richtigeMischung zwischen Rücksicht
und Verantwortungfinden.“
Die Corona-Krisestellt, sogravierend
sie ist, Bewohner undVerantwortliche in
Seniorenheimen und Pflegedienstenvor
keine gänzlichneue Situation.Noroviren
oder die jährlichen Grippewellen verlang-
tenimmer schon einen besonderenUm-
gang mit Hygiene und Infektketten. Jetzt
werden dieseVorkehrungen nocheinmal
verschärft.ImKreszentia-Stiftheißt das:
Die Abstände zwischen denReinigungen
werden verkürzt, Bewohner,die Erkäl-
tungszeichen zeigen,werden immervon
demselbenPersonalversorgt, das entspre-
chende Schutzmaskenträgt.
FürPanik gibt es also zunächstkeinen
Grund, das sieht auchder bayerische Lan-
desverband desParitätischenWohlfahrts-
verbands so. Es gibtNotfallpläne; Pfleger,
die in Risikogebietenwaren, bleiben zu
Hause. Auchinfizierte Patientenkönnen
in den Pflegeheimen bisher gutversorgt
werden, wie eine Sprecherin mitteilt.In
manchenKommunenwerden zudem Ein-
kaufshilfen undFahrdienste organisiert,
das „Essen aufRädern“ wirddabeivorder
Haustür abgesetzt.Schwieriger istnach
AngabenvonHilfseinrichtungen die Pfle-
ge im häuslichen Bereich. Hier hätten die
älteren Menschen ofteher Angstvor einer
Infektion, fühlten sichaufgrund vermin-
derterSozialkontakte einsam und fragten
sichbesorgt, ob ihreVersorgung auchwei-
terhin gesichertsei. Allerdings gilt auch
dortdie Lagenochnicht als „angespannt“.
Die Angst vorder Einsamkeit treibe vie-
le älter eMenschen nunverstärkt um, be-

richtetaucheine Sprecherin des Kreisver-
bandes München des BayerischenRoten
Kreuzes. Das BayerischeRote Kreuz unter-
hält zahlreiche„Alten- und Service-Zen-
tren“, die Senioren mit Beratungsangebo-
tenund vielfältigemKursprogramm zur
Seitestehen. Dortherrschenachwie vor
eine „ruhigeGrundstimmung“.Kurse wie
Gedächtnistraining oder Gymnastikübun-
genwerdenweiterhin angeboten.„Wir be-
merkenauchkeinen Besucherrückgang.“
Auch innerhalb der Gruppe der „Älte-
ren“, die nun als besondersschutzbedürf-
tig gelten, gibt es mehr undweniger Ge-
fährde te.NachEinschätzungvonProfes-
sor Hans JürgenHeppner,Präsident d er
Deutschen Gesellschaftfür Geriatrie
(DGG) sowie Chefarzt der Klinik für Ge-
riatrie am Helios Klinikum Schwelm, sind
vorallemPersonenüber 70 Jahrenmit
drei und mehrVorerk rankungengefähr-
det. „Wir sprechen dannvonmultimorbi-
denPatienten. Diese müssen jetzt wirk-
lichaufpassen.“
Füralle anderen über 60 Jahregelte,
mit klugemKopf an die Sache heranzuge-
hen.„Wenn Enkel nicht in Risikogebieten
waren, niemand in der Umgebung er-
krankt istund die Kinder selbstgesund
sind, dann dürfensie natürlichihrerüsti-
genGroßelternbesuchen. Es mussja
nicht unbedingt dasKüsschen zur Begrü-
ßung sein. Sonstsehe ichdaaber kein Pro-
blem.“ Die allermeisten Deutschen wür-
den in denkommenden Monaten ohnehin
vondem Virusdurchseuchtwerden. Auch
älter eMenschen. „Das lässt sichnicht ver-
hindern. Esgeht medizinischeinfachdar-
um, dassman die MengeanschwererEr-
krankten nicht inwenigenWochen hat,
sondernüber mehrereMonate“, sagt
Heppner.Älteren Menschen ohnerelevan-
te Vorerk rankungen rät Heppner,inden
kommenden Monaten „einfacheinen
Schritt langsamer“ zu machen. Sie sollten
sichfragen: Mussdie Geburtstagsfeier

oder der Seniorentreffnun wirklichsein?
Wenn alle ab neun Uhr einkaufengehen,
kann ichdann nicht schon um sieben Uhr
gehen?„Wenn alle das machen und die
Hygienevorschriften beachten, dannwer-
den wir dieWelle gut überstehen.“
UmdieserWelle, die man so bislang
nochnicht erlebt habe, zu begegnen, setzt
ChristianPoka in München auf „gesunden
Menschenverstand“.Undauf dierichtige
Expertise. Angesichts dergestiegenen An-
forderungen an die Hygiene freut sich
Pokadaherbesondersdarüber,dasszusei-
nemTeam aucheine „staatlichgeprüfte
Desinfektorin“gehört. Als positiv sieht er

auchdie Erfahrungswerte des Reinigungs-
dienstes im Kreszentia-Stift, da dieser
Dienstleister auchinden Räumen derFir-
ma Webasto tätigtwar, wo in Deutschland
im Januar die ersten Corona-Fälle aufge-
treten waren. Um den Hygiene-Vorschrif-
tenzugenügen, istzudem dieAusstattung
mit Schutzkleidung und Desinfektionsmit-
teln entscheidend–eine Situation, in der
Seniorenheime und Pflegedienste nun, an-
dersals bei einem lokal begrenztenNoro-
virus-Ausbruchineiner Einrichtung, in
Konkurrenz mit demganzen Landstehen.
Das Kreszentia-Stiftist für drei bis vier
Wochen nochgut versorgt mit Schutzklei-
dung und Masken, Bestellungen fürNach-
lieferungen sind aufgegeben. „Dann muss
man sehen.“

Auch in Heinsbergsind die Vorräte
nochgefüllt.„Desinfektionsmittel oder
Hygieneprodukte, auchMasken sind bis-
her kein Problem.Noch gibt eskeine Eng-
pässe für uns, höchstens müssen wir mal
auf eine andereFirma zurückgreifen“,
sagt Wagner.Ein Problem sei jedoch, dass
vieleFirmen ihreMitarbeiter nicht mehr
in den Kreis Heinsbergschickten. „Unter
anderem stehen wirvordem Problem,
dasszum Beispiel wichtigemedizinische
Produkteund Gerätenicht mehrgewartet
werden“, sagtWagner.
Entscheidend für den Schutz und die
Pflegeder Senioren in Heimen oder auch
durch mobile Dienste wirdjedoch einwei-
tererEngpasssein: Nachdem nun in Bay-
ernund in anderen Bundesländerndie
Schulen und Kindertagesstättengeschlos-
sen werden, müssen Pflegekräfte die Be-
treuungihrer Kinder organisieren.Wäh-
rend in manchen Berufen die Kinder mit
ins Bürokommenkönnen, gibt es diese
Option für Seniorenheime oder Kranken-
häuser wegender besonderen Gefähr-
dung der Bewohner und Patienten nicht.
So wiesauchder bayerische Ministerpräsi-
dent MarkusSöder amFreitag darauf hin,
dass„Oma und Opa“ die Betreuung der
Kindergerade nicht übernehmen sollten.
In Bayern wird nunüberlegt, ob die Kin-
der vonEltern, bei denen Mutter oderVa-
terin„syste mkritischen Berufen“ arbeiten
und die nichtvomanderen Elternteil be-
treutwerden können, trotzdemstunden-
weise in Kitas oder Schulen untergebracht
werden. „DieFrage, ob wirweiter genug
Personalstellenkönnen, sei es,weil Mitar-
beiter selbstkrank sind oder ihreKinder
betreuen müssen, dieseFragebeschäftigt
michschon sehr“, sagtWagner. Dafür müs-
se man im Krisenstab Lösungenfinden,
etwa dassKindervonEltern, die in der
Pflegeund der Medizin arbeiten, zumin-
destindie Kindergärten und Schulen zu ei-
ner Betreuunggehen können.

Ereignisse und Gestalten
Im März1970 reistBundeskanzler
WillyBrandt zum ersten deutsch-
deutschen GipfeltreffennachErfurt.
Eine harte Prob e–auchfür den BND.

W


ohin mit den Kindern? Die-
se Fragewirdviele berufstä-
tigeoder alleinerziehende
Elterninallen Bundeslän-
dernumtreiben, die nichtvonzuHause
aus arbeitenkönnen. Besondersbetroffen
sind im öffentlichen Dienstwie bei derPo-
lizei oder in Krankenhäusernund ande-
renmedizinischen oder Pflegeeinrichtun-
genBeschäftigte. Daher sindKultusminis-
terund Ministerpräsidenten bishervor
dem einschneidenden Schritt der Schul-
und Kindergartenschließungen zurückge-
schreckt.Denn sie wissen, dassMillionen
vonKinder und deren Elternauf Betreu-
ung angewiesen sind. Undsie wissen
auch, dassSchulschließungenwegenemp-
findlicher Leistungseinbußenkeine Dau-
erlösung sind und nur einmalverfügt wer-
den können. Angesichts der sprunghaften
Ausbreitung des Coronavirus hattesich
als erstes vonneun Länderndas Saarland
in derNachtzum Freitag für einegenerel-
le Schließung aller Schulen und Kinderta-
gesstätten entschieden.
MinisterpräsidentTobias Hans (CDU)
hattedie Entscheidung mit der direkten
Nähe zu denNachbarländernFrankreich
undLuxemburgbegründet. EineNotbe-
treuung fürFamilienwerdesichergestellt.
„Es braucht jetzt Entscheidungen mit kla-
remKopf,die unweigerlichaucheine Ein-
schränkung des öffentlichen Lebens mit
sichbringen“, sagteHans weiter .Auf das
Saarlandfolgten Bayern,Niedersachsen,
Berlin, Hamburg,Bremen, Schleswig-Hol-
stein, Nordrhein-Westfa len, Rheinland-
Pfalz und Baden-Württemberg, Branden-
burgund Thüringen. AmFreitagabendga-
ben auchSachsen und Sachsen-Anhalt
SchulschließungenvonMontag an be-
kannt.Die Kindertagesstätten bleiben in
Sachsen abergeöffnet. Den Elternwird
freigestellt, ob sie ihreKinder dorthin
schicken. In den meistenanderen Län-
dernmüssen Kindergarten- und Schulkin-
der vonMontag, Dienstagoder Mittwoch
an zu Hause bleiben. An hessischen Schu-
len giltvonMontag ankeine Unterrichts-
verpflichtung mehr.Die Schulen blieben
abergeöffnet, sagteHessens Ministerprä-
sidentVolker Bouffier (CDU).
Der bayerische Ministerpräsident Mar-
kusSöder (CSU)kündigtean, dassvon
Montag an in Bayern ausnahmslos alle
Schulen, Kindergärten und Kindertages-
stättengeschlossen bleiben und erwartet
einegenerelle Schulschließung in allen
Ländern. Die bayerische Anordnung soll
vorläufig bis zum Ende der Osterferien
am 20. Aprilgelten; dann soll es eine Be-
standsaufnahmegeben.Wieder bayeri-
sche KultusministerMichael Piazolo
(Freie Wähler) mitteilte, soll für diejeni-
genSchüler der Klassen eins bis sechs
eineNotfallbetreuung an den Schulen ein-
gerichtetwerden,vondenen beide Eltern-

teile oder,imFall vonAlleinerziehenden,
das eine Elternteil in „systemkritischen
Berufen“tätig sind. Söder hob hervor,
dasskein SchülerNachteileerleiden sol-
le, etwa,was das Abitur betrifft.Das solle
nichtverschobenwerden, kündigtePiazo-
lo an.
AmFreitag beschlossauchdas nord-
rhein-westfälischeKabinett in einer Son-
dersitzung, dassauchimbevölkerungs-
reichs tenBundesland am Montag sämtli-
cheSchulenvorsorglichgeschlossenwer-
den. Am Montag und Dienstagwerden zu-
nächstnochLehrer für eineNotbetreu-
ung zurVerfügungstehen.Für Kinderta-
gesstätten giltvonMontag an ein Betre-
tungsverbot. „Die Elternsind verpflich-
tet, ihreAufgabe zur Erziehung der Kin-
der wahrzunehmen“, sagteMinisterpräsi-
dent Armin Laschet(CDU) amFreitag.
Es geltenun unbedingt, ältereund schwä-
chereMenschenvorder heimtückischen
Bedrohung zu schützen, da dasVirusfür
sie besondersgefährlichsei. Deshalb
warnte der Ministerpräsident eindring-
lichdavor,Kinder zu den Großelternzur
Betreuung zugeben. „Mir istbewusst,
dassdiese Distanzierung einer jedenFa-
milie, die DistanzierungvonEnkeln und
ihren Großeltern, das die jedes Herzbe-
schwert.“
Nordrhein-Westfalen hattebisherzuje-
nen Bundesländerngezählt, derenRegie-
rungen Schulschließungen skeptischsa-
hen. Immer wieder hatten Ministerpräsi-
dent Laschetund mehrereseiner Minister

darauf hingewiesen, dassdie Schulen
auchdeshalb ihren Betrieb nicht einstel-
len sollten,weil sonstauchdie Kinder des
medizinischenPersonals nicht mehr be-
treutwärenundderinZeitenderKrise
ohnehin schon am Limit laufende Klinik-
betriebgefährdetwäre. AmFreitag sagte
Laschetnun, eswerdefür einenTeil der
Kinder weiter Betreuung geben. Und
zwar für jenevonÄrzten, Pflegepersonal

und allen Eltern, „die in den Bereichen
der öffentlichen Ordnung oder anderer
wichtiger Infrastruktur arbeiten“.
Der baden-württembergische Minister-
präsidentWinfried Kretschmann (Grüne)
sprachnacheinerSondersitzung seines
Kabinetts am Freitagmittagvon einer
„Ausnahmesituation“,die man bisher
nicht erlebt habe.Um eine„Überlastung
des Gesundheitssystems“ zuverhindern,
habe man die flächendeckende Schlie-
ßung der Schulen beschlossen, um „Sozial-
kontakteund das öffentliche Leben“einzu-
schränken. Kretschmann sprach vonei-
nem „Strategiewechsel“ auf wissenschaftli-
cher Grundlage.„Vor ein paarTagenhatte
sichdas Robert-Koch-Institut nochgegen
präventiveSchulschließungen ausgespro-

chen.“Konkret bedeutet dieser Strategie-
wechsel: Die Osterferien beginnendrei
Wochen früher.Anstaatlichen und priva-
tenSchulen wirdvom kommenden Diens-
tagankein Unterricht mehrstattfinden.
Die Verord nunggilt für alleSchulenaus-
nahmslos, auchKindergärten und Kinder-
tagesstätten werden geschlossen.Die
Osterferien enden am 19. April.
Über eineweitereVerlängerungsollab-
hängigvonder Entwicklung der Infekti-
ons-und Krankenzahlen entschiedenwer-
den. KultusministerinSusanne Eisen-
mann (CDU) und Gesundheitsminister
ManfredLucha(Grüne) hatten sichnach
der Sitzung derKultusministerkonferenz
telefonischverständigt, dassesangesichts
der dynamischen Lageentwicklungkeine
anderen Möglichkeiten mehr gibt, um
eineweiter eAusbreitung des Viruszuver-
hindern. Aufgrund vonCorona-Ver-
dachtsfällenwarenschon in dervergange-
nen Wocheetwa20Schulen zeitweisege-
schlossenworden. Am MittwochhatteEi-
senmann einegenerelle Schließung noch
abgelehnt.AmDonnerstag warman sich
dann einig, dassnur auf dieseWeise das
Gesundheitssystem entlastetwerdenkön-
ne. Vondem Schulausfall sind 1,5 Millio-
nen Schüler,140 000 Lehrer,400 000
Kita-Kinder,90000 Betreuer sowie 6300
Tagesmütter und dierund 18 000vonih-
nen betreuten Kinder betroffen. Es soll in
jedemFall sichergestellt werden, dassdie
AbschlussjahrgängeihrePrüfungen ma-
chen können. Ob man später Lerngrup-

pen zulassen wirdoder ob die Prüfungen
verschobenwerden, soll nochentschie-
den werden. Verschobenwerden müssen
die Deutsch-Prüfungen in den berufli-
chen Gymnasien,weil sievorOsternter-
miniertwaren. „Es sind drastische Maß-
nahmen, flächendeckende Schulschlie-
ßungen sind das letzte Instrument.Wir
werden aber alleAbschlüssegewährleis-
ten“, sagteEisenmann.
Für KindervonÄrzten, Polizisten, Feu-
erwehrleuten, Krankenpfleger nund ande-
rerPersonen, die für dieAufrechterhal-
tung der Infrastruktur wichtig sind, sollen
die Kommunen eine Betreuung organisie-
ren. Eisenmann sagte, man handle im
„Stundenrhythmus“. „Kaum habe ichet-
wasgesagt“, sagteGesundheitsminister
Lucha, „schon haben wir wieder eine
neue Situation.Wirmüssen schneller
sein als dasVirusund vordie Lagekom-
men.Wiralle müssen unseresozialen Ak-
tivitäten um fünfzig Prozent drosseln.“ Er
empfahl, Bücher zu lesen und in kleinen
Gruppen Spaziergängezumachen.
Berlin wirdden SchulbetriebvonMon-
taganschrittweise einstellen und beginnt
mit den Oberstufenzentren, in denkom-
mendenTagensollen alleweiteren Schul-
artenfolgen. Auchder öf fentlicheNahver-
kehr soll in der Hauptstadt auf ein unbe-
dingt erforderliches Mindestmaß redu-
ziertwerden. Niedersachsen wirdeben-
falls vonMontag an seine Schulen schlie-
ßen.NachzweiWochen ohne Schulbe-
trieb beginnen dortam30. Märznahtlos
zweiWochen Osterferien.
Schulen undKindergärtenwerden auch
in Rheinland-Pfalz bis zum Beginnder
Osterferien am 17. Aprilfür einenregulä-
renBetrieb geschlossen.Eine Notbetreu-
ungwirdvor Ortermögli cht. Die vonMon-
tagangeplantenPrüfungen für das mündli-
cheAbiturwerden erst in derWochevom
23.Märzstattfinden. ZwölfSchulenwaren
in dem Land ohnehin schongeschlossen.
Da sichdie Anzahl der Infektionenbinnen
24 Stundenverdoppelt hatte,entschloss
sich auchMainz zu denSchulschließungen.

D

er Präsident desRobert-Koch-
Instituts, LotharWieler,hält
Schulschließungen für ein pro-
bates Mittel, stellt aber zu-
gleichfest, dasssichdas Virusnicht auf-
halten, nur dessenAusbreitungverlangsa-
men lasse.Wielerrechnetmit 50 Millio-
nen InfizierteninDeutschland, also 60
bis 70 Prozent der Bevölkerung.Vier von
fünf InfizierteninDeutschland wiesen
eine leichteSymptomatik auf, wieWieler
am FreitagmorgeninBerlin sagte. Diese
Patienten seien anschließendgegendas
Coronavirus immun. Allerdingsgebe es
auchschwere Verläufe. Etwafünf Prozent
der Infiziertenmüssten beatmetwerden.
Der HallenserVirologeAlexanderKe-
kulé hält einebundesweite Schließung
vonSchulen und Kindergärten für „alter-
nativlos“. „DieFrage istnur,obwir es heu-
te machen oder erst in ein paarWochen“,
sagteKekulé.ImFalleeines weiterenVer-
zugs drohe eine „Infektionslawine“.Ein
unerkannt infiziertesKind stecke statis-
tischzweibis dreiweitereMenschen pro
Wochean. Das bedeutet eineVerdreifa-
chung der Infizierten in einerWoche.
Der BerlinerViro logeChristian Dros-
ten, der wieWieler bei den Beratungen
der Ministerpräsidenten im Bundeskanz-

leramt am Donnerstagabend zugegen
war, hält einen„Veranstaltungsstopp und
Schulschließungen inKombination“ für
„extrem effizient,vorallem dann,wenn
man das mehr als vierWochen durch-
hält“. Je früher dasgeschehe, desto bes-
ser.Schulschließungenkönnen aus Sicht
vonDrosten nur zu Anfang einerPande-
miewelle Erfolg haben.
Der Bundeselternrat hatUnterstützung
für d ie Elternbei derKinderbetreuungge-
fordert. „Hierbei musseine Prioritätenlis-
te erstelltwerden,welche Berufsgruppen
vorrangig Anspruch haben, um das öffent-
liche Leben und dieVersorgung aufrecht-
zuerhalten“, hieß es in einerStellungnah-
me des Bundeselternrats.„Wir alle müs-
sen in dieser schwierigen Phaseunsere
Einzelinteressen zumWohle unserer Ge-
sellschaftzurückstellen“. In vielen Län-
dernwirdeine Notbetreuung angeboten.

D

ie LandesregierungvonMeck-
lenburg-Vorpommernkündig-
te an, vonMontag an nur die
Schulen und Kindergärten in
Rostockund im LandkreisLudwigslust-
Parchim zu schließen. In Hessenwarzu-
nächstnur die SchließungvonKitas im
Rheingau-Taunus-Kreisgeplant. Am spä-
tenNachmittag wurde dann aber die
Schließung aller Schulen und Kinderta-
gesstätten bekanntgegeben. Brandenburg
wirdseine SchulenvonMittwochnächs-
terWoche an schließen.
Nach den Ankündigungen mehrerer
Bundesländer schließt auchThüringen
vomkommenden Dienstagbis zum Ende
der Osterferien am 19. April alle Schulen
und Kindergärten. Zudemwerdeesstren-
gere Auflagen fürVeranstaltungengeben,
teiltedas thüringische Ministerium für Ar-
beit ,Soziales,Gesundheit,Frauen undFa-
milie amFreitagnachmittag mit.
BundesfamilienministerinFranziska
Giffey(SPD) mahnte, die Schließungvon
Kitas und Schulen dürfe nicht dazu füh-
ren, dassgenau die Menschenfehlten, die
dringend in Kliniken, in der Pflegeund in
Arztpraxengebraucht würden oder die
mit ihrer Arbeit dafür sorgen, die unbe-
dingt nötigeInfrastruktur im Land am
Laufen zu halten.Auchdafür müssten
Wege gefundenwerden. Inwieferneine
Notbetreuung angebotenwerdenkönne,
wäre vonLändern und Kommunen zu klä-
ren. „Die SPD-Bundestagsfraktion be-
grüßt das Engagement der Länder,für be-
sondereGruppen wie medizinischesPer-
sonal eineNotbetreuung sicherzustellen.
In einer schwierigen Lagesind allege-
meinsamgefordert, flexible Lösungen zu
finden“, sagteder Sprecher derAG Bil-
dungund Forschung der SPD-Bundestags-
fraktion, OliverKaczmarek.
BundesbildungsministerinAnja Kar-
liczek (CDU)kündigte an, dassBafög-Ge-
förderte in Schulen und Hochschulenihre
Ausbildungsförderung weiter erhalten,
auchwenn Schulenund Hochschulenwe-
gender Covid-19-Pandemiegeschlossen
sind. Niemand müsse sichwegen der Coro-
na-PandemieumseineFörderung Sorgen
machen. Deshalb habe sie durch einen Er-
lassklarstell en lassen, dassdie Bafög-För-
derung im bisherigenUmfang weiter zuge-
währen ist. Auchwenn die Schließzeit am
Anfang des Semestersliege. Geförderte
hättenwegen der Corona-Pandemiekeine
finanziellenNachteile zu erwarten.

Die Angstvor derEinsamkeit in Zeitender Seuche


Seniorenheimeund Pflegedienstestehen nunvor großenHerausforderungen/VonKarin Truscheit, München,und LuciaSchmidt ,Frankfurt


Am Montag


VonReiner Burger, Timo
Frasch, HeikeSchmoll
undRüdiger Soldt

Folgenschwerer Strategiewechsel


Die Schulschließung in


fast allen Bundesländern


führ tzuneuen


Problemen–und


gefährdetdie Großeltern.

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