Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

SEITEC2·14. MÄRZ 2020·NR.63 Beruf und Chance FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Der Chef oder die
Chefin haben keine
Allüren, sondernblanke
Aggression. Er oder sie pol-
tern durch den Arbeitsalltag und
raunzen jeden an, der sichbei drei nicht in
sein Büroverzogen hat.Inder Psycholo-
gie gibt es dafür einen noblen Begriff:
mangelnde Affektkontrolle. Dabei erle-
ben die meisten Menschen hin und wieder
Situationen, die sie zurWeißglut bringen.
Der Unterschied istnur:Wer kultiviertist,
hat sichund seineWutgefühle unterKon-
trolle undversucht, sichsachlichzur Wehr
zu setzen. Leiderist diese Eigenschaftkei-
ne zwingendeVoraussetzung, um in eine
Führungsposition zugelangen.
Wasalso istzutun?Zeit gewinnen und
aufdie Meta-Ebenegehen. „Ichsehe, Sie
sindgerade sehr aufgebracht,ich schlage
vor, späterweiterzureden,umzueiner
Lösung zukommen. Istdas möglich?“
Wersich einen solchen Satz fürberufli-
cheNotfälle fest vornimmt, derspricht
ihn auchineinerStres ssituationaus. Die
Berliner Psychologin BrigitteScheidt rät:
„InSituationen,in denen ichniederge-
machtwerde, gilt es, sich zu schützen,
zumBeispiel, indem ichinnerlichoder
auch real ausder Situationgehe: Ent-
schuldigen Sie, ichmussjetzt kurz den
Raum verlassen. Das dannohneTüren-
schlagen tun, um durchzuatmenund ei-
nenklarenKopf zu bekommen.“
Allerdings sei einkurzer Rückzug nicht
immer ratsam und abhängigvonder Hier-
archieimUnte rnehmen. „Man mussüber-
legen, beiwemman wasmacht“, sagt die
Karriereberaterin. Zu benennen,was ist,
helfeinder Regel: „Darfich fragen,was
Sie gerade so ärgert?“ Dennwerfragt,
führt. Die Psychotherapeutin empfiehlt:
„Ichbleibe sachlich, möglichstrespekt-
voll, biete das Gesprächanund versuche,
es vonder starkenEmotionalität auf eine
Sachebene zu führen.“
Der Münchener SozialpsychologeDie-
terFreyrät, während desWutan falls in De-
ckung und innerlichauf Distanz zugehen.
„Machen Sie sichklar,dassder andereein
armerKerl ist. Solche Gedanken helfen“,
erklärtder Professor.Ein Klassiker aus
demVerhaltenstraining:Vordem geisti-
genAugeeinen Betonring ziehen, sich
mental abschottenvorsoviel Bosheit.Das
hörtsichanwie aus dem Esoterik-Baukas-
ten, funktioniertaber.
Allein schondeshalb,weil derAtta-
ckierte sichauf etwaskonzentriertund
seinenFokusverlager t. Soetwaskann
freche Chefsverunsichern. Grundsätz-
lich istesnicht ratsam zurückzubrüllen.
Denn auchwenn der Blutdruckhoch-
schießtund derGeschmähte innerlich
vorZornüber Verbalinjurien kocht,
wirktessouveräner, nachaußen die
Ruhe zu bewahren.Wer schreit, derhat
beileibe nicht immerunrecht,aber er
wirktzumindest häufig so.
Flegel inszenieren ihreAttackengerne
vorPublikum undkommen sichdann hel-
denhaft-chefmäßigvor. Auch hier hilft
eine klareAnsage: In diesemTonnicht
und nicht in diesemRahmen! Es istrat-
sam, das zunächstimEinzelgesprächklar
zu formulieren, sagt BrigitteScheidt: „Ich
bin offenfür Kritik,aber ichmöcht emich
so nicht behandeln lassen. Icherlebe das
Zusammenschreien als nichtrespektvoll.
Das macht es mir schwer,noch mehrEn-
gagement in die Arbeit zustecken.“
Das istfür Akademiker aufAugenhöhe
praktikabel, aber nichts,wasdem gede-
mütigten Einzelhandelsazubiweiterhilft,

wenn derAusbilder ihnvorder Kund-
schaftherunterputzt.Mit dieser Situation
haben schon Schülertagtäglichzutun,
auchinZeiten, in denen Prügelpädagogik
verachtetwird. In so gut wie jedem Leh-
rerkollegium gibt es schwierige, angstein-
flößendeCharaktere.KollegeT., dervor
zweieinhalb JahrzehntenimSchwäbi-
schen die Schulbankgedrückt hat, berich-
tetvoneinemLateinlehrer,derlobtezu-
nächstdie Sprachkenntnisse der Klassen-
bestenund rief dann süffisant auf: „Jetzt
hören wir uns mal denStottereran.“
Oder der Mathelehreraus dem Rhein-
land, der diejenigen, die schon der niede-
renMathematikwenig abgewinnenkonn-
ten, brüllend beleidigte,weil sie es „nicht
wert sind, dieselbeLuft wie ichzuat-
men“. Heutewirddas kopfschüttelnd und
einigermaßen abgeklärterzählt, mitleidig
wirdvon narzisstischerPersönlichkeits-
störunggesprochen.Damals duckten sich
die verängstigten Kinderweg, weil ihr
„Chef“ ausrastete .Auchder eingeschüch-
terteKlassensprecher–wer mag es ihm
verdenken–protestierte nicht.Gut, wenn

dieseverunsichertenKinderwenigstens
vonder Familie aufgefangen wurden.
Noch besser,wenn siegewagt hätten, sich
gemeinschaftlichgegen solcheTyrannen
und ihreEruptionen zurWehr zu setzen
oder einenverständnisvollen Lehrer ins
Vertrauenzuziehen.

Polter tder Chefständig, oder ist
nur gerade unter Druck?

Dennwerfrüh lernt, sichgegen himmel-
schreiendeUngerechtigkeit auchmit Hil-
fe vonanderen zustemmen, demfällt das
im Erwachsenenleben leichter.Solche
Mutprobengegenjähzornige,grenzverlet-
zendeRumpelstilzchen-Typen sind selbst-
verstärkend.Wersichwehrt, besiegt sein
Ohnmachts gefühl undstärkt einestarke
Ausstrahlung–esgibt selbstbewusst auf-
tretende Menschen mit einer ArtTeflon-
Abwehr,die das Gegenteilvonsichdu-
ckenden Opfertypenverkörpern.Weres
sportlichsehenkann: tobsüchtigeChefs
immunisieren fürsLeben. In beruflichen
Konstellationengenau hinzuschauen bie-

tetVorteile: Istder Chef jemand, derstän-
dig lospoltert, odersteht der aktuell unter
Druck, und seinexplosiverAusras terwar
eineAusnahme? „Istder ansonstenganz
okay,bietetsichein Gesprächan“, sagt
Psychologin Scheidt. „Es istimmer gut,
zu schauen,wie Kollegen mit dem jeweili-
genaufbrausenden Chef umgehen. Gibt
es welche, die es nicht trifft,was machen
die anders?“
Wererkennt,wasfür ein Cheftypvor
ihm steht, kann sichdarauf einstellen, so-
langeersichnichtgrundsätzlichverbie-
genmuss: Will derVorgesetzteknappe La-
geberichte, istervon ausführlichen Erklä-
rungengenervt? Werdas durchschaut
und entsprechend bedient,verbiegt sich
nicht und arbeitet angenehmer.„Was
braucht der,damit ichmehr Freiraum und
Möglichkeiten habe?“ Das sei eineÜber-
legungwert,rät Scheidt. „Launenhaftig-
keit und Primadonnengibt es leider in al-
len Bereichen und in derenFolgeauch
Leute, die die Sekretärin fragen:Wieist
er denn heute drauf?“ Lasse sichdas Ge-
sprächaneinem schlechtenTagnicht ver-

meiden, helfeesnachzufragen: Ichhabe
ein Anliegen, sind Sie heuteoffen dafür?
Sind dieAusras terhingegenStandard, sei
eine andereStrategie angeraten. „Dann
wende ichmichanden nächstenVorge-
setzten oder ziehe einen Mediatoren hin-
zu, den mancheUnternehmen anbieten“,
sagtScheidt.Eskann auchhelfen,den Be-
triebsrat einzuschalten.

Manchmal hilftnur noch,
die Stelle zuwechseln

Herrdes Verfahrens bleiben, nicht in der
Opferrolle oder der des Beobachtersver-
harren, dasrätauchPsychologeFrey.
„Das Allerwichtigste ist, dassman ein
Netzwerkbildet, um solchenFührungs-
personenEinhalt zugebieten.“ Wenn es
anderen auchsogehe,geltees, gemein-
samStärke zu demonstrieren und anzu-
deuten: Chef, mäßigedich, sonstbricht
hier demnächstdie Palastr evolutionaus!
SichVerbündete zu suchen hat nochei-
nen anderen, nicht zu unterschätzenden
Grund, betont Frey.„Es istverheerend,
wenn solche Choleriker möglicherweise
zu Vorbildernfür den Führungsnach-
wuchswerden.“ Sichdas Lebenvonei-
nem Choleriker schwermachen zu lassen,
lehnt derWissenschaftler energischab.
„Man mussihn isolieren.Undman muss
selbstbewusst rüberbringen, dassbe-
stimmteDingeeinfachvollkommenindis-
kutabel sind.“
Einfachist das nicht.„AnfällevonTob-
sucht auf derTop-Management-Ebene sei-
en nicht selten, beobachtet Therapeutin
Scheidt. „Daskann System haben. Es gibt
Menschen, die ihreAutorität darüber aus-
leben, dassalle, auchgestandene Mana-
ger, Angstvor ihnen haben. Das sind Leu-
te,die oftsehr charmant und freundlich
sein könnenvorFremden beziehungswei-
se zu denen,vondenen siewaswollen,
etwa Kunden oder Vorgesetzte. Kritik
und Widerspruchvon Untergebenen erle-
ben sie oftals In-Frage-Stellung ihrerPer-
son undRolle, wasnicht sein darf.“ Be-
trof fene können im ExtremfallgegenBe-
leidigungen juristischvorgehen, „die ei-
gentlicheFragelautet:Welchen persönli-
chen Preis bin ichbereit zu zahlen?“
Wasaber tun bei Sadisten, die sichdar-
an ergötzen, andereherunterzumachen?
Niemand heilt einen solchen Charakter
mit antrainiertenStandardsätzen. Isteine
Situation soverfahren, istesZeit, sichdie
These zu vergegenwärtigen: Love it,
changeitorleave it.Mit dem Lieben, das
hat sichfür einen normal empfindenden
Menschen erledigt.Soeinen Chef liebt
niemand, derkeine masochistischenNei-
gungen hat, den achtet keiner,der wird
eher verachtet. Ihn zu änderndürfte
schwierigsein.„Auf Dauermacht eine At-
mosphäre, dievonDruck und Angstge-
prägt ist, krank“,warntScheidt.Um ei-
nem Choleriker zu entgehen, bleibtmit-
unter nur derWeg, dieStelle zuwechseln
und kritischzuprüfen, ob man nichtvom
Regenindie Traufegerät.
Ein Gedanke, der das Durchhaltever-
mögenstählenkann: Warumgebe ichei-
nem einzelnen Menschen, in diesemFall
dem brüllenden Chef, so eine Macht über
mein Leben und mein Befinden?Warum
überschattet der Ärgermeine freieZeit,
zerpflügt meinen Schlaf?Sollteindiesem
Kontextein Jobwechsel anstehen, istein
Aspekt elementar:über denwahren Be-
weggrund schweigen. Der neue Chef und
die anderen Personalverantwortlichen
kennen den Bewerber nicht.Ärger mit
dem alten Chef–das klingtverdächtig
nachÄrger mit dem zukünftigen Chef.
Dann alsoliebervoneiner „neuenHeraus-
forderung“ sprechen.

Studentinnen erwarten ein deutlich
niedrigeres Einstiegsgehalt als ihre
männlichen Kommilitonen:43000
EurobruttoimJahr sind es im Durch-
schnitt–und damitrund 5000 Euro
weniger als bei den Männern. Das ist
das Ergebnis einerStudiedes Gesamt-
verbandes Kommunikationsagentu-
ren(GWA). DerGWAhat dazu im
Juli desvergangenen Jahres 1001Stu-
dentinnenund Studenten im Alter
von17bis 25 Jahren befragt.
DassStudentinnen mit einemge-
ringeren Einstiegsgehaltrechnen als
ihremännlichen Kommilitonen,
zieht sichdurch fast alle Studienrich-
tungen. Die Ergebnisse sind aller-
dings in einigen Studienrichtungen
nicht sehr aussagekräftig,weil es nur
wenigeBefragte aus beispielsweise
den Geisteswissenschaftengibt.Die
Tendenz istaber diegleiche, einzig
die Naturwissenschaftlerinnen möch-
tenmehr Geld haben als ihre männli-
chen Kommilitonen, die die glei-
chen Abschlüsse anstreben. Die
knapp 41 000 Euro, die sie durch-
schnittlich in der Befragunggenannt
haben, liegen aber immernoch deut-
lichunter dem Betrag, den sie in der
Realität im Mittel bekommen: knapp
49 000 Euro.Das geht aus demaktuel-
len „Gehaltsreportfür Absolventen“
der Online-Stellenbörse Stepstone
hervor.
In derGWA-Studie sind dieUnter-
schiede in den Gehaltsvorstellungen
vonFrauen und Männernbesonders
groß in denFächernLehramt, Inge-
nieur -und Rechtswissenschaften.
Die angehenden Lehrerinnen erwar-
tenzum Einstieg ein Jahresgehalt
vonfast41000 Euro, keine 2000
Euromehr als das durchschnittliche
Gehalt in der Stepstone-Untersu-
chung. Die Männerhingegen erwar-
tenimMittel gut 50 000 Euround
überschätzen damit stark, wassie
nachdem Abschlussverdienenwer-
den.Unterden angehenden Ingenieu-
renerwartendie Männer durch-
schnittlich1000 Euromehr,als realis-
tischist,die Frauen aber 5000 Euro
weniger als die Männer.
TrauenFrauen sichalso weniger
zu, oder sind ihreEinschätzungenrea-
listischer?Tobias Jung aus demVor-
stand desGWAsagt dazu: „Männer
sind früh im Berufsleben interessier-
terander Optimierung des eigenen
Vorteils.“Frauen hätten eher einege-
sündereEinschätzung des Deals, den
Angestelltemit ihremUnternehmen
eingingen. Der bestehe eben nicht
nur aus Geld und Arbeitszeit, son-
dernauchaus Gestaltungsspielraum,
Weiterentwicklung und demTeam.
Langfristig könne das die bessere
Strategie sein,glaubt Jung. DieUnter-
schiede zwischenFrauen und Män-
nerninder Studie erklärtersichauch
mit kulturellerVorprägung: Kleine
Mädchen sollten gemocht werden
und nichtstreiten, Jungskönntenru-
hig malRabauken sein. „Das istaber
dabei, sichzuverändern“, sagt Jung.
Wo auchimmer dieWahrheit liegt:
Das tatsächli cheGehalt ist letz tenEn-
des auchabhängigvomeigenenVer-
handlungsgeschick. Unddas profi-
tiertzwarvon einem realistischen
Wunschgehalt.Aber werzuwenig
Geld fordert, bekommt meistens
auchzuwenig. ANNALENA LIPKA


Wastun, wenn mein Chef


ständig ausrastet?


Foto Getty Images

DIE KARRIEREFRAGE
Schlecht


geschätzt


Die Führungskraftist aggressiv und unberechenbarwie


Rumpelstilzchen.Viele Mitarbeiterreagieren hilflos.


Dabei hätten sie einigeMöglichkeiten.


VonUrsula Kals


  

        






 





 
 
 
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