Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Campus 14. MÄRZ2020·NR.63·SEITEC3


P


rüfungstag. Robin Herbertbe-
tritt den Hörsaal. DerRaum ist
riesig, die eintrudelndenStudie-
rendenverteilen sichauf mehre-
re hundertPlätze. IhreGesichter wirken
verschlossen,konzentriert. Herbertsetzt
sichanseinen Platz. Sein Herzhämmert
gegendie Brust, sein Mund isttrocken.
„Sie dürfenjetzt umdrehen“,ruft der Prü-
fer. Herbertstarrt auf dieAufgabenvor
ihm. Er liestsie, einmal, zweimal, aber da
istnichts.Nurein großes schwarzes Loch
inseinemKopf.
Herberts Prüfungsangstkam mit dem
Studiumsbeginn. Erwollteeinen Bache-
lor in Betriebswirtschaftslehre(BWL) ma-
chen. Der damals 18 JahrealteAbiturient
waresgewohnt, mit seinen Schulkamera-
den vorden Klausuren zu lernen und Prü-
fungen in einemvertrautenRahmen zu
schreiben: in einem Klassenraum, den er
kannte, mit Mitschülern, die er jedenTag
sah. Als er imWintersemester2013/2014
an derUniversität Bayreuth anfing,war
alles anders: „Die Klausuren fanden inrie-
sigen Sälenstatt, in denen allegestresst
waren. Selbsteine Turnhalle wurde für
Prüfungen umfunktioniert“, erzählt der
Student.„Ichhattedas Gefühl,gegenei-
nenriesigen Druckperformen zu müs-
sen.“Vorallem die klassischen Grundla-
genfächer derBWLfielen ihm schwer.
Die meistenStudierenden sindvorKlau-
suren aufgeregt.InMaßen istdas sogar
hilfreich, dennNervosität durchflutet den
Körper mitAdrenalinund schärft die Kon-
zentration.Wandelt sichAufregung je-
dochinAngst, schlägt der Effekt um: Die
Aufregung lähmt, lässtkeinen klaren Ge-
danken mehr zu und führtimExtremfall
dazu,dasssichPrüflingenicht mehr an Ge-
lerntes erinnern. Einkompletter Blackout
also. Betroffene schiebenKlausurendes-
halbvorsichher,einigebrechen ihrStudi-
um sogar ab, um die Angstmomentein
den Prüfungen zu umgehen. Anderefallen
so oftdurch eine Prüfung,bis sie sie nicht
mehr wiederholen dürfen–und exmatri-
kuliertwerden. Zwar gibt eskeine aktuel-
len Zahlendazu, wie vieleStudierende in
Deutschlandunter Prüfungsangst leiden.
Jedoch nahmen im Jahr 2018 mehr als
32 000 Studierende Einzelgesprächeder
psychologischen Beratungder Studenten-
werkeinAnspruch, 5300 nutzten Grup-
penangebote.Das zeigenZahlen des Deut-
schenStudentenwerks. Vondortheißt es
auch, dassPrüfungsangstzueinemder
wichtigsten Themen in der psychologi-
schen Beratunggehört.

Realistische Ziele setzen:
Hauptsache, durchkommen
Die Gründe für Prüfungsangstsind vielfäl-
tig, weiß DetlevLeutner, Inhaber des Lehr-
stuhls für Lehr-Lernpsychologieander
UniDuisburg-Essen. „Betroffene haben
oftein geringes Selbstkonzept–sind also
zum Beispiel davonüberzeugt, in Mathe
generell schlecht zu sein“,sagt der Profes-
sor.„Teilweise haben sie auchunrealisti-
sche Ziele,etwa,wenn sie in einemFach
eher schwachsind, sichaber vornehmen,
eine Bestnote zu schreiben.“ Nicht selten
hätten Betroffene zudemkein optimales
Zeitmanagement und schöben dasLernen
immerweiter auf, bis es zu spät sei.
Leutner empfiehlt daher,sichrealisti-
sche Ziele zu setzen,etwa:Hauptsache,
ichkomme durch.Eshelfeaußerdem,
sichsehr genau auf die Prüfungvorzube-
reiten. Das heißt zunächst: lernen, ler-
nen, lernen.Aber auchdie Anforderun-
geninder Klausur solltenStudierende
mit Prüfungsangstvorab möglichstklä-
ren. Dazukönnen sie zum Beispiel in
Facebook-Gruppen desStudiengangs fra-
gen, werdie Klausur schongeschrieben
hat undwelche Themen dafür besonders

wichtig sind.„Alle Informationen, die ei-
nemStudenten mehr über die Anforde-
rungen in der Klausurverraten, sind hilf-
reich für dieVorbereitung“, sagt Leutner.
Ein Zeitplan helfezusätzlich, die Lern-
phase zustrukturieren.
EinenZeitplan machtesichauchRobin
Herbertvor jeder anstehenden Klausur.
Er schrieb jedochkeine normaleTo-do-
Liste,sondernnotierte,was er schonge-
lernt hatte. Eine Done-Liste sozusagen.

„Das hat mir das Gefühlgegeben, dassich
bereits eine Mengewusste, und ließ mich
entspannter in die Klausurgehen.“ Den
Tipp mit der Done-Liste hatteihm eine
Mitarbeiterin der psychologischen Bera-
tung an derUniBayreuth gegeben. Her-
berthat die Beratung häufig in Anspruch
genommen, da er in den ersten Semes-
tern in vielenFächerndurchgefallen war.
„Abbrechenwollteich aber nicht“, sagt
der heute 25 JahrealteStudent.Er

schrieb auf, wie viele Klausuren er bisher
bestanden hatte, um sichseinewachsen-
de ErfahrungvorAugen zu führen. Die-
ses Vorgehen hält auchLehr-Lernpsycho-
logeLeutner für sinnvoll. „Für Menschen
mit Prüfungsangstgeht es darum, erfolg-
reiche Situationen zu sammeln. Sie müs-
sen sichselbstüberzeugen, dasssie der
Prüfunggewachsen sind.“
Hilfreichsind auchpositiveVorbilder.
Davonist JörgFrommer,Facharzt für Psy-

chosomatische Medizin und Psychothera-
pie an derUniversität Magdeburg, über-
zeugt.PsychologischerklärtersichPrü-
fungsangstso: Menschen sind Gewohn-
heitstiere, die sichanimmer wiederkeh-
rende Abläufegewöhnen. Eine Prüfungje-
dochist etwasNeues und ein wichtiger
Schritt, der den Prüflingvoranbringen
soll. „Dies isteine ambivalenteSituation:
Einerseits isteserstrebenswertweiterzu-
kommen. Andererseits führtjederFort-
schritt zu mehrVerantwortung undVer-
pflichtungen. Damit istPrüfungsangst
auchdie Angstdavor, dieser zunehmen-
denVerantwortung nichtgewachsen zu
sein“, erklärtder Professor.Ausschlagge-
bend seien deshalbVorbilder,die zeigten,
dassdie Verantwortung tragbar ist. Gera-
de Studierende, die aus Nichtakademiker-
familienkommen, hätten oftniemanden,
an demsie sichwährend ihrer Klausurvor-
bereitung orientierenkönnten.

Bier,Sportoder Musik
zur Entspannung
Nurein kleinerTeil derStudierenden mit
Prüfungsangstist Frommer zufolgewirk-
lichkrank und braucht eine Therapie. „In
diesenFällen istdie Prüfungsangstaber
meistnur der die Spitze des Eisbergs und
steht für nochganz andere, tiefer liegen-
de Probleme“, sagt der Psychotherapeut.
Für alle anderen bötensichdie psycholo-
gischen Beratungsangebote der Hoch-
schulen an.Vorallem fürStudierende, die
Klausuren systematischaus demWegge-
hen, seien neben Einzelsitzungen auch
Gruppengespräche sinnvoll. Denn der
Gruppendruckmotiviertmancheinen,
die nächste Klausur dann dochzuschrei-
ben–andernfalls musser sichvor den an-
derenrechtfertigen.
Einen Ansatz aus derVerhaltensthera-
pie könnenStudierenderelativ einfach
selbstumsetzen, um sichihrer Angstzu
stellen: die Prüfungssituation simulieren.
Dazu fragt einKommilitone die Lernin-
halteabund verkörpertdamit den Prüfer.
Steht eine schriftliche Klausur bevor,
kann derStudierende unter prüfungsähn-
lichen Bedingungen eine Altklausur bear-
beiten: Er setzt sichineinenstillenRaum
–vielleicht sogar einen leeren Hörsaal –,
legt alle Hilfsmaterialien zur Seiteund
stopptdie Zeit.BWL-Student Herbert
kann diesem Ansatz allerdingswenig ab-
gewinnen. „Mirfehlt in diesen Simulatio-
nen einfachder Druck. Die Angststellt
sichnicht ein. Deshalb bringt es mir
nichts.“ Dennochkann eine Simulation
dabei helfen, sichdarüber klarzuwerden,
wie viel man eigentlichschon weiß –ganz
ähnlichwie die Done-Liste.
Im Fall vonmündlichenAbfragen biete
es sichan, imVorhinein mit dem Prüfer
zu sprechen undvonder eigenen Prü-
fungsangstzuberichten, sagt Leutnervon
der UniDuisburg-Essen.Auch ihm haben
Studierendevoreiner Prüfung schonvon
ihrer Angsterzählt.„Wenn der Prüfer dar-
über Bescheidweiß, kann er in der Prü-
fung entsprechendreagieren:etwamit
einleitendenWorten und beruhigenden
Sätzen“, sagtLeutner.Zudem sind dieStu-
dierenden oftvon Vornhereinweniger
aufgeregt,weil sie den Prüfer schonken-
nengelernt haben.
Manchmal helfen schon Kleinigkeiten,
um eine Prüfung so entspannt wie mög-
lichanzugehen: ein Bier amAbendvor
der Klausur,eine Runde Sport, um auf an-
dereGedanken zukommen, oder Musik
hören. „Esgeht darum, sichvon der An-
spannung durch eine Prüfungkörperlich
und mental zu distanzieren“, sagt Her-
bert. Er hat seine Prüfungsangstinzwi-
schen überwunden und iststolz, 48
schriftliche Klausuren erfolgreich absol-
viertzuhaben. Jetzt macht er seinen
BWL-MasterinSchweden.

Blackout


LeererKopf, leeres Blatt:Das kann passieren,wenn die Prüfungsangstzuschlägt. FotoUllstein Bild

Lebenslanges Lernen istimTrend.
Das sieht auchdie Bundesregierung
so: „Bildung undWeiterbildung sind
der Schlüssel zur Fachkräf tesiche-
rung und zur Sicherung der Beschäfti-
gungsfähigkeit aller Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer“, schreibt sie
in einer Antwortauf eine kleine An-
fragemehrerer Abgeordneterder
FDP-Fraktion.Viele Erwachsene ent-
scheiden sichauchnachvielen Jah-
renimArbeitsleben, zurückoder
zum ersten Mal an dieUnizugehen.
Besondersinden vergangenen Jah-
renist die Zahl derStudierenden, die
älter als 40 Jahresind,starkgestie-
gen, wieweiter aus der Antworther-
vorgeht, die derF.A.Z. vorliegt.Wa-
renesimWintersemester2014/15
nochetwa81000, stieg dieZahl der
Studierenden im Altervonmehr als
40 Jahren im Studienhalbjahr
2018/19 auf fast95 000. Das sind
etwaso viele wie an allen Hamburger
Hochschulen zusammen.
Baden-Württembergund Bayern
warenimWintersemester2018/19
die Bundesländer mit denwenigsten
Studierenden im Altervonmehr als
40 Jahren, Berlin und Hamburgdie
mit den meisten. Am beliebtesten
sind unter den älterenStudierenden
die StudiengängePsychologie und
BWL, danachfolgen Informatik und
Jura. Besondersviele ältereStudie-
rende absolvieren ihrStudium inTeil-
zeit.Das dürftedaran liegen, dasssie
häufigweiterhin berufstätig sind und
istvermutlichauchder Grund,war-
um Erstabsolventen, die älter als 40
sind, im Schnittetwaslänger fürsStu-
dium brauchen als Erstabsolventen
unter 40 Jahren.
Denn nachdem 35. Lebensjahr er-
haltenStudierende in allerRegelkein
Bafög mehr. Es gibt auch keinestaatli-
cheFörderung speziell für diese
Gruppe vonälterenStudierenden.
DieRegierungverweiststattdessen
auf KfW-Studienkrediteund Stipen-
dien. Die KfW-Kreditegibt es aller-
dings auchnur fürStudierende, die
jünger als 45 Jahresind.
Jens Brandenburg,hochschulpoliti-
scher Sprecher der FDP-Bundesfrakti-
on, sagtedazu: „FinanzielleUnter-
stützung gibt es für Ü-40-Studierende
kaum.“ Dabeiwerdedie wissenschaft-
licheWeiterbildung inZeiten der Di-
gitalisierung immer wichtiger.„Aka-
demischeWeiterbildung darfinkei-
ner Lebensphase am eigenen Geld-
beutel scheitern.“
Generell scheint das Interesse am
lebenslangen Lernen und an Berufs-
wechseln mitten im Arbeitsleben im-
mer größer zuwerden –das zeigt sich
nicht nur inForm vonspät Studieren-
den, sondernauchimBereichSchule
und Ausbildung: Sonderauswertun-
gender Ausbildungsstatistik,die das
Statistische Bundesamtvoreinigen
Wochen für dieF.A.Z. gemacht hat
(F.A.Z.vom15. Februar), zeigen: Im
Jahr 2018 schlossenfast 15000 Men-
schen im Alter zwischen 30 und 49
Jahren nocheine Berufsausbildung
ab. Mehr als 98 000 Schüler,zum Bei-
spiel in Berufsschulen,Fachoberschu-
len oderFachgymnasien,waren30
Jahrealt oder älter. LINAKUJAK

Studium


mit 40 plus


VielInteresse,


wenig Förderung
Studierendemit PrüfungsangstkönnenKlausuren

nur untergrößtenAnstrengungenbewältigen.Imschlimmsten Fall


brechensie sogarihr Studiumab.


VonNina Bärschneider





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