von berit uhlmann
München– Während das Coronavirus alle
deutschen Bundesländer erreicht hat, müs-
sen immer mehr Menschen mit Einschrän-
kungen des sozialen Lebens rechnen. Lan-
desregierungen und Veranstalter folgten
am Dienstag der Empfehlung von Gesund-
heitsminister Jens Spahn (CDU), Zusam-
menkünfte von mehr als 1000 Menschen
zu unterbinden. Bayern untersagte Veran-
staltungen dieser Größenordnung zu-
nächst bis einschließlich 19. April, dem En-
de der bayerischen Osterferien. Für Zusam-
menkünfte von 500 bis 1000 Menschen sol-
len die Behörden eine individuelle Risiko-
bewertung vornehmen. „Im Zweifel lieber
absagen“, mahnte Bayerns Ministerpräsi-
dent Markus Söder. Die Entscheidung
über kleinere Events obliegt den Veranstal-
tern. Söder forderte zugleich ein einheitli-
ches Vorgehen im Kampf gegen das Virus:
„Es darf auf keinen Fall ein Kompetenz-
chaos unter den Bundesländern geben.“
Berlins Bürgermeister Michael Müller
(SPD) schlug vor, dass sich die Ministerprä-
sidenten bei ihrer Konferenz am Donners-
tag auf eine gemeinsame Linie einigten.
Unterdessen kündigten auch die Regie-
rungen in Nordrhein-Westfalen, Baden-
Württemberg, Schleswig-Holstein, Thürin-
gen und Bremen an, Veranstaltungen mit
mehr als 1000 Besuchern grundsätzlich zu
streichen. Das Literaturfestival „Lit.Colo-
gne“ musste abgesagt werden. In Berlin
wurden alle geplanten Veranstaltungen in
den großen Sälen der staatlichen Theater,
Opern- und Konzerthäuser abgesagt, wie
Kultursenator Klaus Lederer mitteilte.
Wie unterschiedlich die Handhabe je-
doch noch ist, zeigt das Beispiel Fußball.
So wird das Derby zwischen Borussia Mön-
chengladbach und dem 1. FC Köln am Mitt-
woch vor leeren Stadionrängen ausgetra-
gen. Auch die Begegnung zwischen Borus-
sia Dortmund und Schalke 04 sowie die
Partien Werder Bremen gegen Bayer Lever-
kusen und Hoffenheim gegen Hertha BSC
Berlin sind als Geisterspiele geplant. Das
Länderspiel der deutschen Mannschaft ge-
gen Italien wird am 31. März in Nürnberg
ebenfalls ohne Fans ausgetragen. Dagegen
wird der FC Bayern München sein Aus-
wärtsspiel bei Union Berlin vor Publikum
austragen, sein Champions-League-Spiel
gegen Chelsea am 18. März in München
aber ohne Zuschauer. Die Deutsche Eisho-
ckey Liga (DEL) verzichtet ganz auf die
Playoffs. Wie die DEL mitteilte, wird es in
diesem Jahr keinen Meister geben.
Um die wirtschaftlichen Folgen abzumil-
dern und die Forschung an Mitteln gegen
den Erreger Sars-CoV-2 zu fördern, will die
Bundesregierung weitere Gelder bewilli-
gen. „Wir werden zusätzliche Haushalts-
mittel zur Verfügung stellen, bis zu eine
Milliarde Euro“, sagte Unionsfraktions-
chef Ralph Brinkhaus (CDU). Am Freitag
will die Bundesregierung konkrete Liquidi-
tätshilfen für Unternehmen vorstellen.
Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
nach Angaben von Teilnehmern in der Sit-
zung der Unionsfraktion am Dienstag mit-
teilte, sollen Finanzminister Olaf Scholz
(SPD) und Wirtschaftsminister Peter Alt-
maier (CDU) ein Maßnahmenpaket vorle-
gen, das von Steuerstundungen bis KfW-
Krediten reicht. Die Lage sei ernst, wird
Merkel zitiert. Besonders die Ausfälle beim
Hotel- und Gaststättengewerbe seien
enorm, es gebe Hotels, die vergangene Wo-
che keine einzige Buchung gehabt hätten.
Ein großes Konjunkturpaket soll es bis-
lang nicht geben, habe Merkel betont.
US-Präsident Donald Trump stellte sei-
nem Land ein Maßnahmenpaket in Aus-
sicht. Er kündigte an, die Regierung wolle
mit dem Kongress unter anderem über
Lohnsteuererleichterungen sowie über
Kredite für Kleinunternehmer reden. Ange-
dacht seien auch Hilfen für Menschen, die
nach Stundenlohn bezahlt würden – für
die also bei einem Arbeitsausfall wegen ei-
ner Erkrankung besondere Härten entste-
hen. Der Dow Jones und der Dax erholten
sich etwas, nachdem es am Vortag zu panik-
artigen Verkäufen gekommen war.
Derweil müssen sich auch Reisende auf
weitere Einschränkungen einstellen. Das
Auswärtige Amt rät nun den Bundesbür-
gern von nicht erforderlichen Reisen nach
Italien ab. Wer das Land dennoch besucht,
sollte eine Erklärung über die Notwendig-
keit dieser Reise mit sich führen. Gleichzei-
tig stufte das Berliner Robert-Koch-Insti-
tut (RKI) ganz Italien als Risikogebiet ein.
Das bedeutet, Rückkehrer sollen zunächst
Kontakte vermeiden und nach Möglich-
keit zu Hause bleiben. Italien hatte am Vor-
abend Schließungen und Sperrungen auf
das gesamte Land ausgedehnt. Österreich
verhängte ein Einreiseverbot für Men-
schen, die aus Italien ankommen. Ausnah-
men seien nur mit ärztlichem Attest mög-
lich, sagte Kanzler Sebastian Kurz. Österrei-
chische Staatsbürger würden mit Unter-
stützung durch das Außenministerium zu-
rückgeholt. Durchreisen – etwa von deut-
schen Touristen – sollten möglich bleiben,
sofern dabei kein Halt im Land eingelegt
werde. Zugleich verbot die Wiener Regie-
rung Veranstaltungen mit mehr als 100
Teilnehmern in geschlossenen Räumen
und Zusammenkünfte von mehr als 500 Be-
suchern im Freien.
Das Virus beschäftigte auch das EU-Par-
lament. Die Abgeordneten forderten, den
Euro-Stabilitätspakt flexibel auszulegen,
um die wirtschaftlichen Auswirkungen ab-
zumildern. Mehrere Parlamentarier kriti-
sierten, dass Deutschland und Frankreich
die Ausfuhr von Schutzmasken unterbun-
den haben. Dieser Schritt sei „egoistisch“
und habe einen Dominoeffekt ausgelöst,
sagte der deutsche Abgeordnete Manfred
Weber (CSU). EU-Gesundheitskommis-
sarin Stella Kyriakides forderte die EU-
Staaten auf, ihre Ausrüstung zu teilen.
In Deutschland steigt die Zahl der Neuin-
fektionen mit dem Coronavirus weiter. Et-
wa 1140 Menschen sind nach Angaben des
RKI infiziert, die meisten in Nordrhein-
Westfalen. Als letztes Bundesland meldete
am Dienstag auch Sachsen-Anhalt vier Co-
rona-Infektionen. „Wir stehen erst am An-
fang der Epidemie“, sagte RKI-Präsident
Lothar Wieler und betonte, dass die Situati-
on ernst sei. Kommunen, Kliniken und Ärz-
te sollten dringend ihre Krisenpläne akti-
vieren. Weltweit bezifferte die Weltgesund-
heitsorganisation WHO die Zahl der Infi-
zierten mit mehr als 109 000. Fast 4000
Menschen starben an der Lungenerkran-
kung. Während die Zahlen in Europa wei-
ter steigen, gibt es zwei Lichtblicke. Neben
China, wo die Infektionen schon seit Länge-
rem seltener werden, meldet seit einigen
Tagen auch Südkorea rückläufige Zahlen.
Meinung
WarumEuropas Wirtschaft
nicht unbedingt mehr
Großkonzerne braucht 4
Panorama
Stockholmbekommt eine
goldene Brücke – per Schiff
direkt aus China geliefert 10
Feuilleton
„DieHeimat ist ein für alle Mal weg“:
Liedermacherin Bettina Wegner
im Interview 13
Sport
Prozessund Prothesen:
Para-Sprinter Blake Leeper
will zu Olympia 28
Medien
InPolen tobt ein Machtkampf
um das öffentlich-rechtliche
Fernsehen 31
TV-/Radioprogramm 32
Forum & Leserbriefe 9
München · Bayern 30
Rätsel 14
Traueranzeigen 24
Die
große Leere
Veranstaltungen in Deutschland
und vielen Ländern werden abgesagt.
Die Angst vor der Ausbreitung des
Coronavirus lähmt das öffentliche Leben
auf der ganzen Welt
Wucht der Zahlen:Warum es wichtig ist,
die Ausbreitung zu verzögern Seite 2
Abriegeln:Italien ist zur Sperrzone er-
klärt. Wie lebt es sich dort? Seite 3
Aushalten:Die Epidemie ist auch eine
Übung – in Solidarität Seite 4
Lernen von Afrika:Der Ebola-Ausbruch
im Kongo ist unter Kontrolle Politik
Geister-Flüge:Airlines starten mit halb
leeren Fliegern Wirtschaft
Ohne Zuschauer:Welche Auswirkungen
hat das Veranstaltungsverbot? Sport
Gefährliches Zäpfchen-R:Ein Immunolo-
ge warnt vor Dialektsprechern Bayern
Brüssel –Die griechische Regierung berei-
tet gemeinsam mit der EU-Kommission
und dem Kinder- und Flüchtlingshilfs-
werk der Vereinten Nationen eine Konfe-
renz vor, um minderjährigen Flüchtlingen
in den griechischen Auffanglagern zu hel-
fen. Nach Informationen der SZ sind Ge-
spräche dazu schon länger im Gange, ur-
sprünglich sollte die Konferenz im Früh-
jahr stattfinden. Nun drängt das Bundesin-
nenministerium zur Eile.kmb Seite 6
Troisdorf– Die Deutsche Post bekommt
im Paketgeschäft zu spüren, dass der On-
linehändler Amazon immer mehr Sendun-
gen über sein eigenes Logistiknetz mit ei-
gens beauftragten Zustellern ausfahren
lässt. Daher sei die Zahl der DHL-Pakete
im Weihnachtsgeschäft nicht so stark ge-
stiegen wie in Vorjahren, teilt die Post mit.
Für dieses Jahr prognostiziert der Konzern
ein Wachstum um höchstens fünf Prozent
oder eine Stagnation.sz Wirtschaft
Amsterdam– Im Strafprozess um den Ab-
schuss der malaysischen Passagiermaschi-
ne MH17 über der Ostukraine hat die
Staatsanwaltschaft schwere Vorwürfe ge-
gen Russlands erhoben. Es gebe Anzeichen
dafür, dass die russische Regierung die Un-
tersuchung behindern wolle, sagte Staats-
anwalt Thijs Berger im Gericht in Badhoe-
vedorp bei Amsterdam. Der Prozess soll
den Abschuss der Boeing 777 ahnden, die
2014 abgestürzt war. dpa Seite 6
München– Derrussische Präsident Wladi-
mir Putin hat einen Weg gefunden, der
ihm eine Verlängerung seiner Amtszeit bis
ins Jahr 2036 ermöglichen könnte. Der
67-Jährige stimmte am Dienstag im russi-
schen Parlament der Idee zu, seine bisheri-
gen Amtszeiten auf null herabzusetzen,
sollte das Verfassungsgericht dies zulas-
sen. Dies kommt einem parlamentari-
schen Coup gleich. Nach bisherigem Recht
müsste Putin eigentlich 2024 seinen Pos-
ten abgeben. Seit Monaten war gerätselt
worden, ob Putin vorher die Verfassung zu
seinen Gunsten ändern würde.
Die Staatsduma war ursprünglich am
Dienstag zusammengekommen, um in der
zweiten und entscheidenden Lesung über
die größte Verfassungsänderung in der Ge-
schichte Russlands abzustimmen. Diese
hatte Putin selbst im Januar angestoßen,
das Votum dafür galt als sicher. Doch dann
schlug die Abgeordnete Walentina Teresch-
kowa vor, die Amtszeiten des Präsidenten
auf null zu setzen und eine entsprechende
Ergänzung in die Verfassung aufzuneh-
men. Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolo-
din unterbrach daraufhin die Versamm-
lung. Nach einigen Beratungen trat dann
Wladimir Putin in der Duma ans Pult.
„Im Prinzip wäre diese Option möglich,
aber unter einer Bedingung: dass das Ver-
fassungsgericht offiziell zu dem Schluss
kommt, dass eine solche Änderung nicht
im Widerspruch zu den Grundsätzen des
Grundgesetzes steht“, sagte er. Putin
knüpfte die Umsetzung der Idee zudem an
den Volksentscheid. Am 22. April stimmen
die Russen über die Verfassungsreform ab
- und nun wohl auch über die Gesetzeser-
gänzung, die Putin zum Dauerpräsidenten
machen könnte. Es gilt als wahrscheinlich,
dass die Mehrheit der Bürger für die Re-
form stimmt. Doch der Coup erinnert an
die Jahre 2008 und 2012. Damals, 2008,
musste Putin nach zwei Amtszeiten als Prä-
sident abtreten und tauschte kurzerhand
mit Premier Dmitrij Medwedjew den Pos-
ten. 2012 kehrte Putin zurück ins Präsiden-
tenamt und löste damit in Russland Mas-
senproteste aus. Auch jetzt kündigten Kriti-
ker Kundgebungen an.
Die Duma stimmte am Dienstag mit gro-
ßer Mehrheit für die Reform. 382 Abgeord-
nete stimmten dafür, 44 enthielten sich,
unter ihnen Vertreter der Kommunisti-
schen Partei. Gegen die Idee stimmte nie-
mand. Derzeit läuft Putins vierte Amtszeit
als Präsident, die Verfassungsänderung,
die er vorantreibt, sieht eigentlich vor,
dass eine Person maximal zwei Amtszei-
ten regieren darf. Putin sprach sich am
Dienstag einerseits dagegen aus, dass die
Begrenzung aufgehoben wird. Anderer-
seits zielt er damit lediglich auf einen Präsi-
denten ab, der ihm eines Tages nachfolgen
wird. Eine vorgezogene Parlamentswahl,
wie am Dienstag diskutiert, lehnte er ab.
Die reformierte Verfassung soll künftig
Mindestlöhne und -renten garantieren. Im
Gesetz soll außerdem der Bezug auf Gott
und die Ehe als alleinige Vereinigung von
Mann und Frau festgeschrieben werden.
Der Staatsrat soll aufgewertet, dessen ge-
naue Aufgaben aber noch festgelegt wer-
den. Putin war bereits als dessen Leiter mit
erweiterten Befugnissen im Gespräch ge-
wesen. Doch er sprach sich am Dienstag ge-
gen eine solche doppelte Macht aus.
clara lipkowski, frank nienhuy-
sen Seiten 4 und 6
HEUTE
Die SZ gibt es als App
fürTablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp
Deutsche Post spürt
Konkurrenz von Amazon
Zwickau– Bundespräsident Frank-Walter
Steinmeier hat dazu aufgerufen, Bürger-
meister und Gemeinderäte vor Hass und
Gewalt zu schützen. „Wir dürfen nicht zu-
lassen, dass Kommunalpolitikerinnen und
-politiker in unserem Land zu Fußabtre-
tern der Frustrierten werden“, sagte der
Präsident am Dienstag bei einer Diskussi-
on mit Gemeindevertretern im sächsi-
schen Zwickau. Die lokal Engagierten sei-
en das Fundament, „auf dem das Gebäude
der Demokratie ruht“, sagte Steinmeier. Er
beklagte ein Klima von Empörung und Ent-
hemmung, von Herabsetzung und Hetze.
Deutschland habe „ein massives Problem
mit Hass und Gewalt“. Die Mitte der Gesell-
schaft sei dagegen zu ruhig gewesen, er-
klärte er und forderte: „Genau diese Mitte
muss jetzt laut werden.“
Laut einer Umfrage sind fast zwei Drit-
tel der deutschen Bürgermeister in ihrem
Amt beleidigt, beschimpft, bedroht oder
angegriffen worden. In einer Erhebung der
ZeitschriftKommunalim Auftrag des ARD-
Politikmagazins „Report München“ gaben
64 Prozent der befragten Bürgermeister
an, derartige Attacken schon erlebt zu ha-
ben. Jeder zweite erklärte, schon mehrfach
angegangen worden zu sein. Von den 2594
Befragten – das entspricht etwa einem
Fünftel aller Bürgermeister in Deutsch-
land – berichteten neun Prozent gar von
körperlichen Angriffen.sz Seite 8
Vom Emsland ziehen über Nordrhein-
Westfalen, Rheinland-Pfalz bis zum Bayeri-
schen Wald und Sachsen Regenschauer
hinweg. Sonst im Norden freundlich. Zehn
bis 17 Grad. An den Küsten und in Höhenla-
gen stürmisch. Seite 15
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WWW.SÜDDEUTSCHE.DE MÜNCHEN, MITTWOCH, 11. MÄRZ 2020 76. JAHRGANG/ 11. WOCHE / NR. 59 / 3,20 EURO
Putin könnte bis 2036 weiterregieren
Wenndas Verfassungsgericht zustimmt, dürfte sich der russische Präsident doch einer weiteren Wiederwahl stellen
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Xetra Schluss
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1,1308 US-$
Konferenz soll
Flüchtlingskindern helfen
MH17-Absturz: Schwere
Vorwürfe gegen Russland
17 °/3°
Reisende müssen
sich auf Einschränkungen
einstellen
FOTO: RBB
Eine Mitarbeiterin am japanischen Flughafen Chubu deckt Schilder ab. FOTO: BLOOMBERG Das libanesische Parlament in Beirut wird desinfiziert. FOTO: AFP
Auch in Madrid sind viele Supermarktregale leer. FOTO: AFP
Süddeutsche ZeitungGmbH,
Hultschiner Straße8, 81677 München; Telefon 089/2183-0,
Telefax -9777; [email protected]
Anzeigen:Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und
Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt),
089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte).
Abo-Service:Telefon 089/21 83-80 80, http://www.sz.de/abo
A, B, F, GR, I, L, NL, SLO: € 3,70;
ES (Kanaren): € 3,80; dkr. 29; £ 3,50; kn 30; SFr. 4,
Dax▼
- 1,41%
Dow▲
+ 1,93%
Euro▼
- 0,
Im Anflug: Bartgeier sollen in die Alpen zurückkehren Wissen
„Fußabtreter
der Frustrierten“
Steinmeier kritisiert Gewalt
gegen Kommunalpolitiker
(SZ) Eingekeilt zwischen himmelhoch
überragenden Bergen führte das Tal lange
Zeit ein Nischendasein, anders lässt es sich
wirklich nicht sagen. Und während der
Berg schon immer ein lauter Ichling war,
der in seinem Egozentrismus alle zu sich
ruft, beschrieb nicht erst Gottfried August
Bürger das Tal als einen stillen Ort, in dem
irgendwo das „Blümchen Wunderhold“
vergleichsweise schüchtern sprießt. Nicht
minder hold blickte der Frühling in Goe-
thes Osterspaziergang auf das Tal, denn
dort und nirgendwo sonst sah er das grü-
nende „Hoffnungsglück“. In ähnlichem
Frieden fand der Fotograf Chuck O’Rear
vor Jahren ein sanftes Tal nördlich von San
Francisco vor, das als Bildschirmhinter-
grund von Windows XP zu einem der meist-
gesehenen Bilder der Welt wurde und in
dem fortan also das sehr konkrete Hoff-
nungsglück grünte, dieses elende Betriebs-
system möge nicht gleich wieder abstür-
zen, wenn man mit einem ängstlichen Dop-
pelklick nach dem Internet Explorer noch
ein weiteres Programm öffnen würde.
Systemabstürze ganz anderer Art sind
es, mit denen das Tal nun einmal mehr
metaphorisch in Verbindung und damit
real in Verruf gebracht wird. Von Aktien
über den Ölpreis bis zu den Bauzinsen be-
findet sich alles Mögliche gerade „auf Tal-
fahrt“, so ist es den Nachrichten zu entneh-
men, und wenn man diese auch zwischen
den Zeilen richtig liest, dann ist die Reise ei-
ne, für die man besser kein Ticket löst. Den
Bauzinsen und mehr noch dem unberühr-
ten Tal selbst ist natürlich zu wünschen,
dass der Express gar nicht erst unten an-
kommt. Aber auch unabhängig von nach
unten rauschenden Kursen bleibt es be-
trüblich, welchen Imageverlust die Tal-
fahrt erleiden muss. Was ihren Ruf betrifft,
befindet sich die Talfahrt gewissermaßen
selbst auf Talfahrt, und in diesem eigen-
tümlichen Jahr 2020 lässt sich für sie bis-
lang nicht mehr erhoffen, als dass auf dem
langen Weg nach unten demnächst wenigs-
tens mal eine Mittelstation wartet.
Wem die Fahrt schon vor Erreichen ei-
ner solchen große Angst bereitet, dem sei
ein kleines Spiel in Gedanken empfohlen,
beginnend zum Beispiel mit einer Überle-
gung des Kabarettisten Olaf Schubert. Die-
ser klagte einst recht grundsätzlich, wie be-
schwerlich es sei, sich über steile Strecken
immer wieder neue Höhenmeter zu erar-
beiten. Schubert schlug deswegen vor, die
Menschheit möge in Zukunft einfach nur
noch Straßen bergab bauen und keine
mehr bergauf, eine Idee, die öffentlich
bislang leider kaum diskutiert worden ist.
Noch beruhigender kann es bei aller Wohl-
standsangst sein, die Welt und ihre Wörter
mit den Augen von Kindern zu betrachten.
Wenn unter diesen bald wieder mehr von
heftigen Abwärtsspiralen die Rede sein
wird, dann nicht wegen börslicher Verluste
- sondern weil sie in den Ferien eine gute
Achterbahn oder eine gescheite Rutsche
aufgetan haben.
DAS WETTER
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