Süddeutsche Zeitung - 11.03.2020

(Frankie) #1
von christian endt
undsören müller-hansen

U


m zu verstehen, warum das neue Co-
ronavirus so gefährlich ist, muss
man sich klarmachen, was exponen-
tielles Wachstum bedeutet. Der Begriff ist
etwas sperrig, das Konzept dahinter aber
einfach. Es geht um eine Vermehrung, die
sich ständig selbst beschleunigt. Und die-
ses Muster lässt sich auch beim Coronavi-
rus erkennen. Das ist der Hintergrund, war-
um nun immer strengere Auflagen ver-
hängt werden, Fußballspiele ohne Publi-
kum ausgetragen, Feste und Kongresse ab-
gesagt werden. Und warum Gesundheits-
minister Jens Spahn, Kanzlerin Angela
Merkel und andere davon sprechen, man
müsse die Ausbreitung des Virus verlangsa-
men. Sprich: Verhindern, dass es sich expo-
nentiell verbreitet.
Der Mensch ist an lineare Prozesse ge-
wöhnt, die kann er begreifen. Beim linea-
ren Wachstum kommt in festen Zeitabstän-
den eine feste Anzahl an Fällen hinzu, bei-
spielsweise tausend pro Woche. Beim expo-
nentiellen Wachstum dagegen findet in ei-
nem festen Zeitraum jeweils eine Verdopp-
lung der Fallzahl statt. Exponentielles
Wachstum ist gefährlich, weil man es am
Anfang leicht unterschätzt. Denn zu Be-
ginn läuft die Kurve gemächlich vor sich
hin. Dann wird sie immer steiler und
schießt bald nahezu senkrecht nach oben.
Die Kurve der Coronafälle sieht in allen
Ländern mit größeren Ausbrüchen sehr
ähnlich aus: in China, Südkorea, Italien,
Deutschland und Frankreich. Um die enor-
me Wucht zu veranschaulichen, die expo-
nentielles Wachstum entfalten kann, wird
häufig die Legende vom Erfinder des
Schachspiels zitiert, der von einem indi-
schen König erbat, in Reiskörnern ent-
lohnt zu werden: Ein Korn für das erste
Feld des Schachbretts und von da an im-
mer doppelt so viele – zwei für das zweite
Feld, vier für das dritte, acht für das vierte.
Nichtsahnend willigte der König ein. Da-
mit hätte er für das letzte Spielfeld eine
neunzehnstellige Zahl an Reiskörnern auf-
treiben müssen, was der globalen Ernte
mehrerer Jahrhunderte entspricht.


Mathematisch betrachtet verbreiten
sich Epidemien nach dem gleichen Prin-
zip. Entscheidend für die Geschwindigkeit
der Ausbreitung ist die Zeitspanne, in der
sich die Fallzahlen jeweils verdoppeln.
Beim Coronavirus ist dieser Wert wegen
der Dunkelziffer schwer zu bestimmen.
„In Italien müssen wir von einer großen An-
zahl unerkannter Fälle ausgehen“, sagt
Christian Althaus, Leiter der epidemiologi-
schen Forschungsgruppe der Uni Bern.
„Die vergleichsweise hohe Zahl an Todes-
fällen und die vielen Fälle in der Schweiz
und anderen Ländern, welche sich vermut-
lich in Italien angesteckt haben, deuten
auf einen viel größeren Ausbruch hin als
bislang bekannt.“ Konservativ geschätzt
geht Althaus von einer Verdopplungszeit
von sechs bis sieben Tagen aus. Ausgehend


von den gut Tausend bestätigten Corona-
Fällen in Deutschland zu Beginn dieser Wo-
che lässt sich ausrechnen, wozu eine sol-
che Rate in wenigen Wochen führen wür-
de. Bei ungebremstem Wachstum wären
spätestens Mitte Mai mehr als eine Million
Menschen in Deutschland mit dem Virus
infiziert.
Zwar verläuft die Krankheit bei der
Mehrzahl der Infizierten harmlos. Doch et-
wa jede fünfte Erkrankung nimmt einen
schweren Verlauf, die eine Behandlung im
Krankenhaus erfordert. Auch diese Zahl
könnte also in einigen Wochen im sechs-
stelligen Bereich liegen. Insgesamt gibt es
in Deutschlands Krankenhäusern laut Sta-
tistischem Bundesamt etwa 500 000 Bet-
ten. Etwa 110000 davon sind im Mittel oh-
nehin nicht belegt, verteilt über alle Fach-
abteilungen in den Krankenhäusern. Sie
stehen in der Augenheilkunde, der Kinder-
chirurgie, der Inneren Medizin. Bei einigen
Abteilungen könnte es schwierig werden,

Betten für Corona-Patienten umzuwid-
men. Andererseits lassen sich geplante Ein-
griffe verschieben, wodurch sich die Auf-
nahmefähigkeit erhöht. Ein Teil der Patien-
ten wird eine intensivmedizinische Be-
handlung benötigen. Dafür gibt es in
Deutschland etwa 28 000 Betten, von de-
nen im Jahr 2017 im Mittel 5890 frei wa-
ren. Diese Betten dürften alle mit Beat-
mungsgeräten ausgestattet sein. Schon
Mitte April könnte die Corona-Epidemie al-
le freien Kapazitäten des deutschen Ge-
sundheitswesens binden. Und zur Erinne-
rung: Es geht um exponentielles Wachs-
tum. Einige Tage später verdoppelt sich
die Zahl der Patienten erneut. Hinzu
kommt, dass es zu Ausfällen beim medizi-
nischen Personal kommen kann, wenn Ärz-
te und Pflegekräfte selbst erkranken. Das
droht vor allem dann, wenn die Schutzaus-
rüstung knapp wird, etwa Masken. Den bis-
herigen Erfahrungen zufolge sterben etwa
ein bis zwei Prozent der Infizierten an Co-
vid-19. Bei einer landesweiten Epidemie
könnten das Zehntausende Tote sein. Soll-
te das Gesundheitssystem unter der Last
zusammenbrechen, dürfte die Letalität
deutlich steigen. „Was mich am meisten be-
unruhigt, ist die drohende Überlastung der
Krankenhäuser“, sagt Christian Althaus.
„Die ist auch für Patienten problematisch,
die beispielsweise wegen eines Herzin-
farkts in Behandlung sind.“
Dass diese Szenarien eintreten, ist un-
wahrscheinlich. Sie verdeutlichen aller-
dings, was ohne Gegenmaßnahmen passie-
ren könnte. Tatsächlich dürfte ein weiterer
Anstieg der Fallzahlen eine drastische Re-
aktion des Staates hervorrufen: Weitere
Schulschließungen, Einschränkungen für
Gastronomie und Verkehr, Sperrzonen
und Ausgehverbote. Dass sich die Epide-
mie mit solchen Maßnahmen tatsächlich
eindämmen lässt, zeigen die Beispiele von
China und Südkorea. Auch in China gab es
zu Beginn einen exponentiellen Anstieg
der Corona-Fälle. Inzwischen hat sich das
Wachstum stark verlangsamt. Da täglich ei-

ne große Zahl Infizierter als geheilt entlas-
sen wird, geht die Zahl der akut Erkrank-
ten in China den Berichten zufolge derzeit
zurück. Einige Beobachter haben indes
Zweifel an den amtlichen Daten. In Südko-
rea gibt es weiterhin eine dreistellige Zahl
neuer Fälle pro Tag, aber auch hier hat sich
das Tempo der Ausbreitung verlangsamt.
Entscheidend dazu beigetragen haben
groß angelegte Virentests. Bis dato wurden
in Südkorea mehr als 196 000 von ihnen
vorgenommen. So ließen sich Infizierte
frühzeitig isolieren. In Südkorea sind Mu-
seen geschlossen, Konzerte werden abge-
sagt, die Semesterferien an Schulen und
Universitäten wurden verlängert.
Exponentielles Wachstum kann es in
der Natur nicht ewig geben. Ab einem ge-
wissen Punkt flacht jede noch so steile Kur-
ve wieder ab, die Zahl der Neuinfektionen
geht zurück. Die entscheidende Frage ist,
wann dieses Plateau erreicht wird. Es
kommt darauf an, die Kurve so früh wie

möglich zum Abflachen zu bringen. Das be-
deutet zwar nicht unbedingt, dass weniger
Menschen krank werden. Solange es kei-
nen Impfstoff gibt, gehen Epidemiologen
davon aus, dass weite Teile der Bevölke-
rung früher oder später das Coronavirus
bekommen. Entscheidend ist jedoch die
Zeitachse. Das Abflachen bewirkt, dass we-
niger Menschen gleichzeitig krank sind
und eine Behandlung benötigen. Ein Kol-
laps des Gesundheitssystems lässt sich so
vermeiden. Deshalb fordert Althaus, dass
man die Einführung drastischerer Kon-
trollmaßnahmen in Betracht zieht. „China
und Italien sind uns einige Wochen voraus,
deshalb sollten wir von den Erfahrungen
dieser Länder lernen und lieber jetzt als zu
spät handeln.“
Beispielhaft dafür, wie wirksam das Ver-
bot großer Menschenansammlungen ist,
steht der Ausbruch der Spanischen Grippe
1918 und 1919. Während der Pandemie star-
ben weltweit viele Millionen Menschen,

die Sterblichkeitsrate lag bei zwei bis drei
Prozent, ähnlich wie beim Coronavirus
heute. Eine Untersuchung zu verschiede-
nen US-amerikanischen Städten zeigte,
dass drastische – und vor allem schnell um-
gesetzte – Maßnahmen gegen eine Aus-
breitung des Virus die Zahl der Todesopfer
erheblich senkte. Die Behörden in Philadel-
phia ergriffen nach den ersten Fällen kei-
nerlei Maßnahmen, es wurde sogar noch ei-
ne große Parade in der Stadt abgehalten.
Erst nach drei Wochen, als Krankenhäuser
und medizinisches Personal bereits völlig
überlastet waren, schloss die Verwaltung
Schulen, Kirchen, Theater und andere öf-
fentliche Einrichtungen. In St. Louis hinge-
gen handelten die Verantwortlichen inner-
halb von zwei Tagen nach dem Bekannt-
werden erster Krankheitsfälle in der Stadt
und verhinderten so hohe Todesraten. Erst
nachdem etwa einen Monat später die Res-
triktionen gelockert wurden, stieg die Zahl
der Toten merklich.

Das ganze Land quasi stilllegen, so wie in
Italien – ginge das hierzulande? Nicht nur
Schulen schließen, sondern auch Universi-
täten? Alle öffentlichen Versammlungen
verbieten und sogar Spazierengehen im
Nachbarort? Die Bundesregierung hätte ju-
ristisch gar nicht die Möglichkeit dazu; das
ist der Grund, warum Bundesgesundheits-
minister Jens Spahn sich aufs Appellieren
beschränken muss. Der nationale Pande-
mieplan seines Robert-Koch-Instituts lie-
fert vor allem Empfehlungen und dient der
Synchronisierung. Das föderale System
überlässt die Ausführung des Krisen-
managements weitgehend den Ländern.
Direkt eingreifen könnte der Bund ledig-
lich an den Grenzen. „Nach dem Schenge-
ner Abkommen können Kontrollen einge-
führt werden, wenn das für Sicherheit und
Ordnung nötig ist“, sagt ein Sprecher des
Bundesinnenministeriums. Ähnlich wie
Österreich, das Einreisen aus Italien nur
noch mit ärztlichem Attest erlaubt, könnte
auch Deutschland zusätzliche Dokumente
bei der Einreise verlangen – theoretisch.
Geplant sei dies derzeit aber nicht. „Das
würde sehr viel Aufwand bedeuten“, sagt
der Sprecher. In Deutschland gebe es bis-
her nur eine „mäßige Ansteckungsgefahr“.

Auch die Notstandsregelungen des
Grundgesetzes würden im Gesundheits-
katastrophenfall nicht greifen. Sie erlau-
ben eine Einschränkung von Grundrech-
ten – aber nur bei Krieg, inneren Unruhen
oder einer Naturkatastrophe. „Für eine
Pandemie sind die Gesetze nicht ausge-
legt“, heißt es im Bundesinnenministeri-
um. Einen Grund, das ändern zu müssen,
sehe man nicht. Eine Großdebatte über Än-
derungen des Grundgesetzes wäre wohl
auch das letzte, wofür Politiker gerade Zeit
haben. „Grundsätzlich haben wir alle Ins-
trumente, um die Krise zu beherrschen.“
Sie stehen vor allem im Infektions-
schutzgesetz. Gemäß Paragraf 28 können
„Ansammlungen einer größeren Anzahl
von Menschen“ beschränkt werden. Auf
der Grundlage haben im brandenburgi-
schen Kreis Ostprignitz-Ruppin das Ge-
sundheits- und das Schulamt mehrere
Schulen für eine Woche geschlossen. Dar-
über hinaus gibt Paragraf 32 dieses Geset-
zes den Landesregierungen die Möglich-
keit, per Rechtsverordnung An- und Ver-
sammlungen komplett zu verbieten. Die-
ses Mittel haben Bayern und Nordrhein-
Westfalen am Dienstag gewählt. Paragraf
32 erlaubt es den Landesregierungen dar-
über hinaus, auch das Grundrecht der Frei-
zügigkeit landesweit einzuschränken (also
sich frei bewegen zu dürfen). Könnte folg-
lich zum Beispiel zumindest Bayern so vor-
gehen wie Italiens Regierung: die Unis
schließen sowie Fahrten von München
nach Regensburg verbieten?
Thorsten Kingreen, Professor für öffent-
liches Recht und Gesundheitsrecht in Re-
gensburg, will das zumindest nicht pau-
schal bejahen. Das Infektionsschutzgesetz
verlangt von den Regierungen nämlich aus-
drücklich auch, den Grundsatz der Verhält-
nismäßigkeit zu beachten; also zu prüfen:
Ist das, was sie beschließen, überhaupt ge-
eignet, um das Ziel zu erreichen? Was wie-
derum als allererstes heißt: Sind die Gebo-
te und Verbote in sich stimmig? Spazieren-
gehen in der Nachbarstadt verbieten, aber
die Flughäfen offen lassen, so wie in Itali-
en? Klänge nicht stimmig, sagt Kingreen.
Und wer Fahrten von einer Stadt zur ande-
ren verbietet, wie regelt er die Mobilität in-
nerhalb einer Stadt?
Das alles sind unbeantwortete Fragen.
Das Bundesinnenministerium schreibt
auf seiner Webseite, „die Notwendigkeit,
aber auch die Verhältnismäßigkeit der Ab-
riegelung ganzer Gemeinden“ sei „derzeit
nicht gegeben“ – und weist darauf hin,
dass dies in den Ländern entschieden wer-
den müsste. Bayerns Gesundheitsministe-
rium teilt auf Anfrage nur vage mit: Bevor
über die Abriegelung einer Stadt entschie-
den wird, „sollte zunächst auf andere Lö-
sungsschritte gesetzt werden“. Bei den Kol-
legen in Brandenburg wird darauf hinge-
wiesen, dass die ersten Sperrmaßnahmen
in Italien zu einer großen Nord-Süd-Flucht
beigetragen hätten. „Damit haben sie die
weitere Ausbreitung nicht verhindern kön-
nen.“ Zugleich gilt jedoch wohl, was der Ju-
ra-Professor Kingreen sagt. Weil es kaum
juristische Literatur und Rechtsprechung
zu einem bisher selten angewandten Ge-
setz gibt, könnte ein Ministerpräsident dar-
aus den Schluss ziehen: „Das Instrumenta-
rium für drastische Schritte ist in Form die-
ses Gesetzes da.“
Die nächsten Tage und Wochen werden
zeigen, wer es ausschöpfen wird, wer zöger-
lich ist und dadurch Mal-so-mal-so-Ent-
scheidungen seiner Behörden zulässt. Das
Land Berlin zum Beispiel hat nun Thea-
ter-, Opern- und Konzertveranstaltungen
in den „Großen Sälen“ bis 19. April pau-
schal gestrichen. Und das Bezirksamt Trep-
tow-Köpenick hat das Nachbarschaftsfest
des Kinderbauernhofs Waslala abgesagt.
Aber das Bundesligaspiel 1.FC Union ge-
gen den FC Bayern nächsten Samstag hat
es erlaubt. constanze von bullion,
detlef esslinger

Wucht


der großen Zahl


Noch gibt es in Deutschland recht wenige Infizierte,
doch das kann sich schnell ändern. Warum es wichtig ist,
die Ausbreitung des Virus zu bremsen

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
(CDU) hat die Bürger im Kampf gegen das
Coronavirus zur Mithilfe aufgerufen. Leich-
ter gesagt als getan. Angela B. etwa fiel vor
drei Tagen einer Bekannten zur Begrü-
ßung um den Hals, die gerade aus dem Ur-
laub in Südtirol gekommen war. Drei Tage
später wurde die Bekannte positiv auf Co-
rona getestet und ins Krankenhaus einge-
liefert. Daraufhin wollte sich auch Angela
B. untersuchen lassen und rief beim Ge-
sundheitsamt an. Das verwies sie an ihre
Hausärztin. Die wiederum stöhnte, sie ha-
be mehr als genug Patienten, die sich tes-
ten lassen wollten, aber nur noch eine
Atemschutzmaske. Beim ärztlichen Not-
dienst bekommt Angela B. die Auskunft,
sie solle zwei Wochen zu Hause bleiben. Ge-
testet werde sie aber nicht, solange sie
nicht huste oder niese. Und ihre Bekannte
mit dem Coronavirus wurde nach vier Ta-
gen aus der Klinik entlassen. Soll so das Vi-
rus bekämpft werden?, fragt sich Angela B.
Auch den Ärzten gibt die Entwicklung
Rätsel auf. In Gebieten mit besonders vie-
len Fällen kommen sie zwangsläufig in
Kontakt mit dem Virus. Gleichzeitig fehlt
es an Schutzkleidung. Aus dem nordrhein-
westfälischen Heinsberg berichtete ein
Arzt, dort sei sogar medizinisches Personal
im Einsatz, das selbst positiv auf Corona ge-
testet wurde. Solange die Leute symptom-
frei seien, habe ihnen der Landrat erlaubt
weiterzuarbeiten. In einer Region mit etwa
300 Infizierten sei das nötig. Andernfalls
würde die medizinische Versorgung zu-
sammenbrechen.


Dass die Situation Patienten wie Ärzte
als chaotisch empfinden, hat viel mit dem
deutschen Föderalismus zu tun. Infekti-
onsschutz ist Ländersache, Gesundheits-
minister Spahn oder das Robert-Koch-In-
stitut können nur Empfehlungen geben.
Den lokalen Gesundheitsämtern kommt ei-
ne tragende Rolle zu. Das erklärt, warum in
einigen Städten und Gemeinden die Schu-
len schließen, während andernorts ein Fuß-
ballspiel mit 40 000 Zuschauern angepfif-
fen wird. Doch trotz der vielen verschiede-
nen Akteure in der Krise scheint es eine ge-
meinsame Stoßrichtung zu geben.

Der Kampf gegen das Virus ist in eine
neue Phase übergegangen, darin sind sich
die Verantwortlichen einig. Zwar gilt es wei-
ter, die Ausbreitung zu verhindern, aber
nicht mehr um jeden Preis. Während die in-
fizierten Mitarbeiter des bayerischen Auto-
zulieferers Webasto noch über Wochen im
Krankenhaus beobachtet wurden, werden
nun die Ressourcen gebündelt. Die Kran-
kenhäuser sind jetzt Coronafällen mit
schweren Krankheitsverläufen vorbehal-
ten. Experten rechnen damit, dass ihre
Zahl auch in Deutschland deutlich zuneh-
men wird. Um die übrigen Patienten und
Verdachtsfälle sollen sich die niedergelas-
senen Ärzte kümmern. Viele Kommunen
haben, um die Praxen zu entlasten, Test-

zentren eingerichtet, sei es in unbenutzten
Gebäuden oder in provisorischen Zelten.
Manche Zentren verteilen Testkits, damit
sich Patienten selbst einen Abstrich am Ra-
chen entnehmen können. Ausgewertet wer-
den die Proben dann von einem Labor.
Das Virus sei immer noch neu, „wir ler-
nen ständig dazu“, sagt die gesundheitspo-
litische Sprecherin der FDP, Christine
Aschenberg-Dugnus. Es habe sich gezeigt,
dass der Corona-Test während der bis zu

14-tägigen Inkubationszeit nicht sofort
und bei jeder infizierten Person anschlage.
Daher sei es sinnvoll, dass Ärzte nur Men-
schen testeten, die bereits Symptome der
Krankheit zeigten. Das würde in der Öffent-
lichkeit allerdings noch zu wenig kommu-
niziert, bemängelt die FDP-Politikerin.
Dass wichtige Entscheidungen weiter
vor Ort getroffen werden, erregt in Berlin
kaum Widerspruch. Die Grünen-Politike-
rin Kordula Schulz-Asche sagt, die kommu-

nalen Behörden könnten die Situation viel
besser einschätzen. Sie versteht zwar die Ir-
ritationen der Bürger wegen mancher amt-
licher Regelungen. „Aber das wäre kaum
besser, wenn eine Bundesbehörde zum Bei-
spiel ganz Bayern unter Quarantäne stel-
len würde.“

Gesundheitsminister Spahn trug diesem
Wunsch nach einheitlichen Vorschriften
Rechnung, als er ein Verbot aller Veranstal-
tungen mit mehr als 1000 Teilnehmern for-
derte. Aber im Großen und Ganzen hat sich
der Föderalismus bei der Coronakrise aus
seiner Sicht bisher bewährt. Einer flächen-
deckenden Schließung von Schulen, wie
von manchen gefordert, kann er wenig abge-
winnen. Eine solche Maßnahme würde
nämlich bedeuten, dass auch Ärzte und Pfle-
gekräfte ihre Kinder zu Hause betreuen und
in den Praxen oder Krankenhäusern fehlen,
wo sie dringend gebraucht würden.
Im Moment scheint die Coronakrise zu-
mindest die Politiker in Berlin zusammen-
zuschweißen. Das könnte sich ändern,
wenn es den Kliniken nicht gelingt, die
Schwerkranken angemessen zu behan-
deln, und mehr Menschen an dem Virus
sterben. Oder wenn die Zahl der Neuinfekti-
onen nicht sinkt, trotz aller Veranstaltungs-
absagen und Tipps zum richtigen Hände-
waschen. rainer stadler

2 HF2 (^) THEMA DES TAGES Mittwoch, 11. März 2020, Nr. 59 DEFGH
Wie weit darf
der Staat gehen?
Beim Infektionsschutz
entscheiden die Länder
Die Kurve abflachen
Für die Bekämpfung einer Virus-Epidemie
ist weniger die Gesamtzahl der Fälle entscheidend, sondern
wie schnell sich der Erreger ausbreitet
Verstrichene Zeit seit Ausbruch
SZ-Grafik: Endt, Mainka; Quellen: Johns Hopkins, WHO
Bei ungebremster
Ausbreitungüberfordert
die Epidemie die
Möglichkeiten des
Gesundheitssystems
Gelingt es, die Epidemie zu
bremsen,gibt es insgesamt eine
ähnliche Zahl an Infizierten, aller-
dings über einen längeren Zeitraum
verteilt. Das Gesundheitssystem
kann alle Patienten versorgen.
Zahl der Neuinfizierten
Kapazität des Gesundheits-
systems, bestimmt etwa durch
die Zahl der Krankenhausbetten,
verfügbares Personal und
medizinische Ausrüstung
Corona-Infizierte in Italien
Gesamtzahl der bestätigten Fälle
7000
6000
5000
4000
3000
2000
1000
0
... in Deutschland
7000
6000
5000
4000
3000
2000
1000
0
...inSüdkorea
7000
6000
5000
4000
3000
2000
1000
0
15.Feb. 22.Feb. 1.März 9.März 15.Feb. 22.Feb. 1.März 9.März 15.Feb. 22.Feb. 1.März 9.März
In einigen Bundesländern – hier in Erkelenz in Nordrhein-Westfalen – wurden pro-
visorischeCorona-Testzentren eingerichtet. FOTO: ROBERTO PFEIL/DPA
Bitte ganz ruhig bleiben
InDeutschland existieren keine einheitlichen Regeln für Tests oder Schulschließungen. Es kommt vielmehr auf das Verhalten jedes Einzelnen an
Alle sechs bis sieben Tage
würde sich die Zahl der Infizierten
verdoppeln, schätzt der Experte
Südkorea hat durch strenge
Vorgaben den Anstieg
der Fallzahlen verlangsamt
„Grundsätzlich haben wir
alle Instrumente,
um die Krise zu beherrschen.“
Tests sind offenbar nur
sinnvoll, wenn Patienten bereits
Symptome zeigen
Alle Schulen zu schließen hieße,
dass Ärzte zur Kinderbetreuung
zu Hause bleiben müssten
Coronavirus in DeutschlandFußballspiele,Konzerte, Festivals – im Minutentakt liefen am Dienstag die Meldungen ein,
welche Veranstaltungen abgesagt werden müssen. Da die Zahlder Infizierten weiter sprunghaft steigt, greifen die Behörden
zu immer härteren Maßnahmen. Die Epidemie lässt sich so nicht stoppen, aber womöglich entscheidend verzögern

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