Süddeutsche Zeitung - 11.03.2020

(Frankie) #1
Amsterdam–Am zweiten Tag des Prozes-
ses zum Abschuss des Flugs MH17 über der
Ukraine hat die niederländische Staatsan-
waltschaft Russland vorgeworfen, die Un-
tersuchungen behindert und bewusst fal-
sche Informationen verbreitet zu haben.
Die Untersuchungen zu dem Fall, bei dem
alle 283 Passagiere und 15 Crew-Mitglie-
der zu Tode kamen, seien noch nicht ganz
abgeschlossen. Das werde im Laufe des
Jahres geschehen, inhaltliche Fragen könn-
ten demnach erst im kommenden Jahr im
Rahmen des Prozesses besprochen wer-
den. Bis dahin werde die russische Kampa-
gne wohl weitergehen.
Die Staatsanwaltschaft erwähnte einen
neuen Zeugen, der beim Abfeuern derBuk-
Rakete zugegen gewesen sein soll, die das
in Amsterdam gestartete Flugzeug traf.
Der Russe habe sich als Freiwilliger den Se-
paratisten angeschlossen. Ihm zufolge
freute sich dasBuk-Team am 17. Juli 2014,
ein „militärisches Transportflugzeug“ ab-
geschossen zu haben. Der Mann habe heim-
lich vernommen werden müssen, ein öf-
fentlicher Auftritt wäre zu gefährlich. Das
gelte für Dutzende weitere Zeugen, die an-
onym bleiben müssten. Sie fürchteten um
ihr Leben, würden bedroht durch russi-
sche Dienste oder bewaffnete Gruppen in
der Ostukraine. „Das wirft einen dunklen
Schatten auf diesen Prozess. Es gibt viele
Hinweise, dass russische Dienste versu-
chen, diesen Prozess zu hintertreiben.“

Die Ankläger riefen den Angeklagten
Oleg Pulatow auf, eine Aussage zu machen.
Dies könne schriftlich geschehen oder per
Videoschalte aus Russland. Es werde auch
geprüft, ob Pulatow, der im Geheimdienst
der Separatisten tätig war, in den Nieder-
landen aussagen könne, ohne eine Verhaf-
tung zu riskieren. Auch an die anderen An-
geklagten habe man viele Fragen. So habe
etwa der Separatistenführer Igor Girkin
am Tag des Unglücks über den Abschuss ei-
nes Flugzeugs gesprochen, während des-
sen Stellvertreter Sergej Dubinskij das
Transportieren von „Spielzeug“ erwähnte,
womit er dieBukgemeint habe.

Russland habe keine nachvollziehbare
Version der Ereignisse vorgelegt, stellte
die Staatsanwaltschaft fest. Zunächst hat-
te das russische Verteidigungsministeri-
um eine ukrainischeBukverantwortlich
gemacht, dann einen ukrainischen Kampf-
jet. Letztere Version wurde im Mai 2015 fal-
lengelassen. „Das russische Narrativ zum
Absturz von MH17 besteht darin, die Er-
mittlungen in Zweifel zu ziehen.“

Man habe daher noch genauer als sonst
üblich auf die Echtheit der Beweismittel ge-
achtet, sagten die Staatsanwälte. Abgehör-
te Telefongespräche wurden verschiede-
nen Telekommunikationsfirmen zur Beur-
teilung vorgelegt, die Gesprächsteilneh-
mer wurden ausfindig gemacht und ange-
sprochen. Auch Fotos und Videos wurden
geprüft: Man verglich das Licht und den
Schattenwurf mit meteorologischen Da-
ten, kontrollierte Kameras und Speicher-
medien. Als Beispiel wurde eine von Russ-
land bestrittene Aufnahme genannt, die
dasBuk-System auf der Fahrt durch das
ostukrainische Donezk zeigt.
Die Staatsanwälte gingen auch auf den
jüngsten Versuch Moskaus ein, Zweifel zu
säen: die Veröffentlichung zweier Berichte
des niederländischen Geheimdiensts im
Netz. Sie sollen zeigen, dass damals keine
Bukin der Region war. Wenn man die Doku-
mente richtig lese, stimme das nicht, so die
Ankläger. Sie vermuten, dass die Leaks
vom russischen Geheimdienst stammen,
der malaysische Mitglieder des internatio-
nalen Ermittlerteams gehackt haben könn-
te. Die Verteidiger von Pulatow beklagten
die „scharfe Sprache“ der Ankläger. Ange-
sichts ihrer Feststellung, dass Russland
Desinformation verbreite, sei es seltsam,
dass die niederländische Justiz hin und
wieder eben doch mit der russischen Seite
zusammenarbeite. thomas kirchner

von frank nienhuysen

München –Etwas schüchtern lächelte die
Frau im marinefarbenen Blazer, als sie
sich erhob, während alle Abgeordneten sa-
ßen und auf sie schauten. Auch Wladimir
Putin. Walentina Tereschkowa hat in ih-
rem Leben schon viele sehr ungewöhnli-
che Momente erlebt, die vermutlich noch
aufregender waren als ihre Abgeordneten-
zeit in der russischen Duma. Bis zu diesem
Moment, am Dienstagmittag. Tereschko-
wa war 1963 die erste Frau der Welt gewe-
sen, die es jemals in das Weltall geschafft
hat. Die Kosmonautin genoss seitdem
Ruhm und Ehre in der Sowjetunion und im
neuen Russland. Und nun eroberte sie
noch einmal die Aufmerksamkeit des gan-
zen Landes. Denn Tereschkowa machte ei-
nen Vorschlag, mit dem niemand gerech-
net hatte. Und der in Russland noch einmal
alles verändert.
Am Dienstag, als die Duma routiniert in
zweiter Lesung die große Verfassungsre-
form durchschleusen sollte, die immer
noch alle Rätsel über Putins weiteres Be-
rufsleben ungelöst lassen würde, hieb sie
mit einer Axt diesen Knoten einfach durch.
„Warum sich winden und klug tun?“, fragte
Tereschkowa, „warum sich unnötige Mühe
machen mit künstlichen Konstruktionen“,
sagte sie; dann schlug sie geradewegs vor,
dass die Begrenzung der Amtszeiten für
den russischen Präsidenten aufgehoben
werde oder Putin doch noch mal zum
Staatschef gewählt werden solle. Alle bishe-
rigen Amtszeiten auf Null. Tereschkowa
sorgte für eine Sensation.

Weder die bisherige Verfassung noch
die künftige erneuerte Version sieht dies
vor, aber nun sprach sie es aus, und was al-
le so überrascht hat, kann für die Betroffe-
nen so überraschend gar nicht gewesen
sein. Denn kaum hatte sie den Vorschlag
ausgesprochen, kündigten die russischen
Nachrichtenagenturen den Kremlchef für
einen Auftritt in der Duma an.
Putin wirkte etwas außer Atem, als er zu
reden begann und sich dann offen zeigte
für diesen Coup, der ihm nach den vier
noch übrigen dann erneut insgesamt zwölf
weitere Amtsjahre bringen könnte. Sofern
das Verfassungsgericht zustimmt. Wer
aber würde das bezweifeln.
„Die Welt verändert sich“, sagte Putin
und warb in der Duma für die neue Verfas-
sung. Nützlich sei sie für das Land, sie stär-
ke die Souveränität, Tradition, Werte. Und
auch für den Präsidenten als Garanten der
Verfassung, innerer Stabilität und Sicher-
heit. Putin wies auf den Westen hin, auf die
traditionsreichen Demokratien in Europa,
„die nun nicht in der Lage sind Regierun-
gen zu bilden“. Er sagte allerdings nicht,
dass diese Demokratien auch nicht gleich
in Aufgeregtheit verfallen in Zeiten schwie-
riger Koalitionssuchen und Regierungs-
wechsel, während Russland sich offen-

sichtlich angewiesen fühlt auf Putin, um In-
stabilität zu vermeiden. Aber nicht alle in
der Duma sahen dies an diesem Dienstag
so. Die Kommunisten nämlich nicht.
Alexander Juschtschenko, Abgeordne-
ter der KP-Fraktion, sagte: „Wir waren im-
mer dagegen, dass die Amtszeitbegren-
zung des Präsidenten aufgehoben wird.
Der Vorschlag von Frau Tereschkowa war
überflüssig. Wir unterstützen ihn nicht.“
Obwohl die Kommunisten gegen die Annul-
lierung von Putins bisherigen Amtszeiten
stimmten, enthielten sie sich dann beim
Votum über das Verfassungspaket. Die Re-
form ging in zweiter Lesung locker durch.
Die Opposition reagierte sofort. Mehre-
re Organisationen und Parteien beantrag-
ten bei den Moskauer Stadtbehörden eine
Großdemonstration, die am 21. März auf
dem Sacharow-Prospekt stattfinden soll.
Dort, wo bereits im Winter 2011/2012 Zehn-

tausende Menschen gegen den Ämter-
tausch von Putin und Dmitrij Medwedjew
und Manipulationen bei der Parlaments-
wahl demonstrierten. Sie warnten, die Ver-
fassung im Sinne des obersten Zirkels um-
zuschreiben. „Ein Land, dessen Regierung
sich mehr als 20 Jahre nicht verändert, hat
keine Zukunft“, schrieben sie im Antrag.

Oppositionsführer Alexej Nawalny erklär-
te süffisant: „Putin ist seit 20 Jahren an der
Macht, und trotzdem wird er zum ersten
Mal kandidieren.“
Es war schon lange spekuliert worden,
wo Putins Platz nach 2024 sein würde,
wenn seine Amtszeit ausläuft. Diese ist oh-

nehin schon einmal per Verfassungsände-
rung verlängert worden. Putins erste Amts-
zeiten dauerten vier Jahre, ebenso wie die
von Medwedjew, der in den Kreml zog, als
Putin nicht mehr durfte und stattdessen
als Premier ins Weiße Haus zog. Für seine
Rückkehr 2012 wurde die Amtszeit auf
sechs Jahre verlängert.
Als Putin bei seiner Rede zur Lage der
Nation im Januar die große Reform der Ver-
fassung vorgeschlagen hatte und dabei an-
regte, den bisher unbedeutenden Staatsrat
fest in die Verfassung zu schreiben, vermu-
teten viele, er werde nach Ende der Amts-
zeit Leiter dieses Gremiums werden. Der
Gedanke war: Putin könnte von der Spitze
des Staatsrats aus künftig die Politik des
nachfolgenden Präsidenten kontrollieren.
Doch Putin sprach sich nun dagegen aus, ei-
ne Art Doppelherrschaft zuzulassen. „Eine
starke präsidentielle Vertikale ist absolut

notwendig“, machte er klar. Auch eine an-
dere Variante wurde diskutiert: die Vereini-
gung Russlands mit Weißrusslands. Damit
würde praktisch ein erneuerter Staat ent-
stehen und dies die Bedingungen so verän-
dern, dass Putin Präsident dieses Unions-
staates werden könne. Diese Furcht ver-
breitete sich vor allem in Weißrussland, wo
Präsident Alexander Lukaschenko zuletzt
jede Gelegenheit nutzte, um die Souveräni-
tät Weißrusslands zu betonen. Nun ist also
mit Hilfe von Walentina Tereschkowa ein
Weg gefunden, der Putins Machterhalt
sehr viel einfacher sichert. Die Opposition
spricht allerdings von einem Staatsstreich.
Die Meinung der russischen Bevölke-
rung über Putins Zukunft ist laut einer Um-
frage des Instituts Lewada gespalten. Ende
Februar sprachen sich 45 Prozent dafür
aus, dass Putin nach 2024 Präsident bleibt.
Dagegen war genau ein Prozent mehr.

Brüssel –DieLebensbedingungen der Mi-
granten in den Aufnahmelagern auf den
griechischen Inseln sind oft katastrophal –
für Minderjährige gilt das umso mehr. Wie
mehrere Quellen bestätigten, plant die grie-
chische Regierung darum eine „Europäi-
sche Konferenz für Kinder und Migrati-
on“; die Europäische Kommission, das Kin-
der- und das Flüchtlingshilfswerk der Ver-
einten Nationen (Unicef und UNHCR) un-
terstützen sie dabei. Ziel der Konferenz ist
es demnach in erster Linie, weitere Staaten
zu finden, die sich bereit erklären, im Rah-
men einer europäischen Lösung Minder-
jährige von den griechischen Inseln aufzu-
nehmen.
Ursprünglich sollte die Konferenz Ende
April oder Anfang Mai in Athen stattfin-
den; das Format sollte jener Zusammen-
kunft ähneln, bei der sich einige EU-Mit-
gliedstaaten im vergangenen Herbst auf
Malta darauf einigten, aus Seenot Gerette-
te aufzunehmen. Erste Gespräche für eine
Konferenz in Athen hatte es bereits im ver-
gangenen Jahr gegeben, damals noch mit
dem Ziel, „den Scheinwerfer wieder auf die-
ses Thema zu richten“, wie ein EU-Beamter
sagt. Aber in der Zwischenzeit hat der türki-
sche Präsident Recep Tayyip Erdoğan das
Licht schon angeknipst, indem er auf der
türkischen Seite die Grenze zur EU für Tau-
sende Migranten geöffnet hat.
In der Folge haben in den vergangenen
Tagen mehrere Mitgliedstaaten angekün-
digt, minderjährige Flüchtlinge aufneh-
men zu wollen. Auch die deutsche Bundes-
regierung hatte sich nach langem Ringen
in der Koalition in der Nacht zum Montag
bereit erklärt, in einer europäischen „Koali-
tion der Willigen“ Kinder aus griechischen
Lagern nach Deutschland zu holen.
Darum drängt Bundesinnenminister
Horst Seehofer (CSU) jetzt zur Eile: „Mit
Blick auf den Beschluss des Koalitionsaus-
schusses vom vergangenen Sonntag ha-
ben wir zwischenzeitlich mit der Kommis-
sion Kontakt aufgenommen und darum ge-
beten, die Konferenz zu einem früheren
Zeitpunkt zu organisieren“, sagt ein Spre-
cher des Bundesinnenministeriums. Dem-
nach soll die Konferenz an diesem Freitag
auch am Rande des Innenministertreffens
in Brüssel Thema sein; Innenkommissarin
Ylva Johansson wird bereits am Donners-
tag nach Griechenland reisen, um Lösun-
gen für den Schutz von Minderjährigen zu
finden.
Unabhängig vom Termin begrüßt der
Europaabgeordnete Jan-Christoph Oetjen
(FDP) die Idee, solch eine Konferenz zu ver-
anstalten: „Ich würde mir wünschen, dass
sich möglichst viele Mitgliedsländer der
Europäischen Union an einer Hilfsaktion
für unbegleitete minderjährige Flüchtlin-
ge beteiligen“, sagt er. Bei aller Klarheit ge-
genüber der türkischen Regierung bleibe
die Europäische Union eine Wertegemein-
schaft. Die Humanität gehöre zu den
Grundwerten der EU, „auf die die beson-
ders Hilfsbedürftigen zählen können“.


Neben der Unterstützung für Griechen-
land steht für die EU-Kommission derzeit
die Frage nach der Zukunft des EU-Türkei-
Abkommens im Mittelpunkt. Nach einem
Treffen Erdoğans mit EU-Ratspräsident
Charles Michel und Kommissionspräsi-
dentin Ursula von der Leyen forderte die
Türkei die EU zu „Ernsthaftigkeit“ auf:
„Die Ära, die Türkei hinzuhalten, ist vor-
bei“, sagte der türkische Außenminister
Mevlüt Çavuşoğlu am Dienstag der staatli-
chen Nachrichtenagentur Anadolu.


Bei dem Treffen am Montagabend hat-
ten Spitzenvertreter der EU und Erdoğan
vereinbart, das Abkommen von 2016 zu
überprüfen. Damals hatte die Türkei zuge-
sagt, gegen illegale Migration Richtung EU
vorzugehen; im Gegenzug erhielt Ankara fi-
nanzielle Unterstützung. Weil die EU von
den versprochenen sechs Milliarden Euro
bislang erst 4,7 Milliarden Euro vertraglich
vergeben und etwa 3,2 Milliarden ausbe-
zahlt hat, hatte Erdoğan der EU in der Ver-
gangenheit wiederholt Wortbruch vorge-
worfen. Die EU wiederum wertet Erdoğans
Ankündigung, die Grenzen Richtung Grie-
chenland für Migranten zu öffnen, ihrer-
seits als Bruch des Abkommens.
Als Ergebnis des Treffens von Montag
sollen in den kommenden Tagen der EU-
Außenbeauftragte Josep Borrell und der
türkische Außenminister Çavuşoğlu ge-
meinsam mit einem Team von Fachleuten
klären, welche Teile des Abkommens bis-
lang nicht umgesetzt wurden und warum.
EU-Ratschef Charles Michel sagte, es sei je-
denfalls gut, dass es wieder einen Dialog ge-
be. karoline meta beisel


Dunkle Schatten


Die Anklage wirft Russland vor, den MH17-Prozess zu sabotieren


Wien– Österreichs neue Regierung aus
der konservativen ÖVP und den Grünen
hat nicht viel Zeit gehabt, sich ums Kleinge-
druckte im Koalitionsvertrag zu küm-
mern. Schon wenige Wochen nach Amtsan-
tritt muss sie sich mit dem Coronavirus
und der neuen Flüchtlingsdebatte einer
doppelten Herausforderung stellen – und
beim Flüchtlingsthema treten sogleich die
Differenzen deutlich zutage. Denn Kanzler
Sebastian Kurz inszeniert den Abwehr-
kampf ganz so, als würde er immer noch
mit der rechten FPÖ regieren. Die Grünen
geraten als Juniorpartner deshalb zuneh-
mend in Erklärungsnot und unter Druck
aus der eigenen Basis. Das Bündnis der un-
gleichen Partner steht vor einer ersten
ernsten Belastungsprobe.
Die Suche nach Gemeinsamkeiten führ-
te zunächst nur zu einem gemeinsamen
Gegner: Recep Tayyip Erdoğan. Kurz warf
dem türkischen Präsidenten nach dessen
Ankündigung zur Grenzöffnung vor, „Men-
schen als Spielball, als Waffe und als Druck-
mittel“ zu benutzten. Kogler sprach von ei-
ner „bösartigen Provokation“. Einträchtig
standen der Kanzler und sein Vize da ne-
beneinander, und unisono versicherten
sie, dass sich Österreich von diesem Erdo-
ğan nicht erpressen lassen werde.
Schwieriger gestaltet es sich allerdings,
die inhaltliche und ideologische Bruchlinie
im Regierungslager zu übertünchen. Wie
es von einem Grünen zu erwarten ist, hat
Kogler sich für eine Aufnahme zumindest
von Frauen und Kindern aus den überlaste-
ten griechischen Flüchtlingscamps ausge-
sprochen. Auf das kategorische Nein des
Koalitionspartners reagierte der Vizekanz-
ler aber kleinlaut mit dem Hinweis, dies sei
nur seine „persönliche Meinung“.
Das war mindestens unglücklich formu-
liert. Schließlich ist des Vizekanzlers Privat-
meinung zugleich die offizielle politische
Linie der grünen Regierungspartei. Ande-
re Grüne trieben die paradoxe Politik wei-
ter voran, indem sie in Wien bei einer De-
monstration gegen den restriktiven öster-
reichische Kurs in der Flüchtlingsfrage mit-
marschierten. Das Motto: „Wir haben
Platz“. Grünen-Abgeordnete wie die Vize-
fraktionsvorsitzende Ewa Ernst-Dziedzic
machten da mobil gegen die Politik der ei-
genen Regierung. Als außenpolitische
Sprecherin ihrer Fraktion war Ernst-Dzied-

zic am vorigen Wochenende auch im
Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Hinter-
her sprach sie von „unerträglichen Zustän-
den“ und forderte „sofortiges Handeln“.

Weil jedoch die Handlungsmöglichkei-
ten der Grünen schon im Koalitionsver-
trag, der in Sachen Migration die Hand-
schrift der ÖVP trägt, stark eingeschränkt
sind, richten sie ihre Aufrufe nun vor allem
darauf, die „Hilfe vor Ort“ zu verstärken. Zu-
dem will man „Überzeugungsarbeit“ beim
türkisen Koalitionspartner leisten. Nach-
dem sich auch die deutsche Regierung zur
Aufnahme von Frauen und Kindern aus
griechischen Flüchtlingslagern bereit er-
klärt hatte, kündigte Kogler in der abendli-
chen ORF-Nachrichtensendung ZiB2 an, er
wolle nun für einen Beitritt Österreichs zur
Koalition der Willigen werben.
Kanzler Kurz macht allerdings keinerlei
Anstalten, auf dieses Werben einzugehen.
Er blickt auf seine Wählerschaft und betet
sein Mantra herunter: „Eine Situation wie

2015 darf sich nicht wiederholen.“ Wenn
man Frauen und Kinder hereinlasse, wür-
den „Hunderttausende“, wenn nicht gar
„Millionen“ folgen. Österreich, so ver-
spricht er, werde sich diesem „Ansturm“
entgegenstemmen und sei darauf vorberei-
tet, seine Grenzen zu schützen. Ungefragt
warnt Kurz in Interviews mit ausländi-
schen Medien überdies noch andere euro-
päische Regierungen davor, Flüchtlinge
aufzunehmen.
Eine gemeinsame Haltung ist da nicht
in Sicht, und dennoch versichern sowohl
die ÖVP als auch die Grünen: Die Koalition
wird halten. Selbst für den Fall weiterer Zu-
spitzungen wurde schließlich bereits im
Koalitionsvertrag im Kapitel Asyl und Mi-
gration ein außergewöhnlicher Mechanis-
mus zur Krisenlösung vereinbart: Wenn
die beiden Partner sich partout nicht einig
werden, dürfen sie jeweils im Parlament
nach einer anderen Mehrheit suchen. Eine
Mehrheit für die Grünen ist da allerdings
nirgends in Sicht. Die ÖVP dagegen könnte
wohl mit Schützenhilfe vom alten Partner
FPÖ rechnen. Die türkis-grüne Koalition,
so ist es vereinbart, soll dann trotzdem wei-
ter bestehen bleiben. Theoretisch zumin-
dest. peter münch

Warum noch klug tun?


Weder die bisherige Verfassung Russlands noch die künftige Version sehen eine unbegrenzte Amtszeit des Präsidenten vor. Doch
das könnte sich ändern, wenn nur das Verfassungsgericht zustimmt. Und wer würde daran zweifeln?

Jedes Wort zählt


DieFlüchtlingsdebatte stellt Österreichs Regierung vor eine ernste Belastungsprobe


Über Kreuz: Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (links) und sein Vize Werner
Kogler sind in der Flüchtlingsfrage unterschiedlicher Meinung.FOTO: ROLAND SCHLAGER/DPA

Ermittlungen mit
Hindernissen führt
Staatsanwalt Ward
Ferdinandusse
(FOTO: REUTERS)im
MH17-Prozess: Zeu-
gen kann er aus Si-
cherheitsgründen
teils nur im Gehei-
men vernehmen.

6 HF2 (^) POLITIK Mittwoch, 11. März 2020, Nr. 59 DEFGH
Mehr Willige
gesucht
Konferenz soll Not der
Flüchtlinge lindern
Im Koalitionsvertrag haben
die Partner eine Regelung
für solche Krisen geschaffen
„Die Welt verändert sich“, stellt Putin im Parlament fest. Und wer könnte dem besser begegnen als er selbst? FOTO: ALEXANDER NEMENOV / AFP
In Brüssel: Erdoğan, Michel, von der Ley-
en (von links). FOTO: DPA
„Eine starke präsidentielle
Vertikale ist absolut
notwendig“, findet Putin
Russland hat nach Sicht der
Ankläger keine nachvollziehbare
Sicht der Ereignisse vorgelegt
Die Kommunisten sind dagegen,
dieBegrenzung der Amtszeit
aufzuheben – sie enthalten sich
Erdoğan hat der EU
wiederholt Wortbruch
vorgeworfen

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