Stuttgart–Am Morgen des 11. März 2009
sitzt Ernst Kappel bei einer Dienstver-
sammlung in einer Sporthalle, als eine
Durchsage die zweihundert Polizisten auf-
schreckt: Amoklauf an einer Realschule in
Winnenden. Schnell fährt Kappel mit sei-
nen Kollegen los, um den flüchtigen Täter
zu suchen. Mehr als zwei Stunden später
wird dieser im nahen Wendlingen gestellt,
wo er zwei Polizisten schwer verletzt und
sich anschließend selbst erschießt.
Kappel, Jahrgang 1963, erlebt die Fahn-
dung als eine Zeit der extremen Anspan-
nung, in der er ständig damit rechnet, aus
dem Hinterhalt erschossen zu werden oder
selbst einen tödlichen Schuss abgeben zu
müssen. Am Nachmittag muss er Zeugen-
aussagen von Schülern aufnehmen, die
den Amoklauf miterlebt haben. Am Abend
hilft er dabei, die Verletzungen der toten
Schüler zu dokumentieren. Bis zu jenem
Tag vor elf Jahren hielt sich Kappel für ei-
nen „Vollblutbullen“. Nun hat er eine post-
traumatische Belastungsstörung und
stößt im Polizeiapparat auf ein Umfeld,
das aus seiner Sicht wenig Verständnis auf-
bringt. Erst spät findet er die Hilfe, die er
braucht. Kappel ist einer der wenigen, die
öffentlich über ihr Leid sprechen. 2012
macht er zum ersten Mal auf sein Schick-
sal aufmerksam. Seinen Leidensweg bis
heute hat er nun mit der Journalistin Caro-
line Wenzel in einem Buch verarbeitet.
Dass auch Polizisten eine Psyche haben,
die nicht alles aushält und nicht alles aus-
halten muss, ist noch ein vergleichsweise
junges Thema. Erst Mitte der Neunziger-
jahre haben die Bundesländer damit be-
gonnen, ein Netz an Hilfsangeboten für ih-
re Polizisten zu spannen. Ralf Kusterer,
Landesvorsitzender der Deutschen Polizei-
gewerkschaft in Baden-Württemberg, ist
der Meinung, dass das Netz aus Hilfsange-
boten noch Schwachstellen hat. Es habe
sich aber auch schon viel verändert. „Aus
unserer Sicht hat sich der Umgang mit be-
troffenen Kolleginnen und Kollegen nicht
nur seit 2009 stark verbessert.“ Heute wer-
de kein Polizist mehr wegen psychischer
Verletzungen belächelt. Das Verständnis
sei gewachsen, es gebe mehr Ansprechpart-
ner, die schnell Kontakt mit Betroffenen
aufnehmen und Hilfe vermitteln könnten.
„Trotzdem sind wir natürlich nicht mit
allem zufrieden“, sagt Kusterer. Seine Ge-
werkschaft fordert zum Beispiel, dass die
Polizei mehr Psychologen einstellt. Verbes-
serungsbedarf sieht er auch bei der Aner-
kennung der posttraumatischen Belas-
tungsstörung als Dienstunfall. Oft müssen
Betroffene darum vor Gericht streiten –
vor allem, wenn sich die Krankheit nicht
auf ein einzelnes Ereignis zurückführen
lässt. Doch es könne eben nicht nur ein
Amoklauf oder ein Schusswechsel Auslö-
ser sein, sagt Kusterer.
Für besonders gefährdet hält er Beamte
im Kriminaldauerdienst, die oft sehr jung
sind und ständig mit Todesfällen konfron-
tiert werden. Durch die Digitalisierung
kommen weitere Belastungen hinzu: Wer
wegen Kinderpornografie ermittle, müsse
schreckliche Bilder verarbeiten. „Diese Tä-
tigkeit schadet der Seele.“
„Heute erfahren viele Betroffene Betreu-
ung durch ein dichter werdendes Netz von
behördlichen Informations- und Bera-
tungsangeboten“, heißt es auf der Websei-
te einer Selbsthilfegruppe von Polizisten
mit traumatischen Erlebnissen anerken-
nend. Der Berliner Polizist Jürgen Röhr, ei-
ne der Leiter dieser Gruppe, kritisiert je-
doch in einer Art Nachwort zu Kappels
Buch, dass jedes Bundesland sein eigenes
Konzept strickt und Betroffenen manch-
mal unterstellt werde, dass sie nur in den
vorgezogenen Ruhestand wollten.
Das baden-württembergische Innenmi-
nisterium verweist darauf, dass es nicht
erst nach Winnenden angefangen habe,
die psychische Belastung von Polizisten
ernst zu nehmen. Schon am Tag des Amok-
laufs seien mehr als 100 speziell geschulte
Menschen im Einsatz gewesen, um Opfer,
Angehörige und auch Beamte zu betreuen.
Danach wurde das Angebot ausgebaut und
an der Hochschule für Polizei ein Bereich
für psychosoziales Gesundheitsmanage-
ment geschaffen. Dort werden Polizisten
geschult, die hauptamtlich als psychosozia-
le Berater arbeiten wollen. Aktuell verfüge
jede Dienststelle über mindestens einen
solchen Berater. Begleitend gab es diverse
Maßnahmen zur Sensibilisierung aller
Beamten und zur besseren Vermittlung
von Hilfsangeboten. Auch wenn dies für
Ernst Kappel zu spät kommt: Seine Kritik
dürfte viel dazu beigetragen haben, dass es
heute mehrere Leitfäden für Vorgesetzte
zum Umgang mit Mitarbeitern nach schwe-
ren Einsätzen gibt. claudia henzler
von mike szymanski
Berlin – Zuerst dachte Hans-Peter Bartels,
es handle sich um einen Irrtum. Das war
im November. Der Wehrbeauftragte des
Bundestages, der sonst Mühe hat, auch
nur eine zusätzliche Stelle durchzusetzen,
kann bald vier neue Leute einstellen. So
war es dem neuen Stellenplan nach den
Haushaltsberatungen zu entnehmen. Ge-
fordert hatte Bartels diese Stellen nicht. Er
sagt, er brauche sie gar nicht. Nur, wo ka-
men sie her? Bartels kam ins Grübeln.
Hans-Peter Bartels, 58 und SPD-Politi-
ker, hat im Mai vor fünf Jahren ein bei Au-
ßen- und Sicherheitspolitikern begehrtes
Amt angetreten. Der Wehrbeauftragte hat
die Aufgabe, das Parlament bei der Kontrol-
le der Bundeswehr zu unterstützen. Er fun-
giert außerdem als „Kummerkasten“ für
die Soldaten. Er soll überparteilich agie-
ren. Bartels gab deshalb 2015 sein Bundes-
tagstagmandat ab. Er hat sein Büro im
zweiten Stock eines prachtvollen Altbaus
nicht weit vom Parlament. Draußen weht
die Deutschlandfahne.
Der Wehrbeauftragte, das ist eine Insti-
tution. Einmal im Jahr hat er seinen gro-
ßen Auftritt. Dann legt er den Bericht über
den Zustand der Bundeswehr vor. Wie gut
ein Verteidigungsminister oder eine Vertei-
digungsministerin den Job macht, das
hängt auch vom Urteil des Wehrbeauftrag-
ten ab. Im Mai läuft Bartels Amtszeit ab. Er
will weitermachen. Aber die vier zusätzli-
chen Stellen für seine Verwaltung ohne
sein Zutun zeigten ihm: Da planen offen-
kundig schon Kräfte ohne ihn im Amt.
Um den Posten des Wehrbeauftragten
ist ein Konkurrenzkampf ausgebrochen:
Er führt hinein in die Reihen der SPD-Frak-
tion, die das Vorschlagsrecht für den Pos-
ten für sich beansprucht.
Dort ist es auch nicht irgendwer, der
Bartels im Amt beerben will: Es ist Johan-
nes Kahrs, 56 Jahre alt, Oberst der Reserve.
Er ist Abgeordneter aus Hamburg, Spre-
cher des einflussreichen Seeheimer Krei-
ses, in dem sich die Konservativen in der
SPD zusammengeschlossen haben. Und
Kahrs ist ein einflussreicher Haushaltspoli-
tiker im Bundestag. Kahrs hat einmal im
Zusammenspiel mit seinem Unionskolle-
gen der Marine quasi in einer Nacht- und
Nebelaktion neue Korvetten finanziert,
weil die Umstände gerade günstig waren.
Er macht nicht einfach nur Politik, er
macht etwas möglich. „House of Kahrs“,
witzeln manche in Anlehnung an eine be-
kannte Serie im TV, in der Politik von der
skrupellosen Seite gezeigt wird. Öffentlich
erklärt hat Kahrs seinen Willen, Wehrbe-
auftragter zu werden, bis heute nicht. Man
werde gefragt, heißt es.
Aber so viel steht fest: Kahrs will gefragt
werden. Vier zusätzliche Stellen zu organi-
sieren, damit man mehr aus diesem Amt
herausholen kann, war für ihn jedenfalls of-
fenkundig ein Kinderspiel.
Der Wettstreit um das Amt bringt die
SPD-Fraktion in Nöte. Im Sommer 2019
hatten die Abgeordneten in einer denkwür-
digen Sitzung die damals schon taumelnde
Partei- und Fraktionschefin Andrea Nah-
les derart beschädigt, dass ihr nichts ande-
res übrig blieb, als kurze Zeit später aufzu-
geben. Mit Rolf Mützenich wurde danach
ein Versöhner zu ihrem Nachfolger ge-
wählt. Seither war man im Großen und
Ganzen nett zueinander. Ist diese Zeit
schon wieder vorbei? Es geht auch um Soli-
darität, ein Wort, das SPD-Politiker beson-
ders gerne bemühen. Bis zu seiner Wahl
zum Wehrbeauftragten gehörte Bartels 17
Jahre der Fraktion an. Er kann nicht ein-
fach zurück, wenn er seinen Job verliert.
Es fällt schwer, Leute zu finden, die mei-
nen, Bartels habe seinen Job nicht gut ge-
macht. Lob bekommt er vom Koalitions-
partner Union genauso wie aus der Opposi-
tion. Verteidigungsministerin Annegret
Kramp-Karrenbauer (CDU) setzt nun das
von ihm geforderte Sofortprogramm um,
mit dem Ausrüstungsmängel behoben wer-
den sollen. Dass das Ministerium selbst
über Extremismusfälle berichtet, geht ge-
nauso auf Bartels’ Klage zurück.
Allerdings hat Bartels seine Aufgabe
stets weiter gefasst, als Beschwerden der
Soldaten aufzunehmen. Er macht sich Ge-
danken darüber, wie eine Armee der Euro-
päer aussehen kann. Er macht Vorschläge,
wie die Truppe zu reformieren wäre. Da ge-
be einer den „Neben-Verteidigungsminis-
ter“, heißt es in der Fraktion. Dort fehlt es
ihm auch an mächtigen Fürsprechern. Er
und Mützenich, so ist es zu erfahren, hät-
ten keinen wirklichen Draht zueinander.
Am Chefhaushälter Kahrs kommt dage-
gen in der Fraktion kaum jemand vorbei.
Aber ihn durchzusetzen, das ist auch nicht
einfach. Kahrs lässt die Leute genussvoll
die Abhängigkeit spüren. Er ist effektiv,
aber deshalb nicht unbedingt beliebt.
Auch in der Union, die ihn als Koalitions-
partner mittragen sollte, hat Kahrs Geg-
ner. Als der Bundestag den Weg frei mach-
te für die Ehe für alle, für die Kahrs immer
gekämpft hatte, rechnete er mit Kanzlerin
Angela Merkel ab. Erbärmlich und peinlich
sei es gewesen, wie sie und die Union die
Gleichstellung blockiert hätten, schimpfte
er: „Danke für gar nichts.“
Kahrs Programm als Wehrbeauftragter
dürfte ein anderes sein als das von Bartels.
Kahrs stört sich daran, wie die rechtspopu-
listische AfD um die Truppe wirbt und dort
auch einen gewissen Zuspruch erfährt. Ein
Wehrbeauftragter, der sich wieder mehr
als Kümmerer versteht, das könnte wo-
möglich daran etwas ändern. Kahrs will
dieser Kümmerer sein. Genügt das als Ar-
gument für ihn – und gegen Bartels?
Im Moment wird viel geredet in der
SPD. Bartels braucht bald eine Ansage. Am
- Mai 2015 ist er ins Amt gestartet. Die
Blöße, bis dahin niemanden benannt zu ha-
ben, will sich keiner geben. Kahrs oder
Bartels? Oder: Gar keiner von beiden?
Führt womöglich nur eine dritte Person
die SPD aus diesem Dilemma: Eine Frau
aus der Fraktion oder jemand von außen?
Möglich ist das. Dann stünden am Ende so-
gar zwei Verlierer.
Kahrs stört, wie die AfD um die
Truppewirbt. Er will wieder mehr
Kümmerer der Soldaten sein
Der Wettstreit um das Amt
bringt die SPD in Nöte: Gerade
waren alle mal nett zueinander
Wenn der Dienst
an der Seele nagt
Nach traumatischen Erlebnissen
erhalten Polizisten zu wenig Hilfe
Ein Fall, den man nie vergisst: Hier lag
derAmokläufer von Winnenden nach sei-
nem Selbstmord 2009. FOTO: R. WITTEK/DPA
Vier Stellen, die Verdacht erregen
Sein Einsatz für die Bundeswehr bringt Hans-Peter Bartels Lob von vielen Seiten ein. Trotzdem muss
der Wehrbeauftragte um sein Amt fürchten – ein sozialdemokratischer Parteifreund will den Posten haben
Eine Partei, zwei Konkurrenten: Hans-Peter Bartels (SPD, links) will Wehrbeauftragter des Bundestags bleiben, sein Parteifreund Johannes Kahrs will Wehrbeauftrag-
ter werden. Für die SPD kommt das Postengerangel zur Unzeit. FOTO: GREGOR FISCHER/DPA, MICHAEL KAPPELER/DPA
Nahezu zwei Drittel der deutschen Bürger-
meister sind einer Umfrage zufolge in ihrem
Amt bereits beleidigt, beschimpft, bedroht
oder angegriffen worden. 64 Prozent der be-
fragten Bürgermeister berichteten von sol-
chen Attacken, wie aus einer am Dienstag
veröffentlichten Erhebung der Zeitschrift
Kommunalim Auftrag des ARD-Politikmaga-
zins „Report München“ hervorgeht. Jeder
zweite erklärte, schon mehrmals angegan-
gen worden zu sein. Neun Prozent der Befrag-
ten berichteten von körperlichen Angriffen –
etwa bespuckt oder geschlagen worden zu
sein. In Gemeinden mit weniger als 20 000
Einwohnern gaben acht Prozent dies an, in
mittelgroßen Städten 14 Prozent und in Groß-
städten knapp ein Drittel (32 Prozent). Sie-
ben von zehn Rathauschefs gaben an, dass
es gegen ihre Mitarbeiter oder Gemeindever-
treter schon einmal Beleidigungen oder Dro-
hungen gab. DPA
Zwickau – Pia Findeiß ist seit zwölf Jahren
Oberbürgermeisterin in der sächsischen
Stadt Zwickau, und fragt man sie, wie
leicht oder wie schwer es ihr derzeit fällt,
dieses Amt auszufüllen, antwortet sie: „Es
ist eine schöne Aufgabe. Die Verbunden-
heit mit dieser Stadt gibt Kraft.“ Die SPD-
Politikerin hat in den vergangenen Jahren
viel Kraft gebraucht, angesichts der Dro-
hungen und Verleumdungen gegen sie. Es
gab Menschen, die in den sozialen Medien
behaupteten, die Bürgermeisterin beher-
berge IS-Terroristen. Einmal durchschlug
ein Stein ein Fenster ihres Hauses.
Viel Kraft brauchen auch die Menschen,
die sich an diesem Vormittag im Bürger-
saal des Rathauses versammelt haben:
Stadt-, Gemeinde- und Landräte, ehren-
amtliche Bürgermeister, Vertreter der Zivil-
gesellschaft. Sie kommen aus Zwickau –
aber auch aus München, aus Heidelberg
oder Köln. Sie sprechen an diesem Tag
über sich als „Freiwild“, als „Fußabtreter“.
Eingeladen haben sie die Stadt Zwickau
und Bundespräsident Frank-Walter Stein-
meier. Der hat die Unterstützung von Kom-
munalpolitikern zum Schwerpunkt seiner
Arbeit gemacht. Bereits im Sommer 2018
traf sich Steinmeier in Berlin mit Pia Fin-
deiß, um über gegen sie gerichtete Drohun-
gen zu sprechen. 2019 lud der Bundespräsi-
dent Bürgermeister und Kommunalpoliti-
ker zum einem Bürgerfest ein, sagte ihnen
seine Solidarität zu. Doch das Signal war
nicht stark genug. Im sächsischen Dorf
Arnsdorf trat die Bürgermeisterin wegen
eines Burn-outs zurück. In Niedersachsen
aber auch in Bayern gaben Amtsträger auf.
Jene Kommunalpolitiker aber, die nach
Zwickau gekommen sind, machen weiter.
Noch. „Es gibt keinen Zweifel mehr:
Deutschland hat ein massives Problem mit
Hass und Gewalt“, sagt Frank-Walter Stein-
meier in seiner Eröffnungsrede. „Wir dür-
fen nicht zulassen, dass Kommunalpoliti-
kerinnen und -politiker in unserem Land
zu Fußabtretern der Frustrierten werden.
Wir brauchen all die Menschen, die bereit
sind, Verantwortung vor Ort zu tragen.“
Steinmeier thematisiert ein Dilemma:
Drohungen öffentlich zu machen, sei hei-
kel, da sich auch Trittbrettfahrer davon ani-
miert fühlten. Gleichzeitig müsse man
„Probleme benennen, um sie zu lösen“. Ein
Problem war in den vergangenen Jahren
vor allem die Strafverfolgung, das wird in
Zwickau deutlich.
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion
berichtet Pia Findeiß über ein Verfahren,
das sie wegen Verleumdung geführt hat.
Die Täter waren zwar bekannt, doch ein Be-
schuldigter wurde freigesprochen, gegen
den anderen ein geringes Strafmaß ver-
hängt. Begründung: Findeiß sei keine Per-
son öffentlichen Interesses. „Die Botschaft
war: Die Findeiß ist nicht so wichtig, mit
der können wir machen was wir wollen“,
sagt die Bürgermeisterin. Der Landrat und
CDU-Politiker Frank Vogel moniert, die Re-
aktionszeiten der Behörden seien zu lang.
„Das dauert ein bis zwei Jahre bis etwas
passiert.“ Ein Kommunalpolitiker berich-
tet, ihm gehe langsam das Geld für Prozes-
se aus. „Ich hatte bisher 25 Morddrohun-
gen gegen mich.“
Im Bundestag wird derzeit der Entwurf
eines Gesetzes zur Bekämpfung von
Rechtsextremismus und Hasskriminalität
diskutiert. Durch eine Änderung im Straf-
gesetzbuch sollen Kommunalpolitiker als
„Personen des öffentlichen Lebens“ defi-
niert werden. In manchen Ländern gibt es
mittlerweile besondere Anlaufstellen. Auf
dem Podium in Zwickau sitzt Markus Hart-
mann, Oberstaatsanwalt und Ansprech-
partner für Cybercrime in Nordrhein-West-
falen. Er berichtet von einer zunehmenden
Sensibilität. In seinem Bundesland gebe es
mittlerweile eine Hotline zur Bekämpfung
von Cybercrime, die rund um die Uhr er-
reichbar sei. Es brauche mehr solche leicht
erreichbaren Hilfen, mehr spezialisierte
Dienststellen, so Hartmann.
Anna-Lena von Hodenberg, Gründerin
der Initiative Hate Aid, empfahl Bürger-
meistern in den sozialen Netzwerken,
nicht immer alle Kommentare zu lesen
und sich vor Ort der Solidarität anderer zu
vergewissern. Es gehe darum, die vielen
Menschen zu gewinnen, die schweigen,
aber eigentlich mitfühlen. Tatsächlich be-
richtet Pia Findeiß, sie habe sich nie allein-
gelassen gefühlt von den Zwickauern. Sie
hört dennoch vorzeitig auf. Findeiß schei-
det im Juli aus dem Amt. Nicht wegen der
Bedrohungen, wie sie betont: „Ich will in
meinem Leben andere Schwerpunkte set-
zen.“ antonie rietzschel
Attackiert
Oberbürgermeisterin von Zwickau Pia
Findeiß. FOTO: SEBASTIAN KAHNERT/DPA
„Ich hatte bisher 25 Morddrohungen gegen mich“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier trifft sich mit Lokalpolitikern, denen offener Hass entgegenschlägt
Berlin– Unionsfraktionschef Ralph
Brinkhaus (CDU) hat SPD-Chefin Saskia
Esken für ihr Verhalten nach dem Tref-
fen des Koalitionsausschusses am Sonn-
tag kritisiert. Die SPD habe teilweise
stundenlang wegen eines Satzes verhan-
delt, sagte Brinkhaus am Dienstag laut
Teilnehmern in der Unions-Fraktionssit-
zung. Es sei nicht anständig, dass Esken
danach an die Öffentlichkeit gehe und
politisches Kapital daraus schlage, dass
so lange verhandelt worden sei, sagte
Brinkhaus demnach. Angesichts des-
sen, was Deutschland unter Führung
der Union in den letzten Jahren für
Flüchtlinge getan habe, verbitte er sich
„jede Beurteilung über unsere Auffas-
sung von Humanität“. Unter Applaus
der Abgeordneten soll er weiter gesagt
haben: „Wenn alle Länder so eine Huma-
nität hätten wie Deutschland, sähe es in
Europa anders aus.“ dpa
München –Der weltweit erste Prozess
gegen mutmaßliche syrische Geheim-
dienstmitarbeiter wegen Verbrechen
gegen die Menschlichkeit wird vom 23.
April an in Koblenz stattfinden. Eine
Anklage des Generalbundesanwalts hat
der Staatsschutzsenat des Gerichts am
Dienstag angenommen. Die Angeklag-
ten Anwar R. und Eyad A. kamen als
Flüchtlinge nach Deutschland, haben
zuvor laut Anklage in Gefängnissen des
Assad-Regimes Dienst getan. Anwar R.
soll als Mittäter für die Folter von 4000
Menschen und die Tötung von 58 Gefan-
genen verantwortlich sein. Eyad A. soll
in mindestens 30 Fällen Beihilfe zur
Folter geleistet zu haben. Nach dem
Weltrechtsprinzip können deutsche
Behörden bei Kriegsverbrechen tätig
werden, auch wenn der Tatort im Aus-
land liegt und weder Opfer noch Täter
Deutsche sind. mob
Berlin– Das Auto des kommissari-
schen Berliner AfD-Landesvorsitzen-
den Nicolaus Fest ist durch einen Brand-
anschlag beschädigt worden. Das teilte
die AfD am Dienstag mit. Die Polizei
nannte den Namen des Besitzers nicht,
bestätigte aber eine Brandstiftung mit
einer „möglichen politischen Tatmotiva-
tion“ an einem Fahrzeug in der Nacht
zuvor in Berlin-Charlottenburg. Fest,
der auch Europa-Abgeordneter ist,
sprach in einer Erklärung von „linksra-
dikaler Gewalt“. Bereits in der Nacht
zum 2. März hatten Unbekannte in Sach-
sen einen Brandanschlag auf das Auto
des AfD-Bundesvorsitzenden Tino Chru-
palla verübt. Auf einer linksradikalen
Internetseite hieß es am Dienstag zu-
dem, am Haus des innenpolitischen
Sprechers der AfD-Bundestagsfraktion,
Gottfried Curio, im Berliner Süden sei-
en in der Nacht die Scheiben eingeschla-
gen worden. Farbflaschen seien an und
in das Haus geworfen worden. Die Poli-
zei bestätigte, dass eine Anzeige einge-
gangen sei. dpa
Köln– Der Kölner Erzbischof Rainer
Woelki hat die Vorstellung eines Be-
richts zum Umgang mit Missbrauchsfäl-
len kurzfristig verschoben. Ein neuer
Termin wurde noch nicht mitgeteilt.
Der Grund sei eine unklare Rechtslage,
teilte das Erzbistum am Dienstag mit.
Es war geplant, bei der Präsentation am
Donnerstag auch diejenigen zu benen-
nen, die im Erzbistum dafür verantwort-
lich waren, dass Missbrauchsfälle nicht
konsequent aufgedeckt und geahndet
wurden. Diese „identifizierbare Nen-
nung der früheren Verantwortungsträ-
ger“ sei aber noch nicht in all ihren
Rechtsaspekten „abschließend geklärt“.
Es gebe „erhebliche Zweifel an der
Rechtssicherheit“. dpa
Berlin– Der Deutsche Ethikrat befür-
wortet den Einsatz von mehr Roboter-
Technik in der Altenpflege, sofern der
Mensch im Mittelpunkt steht. In seiner
am Dienstag in Berlin vorgestellten
Stellungnahme „Robotik für gute Pfle-
ge“ mahnen die Experten aber, Technik
dürfe niemals Pflegepersonal oder die
zwischenmenschliche Beziehung in der
Pflege ersetzen. Sei das gewährleistet,
könne Robotik pflegebedürftigen Men-
schen zu einer höheren Lebensqualität
verhelfen und die Arbeit von Pflegekräf-
ten und Angehörigen erleichtern, er-
klärt der Ethikrat. Viele Befürchtungen
seien berechtigt, es dürften aber nicht
die Chancen übersehen werden, sagte
der Ethikrats-Vorsitzende Peter Da-
brock: „Menschlichkeit und Technik
müssen kein Gegensatz sein.“ Roboter
(FOTO: MARIEN GESELLSCHAFT SIEGEN)dürften
nicht gegen den Willen der Gepflegten
oder der Pflegenden eingesetzt werden
und nicht, um die Effizienz einer Pflege-
einrichtung zu steigern.epd
8 HF2 (^) POLITIK Mittwoch, 11. März 2020, Nr. 59 DEFGH
Brinkhaus kritisiert Esken
Folterprozess gegen Syrer
Anschläge auf AfD-Politiker
Erzbistum lässt sich Zeit
Ethikrat für Pflegeroboter
INLAND