AUSLAND
102 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022
stellte, schien sie die ideale Wahl zu
sein. Die Tochter einer Wissenschaft-
lerin aus Indien, die nach der High-
school an der Howard University
studiert hatte, einer der traditions-
reichsten Universitäten für schwarze
Studenten in den USA.
Nach dem Tod von George Floyd
durch einen weißen Polizisten, nach
den »Black Lives Matter«-Protesten
wirkte ihre Wahl wie eine Selbst-
verständlichkeit. Neben Biden mit
seinen Slippern und Einstecktüchern
sollte Kamala Harris das neue, viel-
fältige Amerika verkörpern. Eigent-
lich waren die beiden das perfekte
Paar. »Ich habe keinen Zweifel, dass
ich die richtige Person ausgesucht
habe«, sagte Biden.
Aber vom Zauber des Anfangs war
nicht viel zu spüren, als der Präsident
vor ein paar Wochen den Garten des
Weißen Hauses betrat, um das Infra-
strukturpaket zu unterschreiben, für
das er und seine Partei so lange ge-
kämpft hatten. Am Ende der Zere-
monie drängten sich die Ehrengäste
um den Präsidenten, Harris musste
sich ins Bild schieben.
Natürlich kann das nur eine Un-
achtsamkeit gewesen sein, ein kleiner
Regiefehler. Doch die Szene passt zu
dem Eindruck eines dysfunktionalen
Weißen Hauses. Ein 79-jähriger Prä-
sident muss dabei zusehen, wie seine
innenpolitische Agenda im Kongress
zerpflückt wird, während seine poten-
zielle Nachfolgerin in einem Strudel
aus Intrigen und Personalquerelen
versinkt.
Seit Monaten machen in Washing-
ton Geschichten über das Büro von
Harris die Runde. Es geht dabei um
eine herrische Chefin, die ihre Launen
an den Untergebenen auslässt und
Fehler immer nur bei anderen erkennt.
Schon im Sommer gab es so viele
Durchstechereien, dass sich Harris’
Sprecherin Symone Sanders genötigt
sah, die Gegner in den eigenen Rei-
hen öffentlich als »Feiglinge« zu be-
zeichnen. Sie setzte einen Tweet mit
Bildern einer Party ab, die Harris
für ihre Angestellten geschmissen hat-
te. Zu sehen waren lachende Men-
schen. »Das Essen war toll, und die
Leute großartig«, schrieb Sanders.
Fünf Monate später kündigte sie
selbst.
Man muss sich Washington wie
eine Börse vorstellen, nur dass in der
amerikanischen Hauptstadt keine Ak-
tien gehandelt werden, sondern Poli-
tiker. Die Stadt ist voll von jungen und
ehrgeizigen Leuten, die an teuren
Universitäten ausgebildet wurden.
Viele davon halten Ausschau nach
einer Politikerin oder einem Politiker
mit Wachstumspotenzial, an den oder
die sie sich hängen können.
Sanders, 32, ist der Prototyp dieser
Spezies: Sie begann ihre Karriere als
Pressesprecherin des linken Senators
Bernie Sanders, unterschrieb dann
einen Vertrag als Kommentatorin bei
CNN und heuerte später bei der Kam-
pagne Joe Bidens an. Immer wenn es
brenzlig wurde, stand Sanders vor der
Kamera und verteidigte ihren Chef.
Ihre Memoiren, die sie im vergange-
nen Jahr veröffentlicht hat, heißen:
»Nein, du hältst die Klappe«.
Natürlich ist es denkbar, dass sich
Sanders nach dem Stress der Kam-
pagne und dem aufreibenden Jahr als
Sprecherin von Harris nach einer bes-
seren Work-Life-Balance sehnte. Das
jedenfalls war ihre offizielle Erklä-
rung für den Abgang. Nur: Wie glaub-
würdig ist das?
Washington wimmle vor Leuten,
die in das Weiße Haus hineinwollten,
sagt Gil Duran, der Harris als Kom-
munikationschef diente, als die se noch
Generalstaatsanwältin von Kalifornien
war. »Bei der Vizepräsidentin scheint
es umgekehrt zu sein.« Kurz vor San-
ders hatte schon Harris’ Kommunika-
tionschefin Ashley Etienne das Weiße
Haus verlassen.
Bei Harris habe es schon vor Jah-
ren ein ungutes Muster gegeben, sagt
Duran. Sie habe sich von ihren Mit-
W
ahrscheinlich erlebte Kama-
la Harris den besten Moment
ihrer Amtszeit, bevor diese
richtig begonnen hatte. Es war der
Abend des 7. November 2020, als sie
in einem weißen Hosenanzug auf
einer Bühne in Delaware stand und
darüber sprach, dass sie bald die erste
Vizepräsidentin der USA sein werde.
Das Leuchten ihrer Kleidung wurde
nur noch überstrahlt von Harris’ Lä-
cheln; es war die Freude einer Frau,
für die sich ein Traum erfüllte.
»Jedes kleine Mädchen, das heute
Abend zuschaut, erkennt: Dies ist ein
Land der Möglichkeiten«, sagte Har-
ris. »Träumt mit Ehrgeiz, führt mit
Überzeugung. Seht euch, wie andere
euch nicht sehen.«
Die Sätze waren als Ermunterung
für junge Frauen in Amerika gedacht,
aber Harris sprach natürlich auch
über sich selbst, die in ihrem Leben
so oft die Erste war: erste General-
staatsanwältin von Kalifornien, erste
schwarze Senatorin von der Westküs-
te, nun bald die erste Vizepräsidentin
im Weißen Haus.
Nur etwas Glück, so schien es an
jenem Abend, und sie würde später
Joe Biden beerben, der im Wahl-
kampf durchschimmern ließ, dass er
mit Ende siebzig nur ein Übergangs-
präsident sein werde.
Aber steckte in dem Auftritt nicht
schon der Keim des Niedergangs? Der
weiße Hosenanzug, den Harris trug,
war als Reverenz an die weißen Klei-
der der Suffragetten gedacht, die
Anfang des 20. Jahrhunderts in den
USA das Wahlrecht für Frauen er-
kämpft hatten. Aber es war auch ein
über 3000 Dollar teures Designer-
stück von Carolina Herrera, und so
konnte man Harris auch durch eine
andere Brille betrachten: als Vertre-
terin einer liberalen Westküstenelite,
die mit dem abgehängten Amerika
des Mittleren Westens so viel zu tun
hat wie Beverly Hills mit Youngs-
town, Ohio.
Als Biden die Senatorin im August
2020 als seine Stellvertreterin vor-
Biden muss
zusehen,
wie seine
Agenda im
Kongress
zerpflückt
wird.
Der Fluch des Anfangs
USA Kamala Harris zog als Vorkämpferin für Frauen und Schwarze ins Weiße
Haus. Doch die Umfragewerte der Vizepräsidentin stürzen ab, ihre Leute laufen
ihr davon – und die Demokraten fragen sich, wer auf Joe Biden folgen könnte.
Berittener US-
Grenzschützer,
Migranten in
Texas: Eine Lage,
bei der es für
Harris nichts zu
gewinnen gibt
Paul Ratje / AFP
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