WISSEN
118 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022
R
obert Delatolla sah als einer der Ersten,
wie die Omikron-Welle auf die kana-
dische Hauptstadt Ottawa zurollte. Der
Umweltingenieur ist ein intimer Kenner der
Kloake, fast täglich nimmt sein Team Proben
aus Becken im Klärwerk und untersucht sie
im Labor auf Erbgut von Coronaviren. Bis
zum 9. Dezember fand sein Team noch keine
Hinweise auf die hochansteckende Variante.
Am 11. Dezember jedoch tauchte sie erstmals
im Abwasser auf, eine Woche später domi-
nierte sie das Seuchengeschehen. Seit Weih-
nachten findet er im Abwasser praktisch nur
noch Virusbestandteile von Omikron, Spuren
der Delta-Variante kommen kaum noch vor.
»Das bestätigen nun auch die klinischen
Daten«, berichtet Delatolla in einer E-Mail.
»Das Abwasser in Ottawa ist innerhalb von
nur einer Woche von Delta zu Omikron um-
gekippt«, schreibt sein Kollege Tyson Graber
auf Twitter: »Das hat es noch nie gegeben. Al-
pha brauchte vier Wochen, um den Vorgänger
zu verdrängen. Delta brauchte zwei Wochen,
um Alpha zu verdrängen.« Die Abwasser-
werker sind stolz auf ihre Forschung, in seinem
Twitterprofil nennt Graber als Berufsbezeich-
nung »Zellbiologe und Poopcaster« – sinn-
gemäß so etwas wie »Fäkalwetterfrosch«.
Bereits seit April 2020 benutzt das Team
aus Ottawa die Kloake zur Überwachung der
Pandemie. Die Messdaten sind öffentlich zu-
gänglich. Derzeit wird in Ottawa erbittert
darüber gestritten, ob die Schulen trotz der
Omikron-Welle weiter Präsenzunterricht an-
bieten sollen. Bei der öffentlichen Diskussion
werden die Abwasserdaten inzwischen wie
selbstverständlich mit einbezogen, Zeitungen
zitieren sie, Gesundheitspolitiker berücksich-
tigen sie bei ihren Entscheidungen.
Ganz anders ist die Lage einstweilen in
Deutschland. Hierzulande gibt es einen er-
heblichen Zeitverzug bei der Abbildung der
pandemischen Lage. Wie weit ist Omikron
verbreitet? Lange konnte diese Frage nicht
zuverlässig beantwortet werden. Die offiziel-
len Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI),
das auf die Meldungen der Gesundheitsämter
angewiesen ist, waren teils ungenau und ver-
altet. Stell dir vor, es ist Omikron, aber keiner
merkt es.
Erst allmählich beginnt sich der Nebel zu
lichten. Die RKI-Zahlen vom Donnerstag
zeigten für die letzte Dezemberwoche einen
Omikron-Anteil von mehr als 80 Prozent in
Bremen, über 60 Prozent in Schleswig-
Holstein und Niedersachsen und noch unter
5 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern,
Sachsen und Sachsen-Anhalt.
Das hätte man vermutlich auch früher wis-
sen können. Kurz vor Weihnachten schon
vermeldete ein Konsortium aus Abwasser-
forschern erste Omikron-Funde an einigen
Messpunkten, zum Beispiel in Bayern, Hessen
und Nordrhein-Westfalen; doch diese Stich-
proben waren noch vorläufig und nicht be-
sonders belastbar. Der Anteil von Omikron
lag demnach zwischen 0,4 und 3 Prozent.
Derlei Schnappschüsse zeigen zwar, dass das
Prinzip der Abwassertests funktioniert; da
die Proben aber nicht flächendeckend genom-
men und analysiert werden, taugt dieses Ver-
fahren, anders als in Ottawa, hierzulande
noch nicht als zuverlässiges Pandemieüber-
wachungssystem.
Doch das soll sich bald ändern. Die drei
Ministerien für Gesundheit, Umwelt und Bil-
dung arbeiten gemeinsam an der Einführung
eines nationalen Abwassermonitorings. »Der
Pilotbetrieb soll noch im Februar 2022 starten
und zunächst bis Ende 2022 dauern«, heißt
es aus dem Bundesministerium für Bildung
und Forschung. Die Abwasserdaten könnten
dann auch auf der Website des RKI auftau-
chen. Der Projektumfang ist indes immer
noch bescheiden: 2,9 Millionen Euro für die
derzeit drei beteiligten Projekte. Damit
kommt die Bundesregierung endlich einer
Vorgabe der EU-Kommission nach, die die
Mitgliedsländer schon vor fast einem Jahr
aufgefordert hatte, bis spätestens zum 1. Ok-
tober 2021 nationale Abwasserüberwachungs-
systeme aufzubauen.
Die Vorteile eines solchen Monitoring- und
Frühwarnsystems sind vielfältig: Virenparti-
kel tauchen schon im Abwasser auf, bevor die
Infizierten überhaupt zum Arzt gehen. Ein
Fachaufsatz von Andreas Thiem vom Techno-
logiezentrum Wasser (TZW) in Karlsruhe, der
kurz vor Weihnachten erschien, belegt einen
Vorsprung von etwa zwei Wochen (siehe Info-
grafik).
Der Grund ist einfach: Nicht jeder Infizier-
te lässt sich testen, aber jeder geht aufs Klo.
In der aktuellen Phase der Pandemie könnte
die Abwasseruntersuchung wichtig werden,
weil immer mehr Infektionen ohne ernsthafte
Symptome abliefen, argumentiert der Um-
weltingenieur Kyle Bibby, Professor an der
University of Notre Dame im amerikanischen
Indiana. Obwohl die Infizierten keine Symp-
tome zeigen, können sie dennoch ansteckend
sein. Er schränkt ein: Je besser das klinische
Testsystem sei, desto geringer seien die Vor-
teile der Abwasserüberwachung.
Vor allem eine solche »stille Pandemie«
lässt sich im Abwasser gut verfolgen, um ge-
gebenenfalls in betroffenen Stadtteilen
schneller handeln zu können, zum Beispiel
durch Massentests oder regional begrenzte
Lockdowns. Und während die meisten Bür-
gertests mit persönlichen Daten verknüpft
sind, ist die Abwasserüberwachung anonym.
Zudem erfasst sie auch Menschen, die ledig-
lich auf der Durchreise sind, was in Regionen
mit intensivem Grenzverkehr wichtig ist.
Ein weiterer Vorteil: Mit wenigen PCR-
Tests können problemlos Hunderttausende
Menschen gleichzeitig erfasst werden. Derlei
Massentests sind etwa bei niedrigen Inziden-
zen wie im vergangenen Sommer sinnvoll,
wenn die meisten Einzeltests negativ ausfal-
len, was unnötig Geld verschlingt.
Genau dieser Spareffekt könnte vielleicht
auch Widerstände gegen die Abwassertestung
erklären, sagt der Chemieingenieur Bernd
Alarm aus der Kloake
PANDEMIE Während der Feiertage befand sich Deutschland wieder einmal im Corona-Blindflug.
Für Abhilfe soll ein europaweites Frühwarnsystem sorgen: Die Abwassertestung
in Klärwerken kann Ausbrüche früher erkennen – und auch bei der Bekämpfung künftiger Seuchen helfen.
Deutlicher Zusammenhang
SQuellen: Ho et al., TZW Karlsruhe 2022
Sars-CoV-2-Biomarker pro Milliliter
Abwasser in Karlsruhe
Juni Jan. Juni
. und .
Corona-
welle
Die Konzentration der Sars-CoV-2-Biomarker
im Abwasser korreliert mit den Infektionen
je 100.000 Einwohner im Einzugsgebiet.
Die Infektionen wurden etwa zwei Wochen
später registriert.
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