Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

134 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

system, einen Glauben – auch in sei-
ner obskursten Form.
Paul Raisons Frau Prudence, eine
Finanzinspektorin, hat sich von ihrem
Mann über die Jahre entfremdet und
beschäftigt sich, zeittypisch, mit Ent-
spannungstechniken, mit Yoga und
Meditation und mit ihrer Ernährung.
Sie ist Veganerin. Es reicht nicht,
dass die beiden nicht mehr miteinan-
der schlafen, auch im Kühlschrank
herrscht strikte Trennung. Raison, der
weiterhin Fleisch isst, hat ein eigenes
kleines Fach. Er füllt es mit Fertig-
gerichten für die Mikrowelle: »Das
Geflügel stammte aus ›verschiedenen
Ländern der Europäischen Union‹.
Es hätte schlimmer sein können,
dachte er.«
Eines Tages entdeckt Raison bei
seiner Frau einen Zettel. Es ist die Ein-
ladung zu einem esoterischen Fest
namens Jul-Sabbat: »Illustriert war
sie mit einem Foto von jungen Frauen
in langen weißen Kleidern und Blu-
menkränzen auf der Stirn, die, prä-
raffaelitische Gesten andeutend, über
eine sonnenbeschienene Wiese toll-
ten. Es erinnerte ziemlich an einen
Softporno aus den 1970ern; was
war das bloß? Wo war Prudence da
hineingeraten?«
Später findet Raison bei seiner
Frau eine Zeitschrift, das »Magazin
für Hexenkunst«. Sie bietet eine
Definition des Kults, dem auch Pru-
dence seit einiger Zeit anhängt: »Eine
heitere Religion, die unserer Ver-
wandtschaft mit der Natur entspringt.
Sie veranschaulicht eine Einheit mit
der Göttin und dem Gott, den uni-
versellen Energien, die alles Existie-
rende erschaffen haben; es ist eine
enthusiastische Feier des Lebens.«
Den Wicca-Kult gibt es tatsächlich, er
hat gehörnte Gottheiten und Penta-
gramme im Programm. Mit schwarzer
Magie allerdings hat die esoterische
Bewegung, zu der Prudence sich be-
kennt, zumindest im Roman nichts
zu tun. Prudence füllt die Leere in
ihrem Leben mit Spiritualität, und
schließlich entdeckt sie ihren Körper
wieder.
Als ob Esoterik, Mythologie und
Religion ein dringend benötigtes
Gegenwicht darstellten zu Paul Rai-
sons Rationalismus, zu der von ihm
verkörperten Nüchternheit, zieht der
lebenskluge Teil der Figuren in »Ver-
nichten« seine Kraft aus der Spiri-
tualität. Oder zumindest aus emo-
tionalen Schwingungen, aus dem
wertkonservativen Ideal familiären
Zusammenhalts. Was für Prudence
die Esoterik, ist für Raisons Schwester
der Katholizismus. In einem weite-
ren, umfangreichen Strang des Ro-

mans hält die Lebensgefährtin von
Raisons Vater den 77-Jährigen nach
einem schweren Schlaganfall mit Für-
sorge am Leben. Und Maryse, eine
Migrantin aus Benin, beginnt eine
innige Beziehung mit Pauls Bruder,
als der sich von seiner Frau trennt.
Diese Frau, sie heißt Indy, ist die
Gegenfigur zu den positiven Frauen-
gestalten des Buchs, Inbegriff der
säkularen, urbanen Klasse: »Nichts
als eine verunglückte Journalistin
und zu allem Überfluss auch noch
eine Printjournalistin. Mit ihrem
Betroffenheitsgetue, ihrer Selbst-
gefälligkeit, ihrer unübersehbaren
Gewissheit, zum Lager der Guten
zu gehören, ihrer Bereitschaft, vor
jedem VIP aus demselben Lager zu
kuschen, war sie vielleicht die
Schlimmste von allen.«
Houellebecq dürfte wissen, dass
derartige Sätze eine Provokation
sind. Er hat sich in seinem Werk ge-
zielt am eigenen, dem medialen Juste-
milieu abgearbeitet und ist dafür von
einigen in diesem Milieu gehasst, von
sehr vielen aber bewundert und ge-
lesen worden. In Frankreich beträgt
die Startauflage von »Vernichten«,
das im Original »Anéantir« heißt,
angeblich 300 000 Stück. In Deutsch-
land sind es 130 000. Und weil
Houellebecqs französischer Verlag
Flammarion 600 Vorabexemplare
verschickte, hat sich noch vor dem
Jahreswechsel irgendwo ein digitales
Leck aufgetan: Ein paar Exemplare
verbreiteten sich vor der Zeit und lös-
ten auf Social Media einen kleinen
Wirbel aus, wie sich das gehört für
den derzeit noch immer wirkmäch-
tigsten Schriftsteller des Kontinents.
Die Journalistin Indy denunziert
in einem spektakulären Racheakt
einen Teil von Paul Raisons Familie,
Le-Pen-Wähler mit identitärer Ver-
gangenheit, per Magazinartikel als
»Faschos«. Sie löst eine Ereigniskette
aus, an deren Ende ein Toter steht
und die schwarze Migrantin Maryse

Frankreich verlässt. Eine höhnische
Pointe. Aber nur eine von vielen in
einem Buch, in dem es vor allem um
Zivilisationskritik geht.
Die Kritik betrifft den politischen
Betrieb, der sich im französischen
Präsidentschaftswahlkampf des Jah-
res 2027 einmal mehr als ziemlich
inhaltsleeres, von Spindoktoren (bei
Houellebecq sind es zwei Spindokto-
rinnen) betriebenes Geschäft erweist.
Schließlich tritt nicht der Minister
Bruno Juge an, sondern ein ehemali-
ger Fernsehstar. Der dient lediglich
als Platzhalter für den bisherigen Prä-
sidenten der politischen Mitte, eine
Art Macron. Der will eigentlich, wohl
dem Vorbild Putins folgend, nach vier
Jahren Pause zurück ins Amt.
Und diese Kritik betrifft besonders
ausführlich die Bereiche, in denen der
Mensch die Industriegesellschaft am
deutlichsten direkt körperlich zu spü-
ren bekommt: durchrationalisierte
Pflege und hoch technisierte Medizin.
Raisons Vater schwebt nach seinem
Schlaganfall immer in Gefahr, zum
Gegenstand degradiert zu werden.
Auch Paul selbst, der seit einiger Zeit
an heftigen Kieferschmerzen leidet,
wird schließlich zu einem Fall für die
Ärzte. Ihre Diagnose ist vernichtend.
Doch das gilt in diesem Buch nicht
nur für ihn, sondern für die gesamte
säkularisierte Weltgesellschaft mit
ihrer Wachstumsideologie. Auf sie
zielen die Attacken der Terroristen.
Deren Identität wird im Buch nie
ganz klar. Es scheinen vom US-ame-
rikanischen Unabomber inspirierte
Ökofundamentalisten zu sein, zivili-
sationsfeindliche Esoteriker, die nicht
weniger vorhaben, als die globalisier-
te, technisierte und digitalisierte
Menschheit in ihrer jetzigen Form
zu bekämpfen. Am Ende stünde wie-
der die Vormoderne, wenn nicht der
Urzustand, in dem nicht mehr der
Mensch die Erde beherrscht, sondern
eine höhere, aus der Natur hergelei-
tete Macht.
In den Anschlägen zeigt die trans-
zendental aufgeladene Zivilisations-
kritik ihre unmenschliche, bösartige
Seite. Für die Konstruktion des Ro-
mans ist das entscheidend. Denn
»Vernichten« ist ja nicht nur ein Buch,
in dem es um die Kraft der Spiritua-
lität geht, sondern auch ein Roman
darüber, was sich aus Glauben ent-
wickeln kann: eine antiaufkläreri-
sche, totalitäre Ideologie. Der Schlaf
der Vernunft gebiert bekanntlich Un-
geheuer.
Muss man da noch sagen, dass der
Mann, der so vielsagend Paul Raison
heißt, unter Albträumen leidet?

Wicca-Tänzerin:
Einheit mit der Göttin

Houellebecq
arbeitet
sich in seinem
Werk
ge zielt am
eigenen Juste-
milieu ab. Sebastian Hammelehle n

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