KULTUR
144 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022
der Paris Bar heute. »Hirn mit Ei 7,00 Mark,
Schwammerlgulasch mit Knödel 10,00 Mark,
Tafelspitz mit gerösteten Erdäpfeln, Spinat
und Apfelkren 16,00 Mark, 2 cl Hündeler
Chrüterschnaps und Espresso 5,00 Mark.«
Die Spannbreite des Publikums reichte von
Max Frisch über Rainer Werner Fassbinder
bis zu David Bowie und Peter O’Toole. An
einem Abend Mitte der Siebzigerjahre kam
Martin Kippenberger ins Exil und lehnte sich
an Würthles Tresen.
»Er hat mir gleich gefallen, denn er sah
cool aus. Und er ist immer derselbe geblieben.
Eine echte Liebe und Freundschaft geworden.
Eine enge Sache.«
Ob es was zu essen gebe, fragte der Künst-
ler den Barmann.
»Es gibt Reis mit Scheiß«, sagte Würthle.
Das war einer von Würthles Wiener Sprüchen.
»Zum halben Preis!«, entgegnete der Ruhr-
gebietler Kippenberger, der später berühmt
werden sollte durch genau diese Originalität
in seinen Bildertiteln.
An einem anderen Abend kam Würthles
Vater mit dem VW aus Wien zum Exil gefah-
ren. Er hätte sich natürlich vorstellen können,
dass sein Sohn Maler wird, er hatte ihn in Wien
auf die Akademie geschickt. Doch als junger
Mann hatte der Vater selbst in Berlin gelebt,
am Tauentzien, in den Zwanzigerjahren war
das. Und auch wenn er 1976 ein deutlich an-
deres Berlin vorfand, verstand er den Sohn.
Er setzte sich in den VW, fuhr zurück nach
Wien und sagte zu Würthles Mutter: Maria,
stell dir vor, ich habe ihn arbeiten sehen.
Und Michel konnte, was er da tat. Die Bar
zu machen hatte etwas von Ballett. An der
Tür zu stehen war Verhaltenspsychologie. Er
sagt, er habe sich das in Paris abgeschaut, wo
er gelebt hatte, bevor er nach Berlin kam, in
der Brasserie Lipp. Da stand Monsieur Cazes
am Eingang.
»Der war mein Feind, der Monsieur Cazes.
Ein Wunder, von dem habe ich viel gelernt.
Der hatte den Blick. Den Röntgenblick.«
Was ist der Röntgenblick?
»Der Röntgenblick: Er wusste genau, was
ausgegeben, was lockergemacht wird oder
was nicht. Zuerst kam man ins Straflager,
hinauf in den ersten Stock. Manchmal durfte
man unten auf die Terrasse. Aber nur, wenn
es kalt war: Dose Sardinen für 75 Franc. Mich
hat er raufgeschickt. Zweimal, in Begleitung
von Frauen! Aber dann, irgendwann mal war
ich in Paris und kam mit dem Julian Schnabel.
Oh, Monsieur Schnabel! Monsieur Michel!
Sogar lächelnd. Da habe ich gedacht: So läuft
das.«
War das in der Paris Bar dann auch so?
Dass man sich hocharbeiten musste?
»Selbstverständlich. Muss doch sein. Man
muss sich anstrengen. Mit Charme oder Ruhm
ging es ein bisserl schneller.«
Und wenn einer nur mit den richtigen Leu-
ten kommt?
»Reicht auch! Ich sage Ihnen was: Es reicht
manchmal ein Nichts. Zum Beispiel bei den
Filmfestspielen 1981 oder 82, Februar, kalt, die
Paris Bar gesteckt voll, und ich bin an der Tür.
Da kommt einer in einem hellen Regenmantel,
ein zierlicher Herr. Der Herr sagte, er habe
Hunger und Durst, und er sagte es auf Fran-
zösisch. Und ich sage: Aber selbstverständlich,
kommen Sie rein! Er war ein Liebling von mir.
Jean Rouch, ein Regisseur, einer der Gründer
der Nouvelle Vague. Ich kannte ihn aus den
»Cahiers du Cinema«. Dass er zu mir sagte:
J’ai faim, j’ai soif. Das ist ein Sesam-öffne-dich!
Das sagt einer, der die Spielchen kennt.«
Er hat Sie richtig eingeschätzt.
»Ja. Aber um das einmal zu sagen: An der
Tür ist man zum Reinschmeißen da. Nicht
zum Rausschmeißen. Darum geht es doch.«
Ja?
»Ein gutes Lokal muss die Stimmung alle
zwei Stunden wechseln. Erst ist es ein Krampf,
später dann muss die Choreografie perfekt
stimmen, dann ist wieder Platz und irgend-
wann vielleicht Zeit für Exzess. Exzess ist
schön.«
Im Jahr 2005, nach über 25 Jahren Paris
Bar, kam die Steuerfahndung. Vor allem
Sozial abgaben für die Mitarbeiter waren nicht
bezahlt worden, das ergab rund drei Millio-
nen Euro Steuerschulden auf Jahre zurück-
gerechnet, und das wiederum machte zwei
Jahre Gefängnis auf Bewährung für Würthle
und seinen Partner. Bei dem Verfahren vor
dem Berliner Landgericht 2011 sagte der Rich-
ter, man habe es hier »nicht mit typischen
Steuerhinterziehern« zu tun, stand damals in
der »Berliner Morgenpost«. Sie hätten sich
nicht bereichern wollen, sie seien vielmehr
»zwei ältere Männer, die sich in gewissem
Maße um die Berliner Kultur verdient ge-
macht haben«.
Die Paris Bar hatte da längst Insolvenz
angemeldet, neue Wirte hatten Würthles
Lebenswerk übernommen, doch der Insol-
venzverwalter schlug vor, ihn gleich wieder
anzustellen, »als Dekorateur oder so was«,
wie Würthle sagt, denn ohne ihn wäre die
Paris Bar dann eben doch nicht vorstellbar
gewesen.
Das ist mehr als zehn Jahre her. Doch es
war in dieser Zeit, als die Dinge begannen,
zu Ende zu gehen. 2005 war seine Frau Ca-
therine an Lungenkrebs gestorben, das Lokal
war weg, und im Osten der neuen Stadt haben
mit dem Borchardt und dem Grill Royal zeit-
genössischere Interpretationen der Paris Bar
eröffnet (das Grill Royal würde Würthle als
einzigen Konkurrenten akzeptieren).
Er wird Berlin, dem er so viel gegeben hat,
auf absehbare Zeit verlassen. In Hallstatt, wo
Michel Würthle vor fast 80 Jahren geboren
wurde, gibt es das Beinhaus. Da kommen die
Toten hin. Doch da gibt es keinen Platz, hat
man ihm mitgeteilt. Seine Eltern liegen bei
Innsbruck. Dort ruht mit ihnen aus kompli-
zierten Gründen auch noch die voreheliche
dänische Geliebte seines Vaters aus den Ber-
liner Zwanzigerjahren. Da könne er sich
schlecht dazulegen.
Er sagt, er brauche, auch wenn es komisch
klinge, aus seinem Grab einen schönen
Blick.
Er hat etwas angemietet in Jennersdorf im
Burgenland, dort, wo sich Österreich, Slowe-
nien und Ungarn berühren. Es ist das Grab
gleich neben Walter Pichler, seinem alten
Mentor und Freund. »Der Walter hat mich
ästhetisch erzogen.« Und das Beste sei: »Wir
schauen direkt hinüber auf den Hügel, wo
auch der Martin Kippenberger liegt.«
Doch erst mal sind da ja noch die Strahlen-
gurus. n
In Hallstatt, wo er geboren
wurde, gibt es das
Beinhaus. Da kommen
die Toten hin. Doch
die haben keinen Platz.
Künstler Würthle: Gegen das Karzinom anzeichnen
Steffen Jänicke / DER SPIEGEL
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