Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

146 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

S


ie ließ sich klinisch behandeln,
nimmt Medikamente, gab zwi-
schendurch das Schreiben auf.
Seit Jahren leidet die Autorin Ronja
von Rönne unter Depressionen und
Panikattacken. »Sehr oft schreibe ich
nicht, weil es mir übel geht. Manch-
mal kommt ein Tag, an dem ich es
schlicht nicht schaffe aufzustehen«,
schrieb sie 2017 in ihrem Blog. Nun
hat Rönne es dennoch geschafft.
Nach »Jahren des Zweifelns«, wie
sie selbst sagt, erscheint in der
kommenden Woche ihr zweiter
Roman, er trägt den Titel »Ende
in Sicht«. Ein persönlicher Erfolg
muss nicht automatisch zu hoher
literarischer Qualität führen. In die-
sem Fall tut er es aber.
In Rönnes Roman geht es, der Titel
verrät es bereits, um den Tod. Neben
zwei Protagonistinnen, die sich auf
ihren Wegen in den Suizid begegnen,
hat die Schriftstellerin eine dritte
Hauptfigur gewählt, die sie selbst sehr
gut kennt: die Depression. Wie ein
Kofferraum voller Steine macht sie
das Fortkommen schwer und bringt
die Frauen bei Vollgas ins Schlingern.
Für die 15-jährige Juli ergibt das
Leben wenig Sinn. Ihr Vater schuftet
Tag für Tag in einer Druckerei, ihre
Mutter verschwand bereits vor vielen
Jahren. Für ihre Mitschülerinnen und
Mitschüler ist das Mädchen unsicht-
bar, Freunde hat es nicht. In den Pau-
sen isst Juli ihr Käsebrot auf der
Schultoilette. Dort muss sie sich für
ihre Einsamkeit wenigstens nur vor
sich selbst schämen. Eines Tages be-
schließt sie, dass es so nicht weiter-
gehen kann.
Im Nieselregen, »einer Wetterlage,
bei der sich ihr Vorhaben seltsam lä-
cherlich anfühlte«, stürzt sich Juli von
einer Brücke. Und landet direkt vor
Hellas Schrottauto. Obwohl die ältere
Schlagersängerin andauernd am
Steuer einnickt, sieht sie das Mädchen
rechtzeitig. Hella, die sich stets be-
müht, in kein anderes Leben involviert

zu werden, nicht mal so richtig in ihr
eigenes, ist plötzlich unfreiwillig mit-
tendrin in Julis. Sie nimmt die leicht
Verletzte mit, obwohl sie sich selbst
auf ihrer letzten Reise befindet: Nicht
nur Juli hatte genug von diesem Le-
ben, auch Hella wollte allem ein Ende
setzen. Denn »bisher war wenig wirk-
lich Schlimmes passiert und etwas
überraschend Gutes schon gar nicht«.
Feinfühlig lässt Rönne die beiden
Einzelgängerinnen zueinanderfinden.
Trotz einiger Zankereien verblassen
Fatalismus und Lebensüberdrüssig-
keit mit jedem zurückgelegten Kilo-
meter mehr. So ganz verschwinden
sie aber nicht, das wäre auch zu platt.
Existenzielle Krisen lassen sich nicht
durch einen tragikomischen Roadtrip
kurieren.
Dass sich Rönne mit den Tiefen
des Lebens auskennt, hat sie bereits
in ihrem Debüt gezeigt. In »Wir kom-
men« schreibt sie schnoddrig und zy-
nisch von einer polyamoren Vierer-
beziehung, die sich zwischen Egos,
Trauer und Panikattacken auflöst,
ehe sie so richtig beginnt. Auch
in ihrer etwas später erschienenen
Textsammlung »Heute ist leider
schlecht« – ähnlich plotlos, aber poin-
tenreich – ist da dieser eigenwillig
reservierte Ton, der nichts ernst
nimmt, auch nicht sich selbst.

Dieser »Rönne-Sound«, so wurde
er in Rezensionen oft genannt, ist nun
verschwunden. Die Autorin hält die
Welt nicht mehr auf Distanz. Warum
das so ist, darüber lässt sich nur spe-
kulieren. Vielleicht weil zu viel Spott
bloß die eigene Ohnmacht entlarvt.
Stattdessen erzählt Rönne in wohl-
dosierten Pointen und sprachlich sehr
fein von zwei Leben, die ohne große
Paukenschläge aus den Fugen gera-
ten. Sie lässt die Frauen auf einem
Dorffest an der Liebe nippen und eine
kleine Freiheit spüren, bei einer
Übernachtung im Schwimmbad.
Schließlich hat diese Welt für alters-
arme Sängerinnen und einsame Teen-
ager sonst nicht viel übrig, erst recht
kein Mitgefühl.
Auch damit kennt sich Rönne ge-
wissermaßen aus. Der viel diskutier-
te Debattenbeitrag »Warum mich
der Feminismus anekelt« brachte sie
2015 als Jungredakteurin der »Welt«
in die Öffentlichkeit und ihr einen
Shitstorm. Rönne distanzierte sich
später von dem kaum durchdachten,
übellaunigen Text, doch da galt die
damals 23-Jährige schon als Medien-
phänomen.
Sie präsentierte sich in den Jahren
danach bewusst rotzig: fuhr mit
einem blauen Range Rover zum
Bachmann-Wettbewerb, schrieb Ko-
lumnen, moderierte die Arte-Sen-
dung »Streetphilosophy« und diverse
Podcasts. Stets abgeklärt rauchend
und etwas übernächtigt gab sie in den
sozialen Medien und in ihren Texten
die genervte Skeptikerin, deren ein-
zige Überlebensstrategie der Sarkas-
mus ist. Das war immer auch eine
clevere popkulturelle Selbstinszenie-
rung.
Dass sie heute so offen mit dem
eigenen Aufenthalt in der Psychiatrie
umgeht, könnte natürlich auch zum
Image der Kulturpessimistin gehören.
»Wer auch immer behauptet hat, dass
man die Depression zum künstleri-
schen Schaffen brauche, dem wünsch
ich keine«, schreibt jedoch Rönne.
»Die wünsche ich nämlich generell
niemanden.« Man glaubt ihr. Wenn
Kunst nach oder während einer de-
pressiven Episode entsteht, gibt es sie
nicht wegen der Krankheit, sondern
trotz ihr.
Rönne scheint heute zufriedener
zu sein. Auf Instagram teilt sie zu-
mindest mehr Urlaubsfotos, weniger
»Heroin Chic«. Man hofft auch für
Juli und Hella, dass es weitergeht.
Dass sie verstehen, dass man sich in
psychischen Ausnahmesituationen
nicht trauen darf. Und dass ein Auto
voller Steine trotzdem fährt.
Elisa von Hof n

Fatalismus
und Lebens­
überdrüssig­
keit ver­
blassen mit
jedem zu­
rückgelegten
Kilometer.

Den Kofferraum voller Steine


BUCHKRITIK Feinfühlig und weise erzählt Ronja von Rönne in ihrem neuen Roman
vom Leben mit Depressionen. Sie weiß, worüber sie schreibt.

Ronja von Rönne: »Ende in Sicht«. dtv; 256 Sei-
ten; 22 Euro.

Autorin Rönne

Mehran Djojan

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