Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

16 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.

schließend in sogenannten delegierten
Rechtsakten festgelegt werden.
In der EU wird jedoch selten allein
nach sachlichen Kriterien entschie-
den. Schnell zeichnete sich ab, dass
vor allem die beiden führenden Na-
tionen in Europa unterschiedliche
Ansichten haben. Während in
Deutschland die Atomkraft auf brei-
te Ablehnung stößt, ist sie für Frank-
reich ein Schlüsselelement nationaler
Souveränität und unverzichtbarer
Teil der Stromversorgung.
Die Große Koalition von Angela
Merkel setzte dagegen auf klima-
schädliche Gaskraftwerke, um den
Übergang in eine klimafreundliche
Energieversorgung abzusichern.
Ohne sie wird es selbst bei einem
schnellen Ausbau der erneuerbaren
Energien nicht möglich sein, die
Stromproduktion an wind- und son-
nenarmen Tagen sicherzustellen.
Das akzeptieren die Grünen. Eine
Unterstützung der Atomkraft hingegen
ist ein Tabu, sie wäre ein Verrat am Wi-
derstand in Gorleben, Brokdorf, Kalkar.
Als die Grünen 1998 mit der SPD unter
Bundeskanzler Gerhard Schröder eine
Regierung bildeten, setzten sie den Aus-
stieg aus der Kernenergie durch.
Die Grünen beobachteten die Ge-
spräche um die Verordnung 2020/
daher mit bösen Ahnungen. Vor
knapp einem Jahr forderte die Bun-
destagsfraktion in einem Antrag, sich
»insbesondere« gegen die Einstufung
von Atomkraft als nachhaltige Geld-
anlage auf EU-Ebene zu stellen.
Im Juni 2020 legte die EU-Kom-
mission fest, welche Wirtschaftsakti-
vitäten einen »wesentlichen Beitrag
zum Klimaschutz« leisten, zum Bei-
spiel der Betrieb von Wind- und Was-
serkraftwerken. Den schwierigen Teil,
die künftige Rolle von Gas und Atom-
kraft, sparte die Kommission aus.
Hinter den Kulissen verhandelten
Franzosen und Deutsche über dieses
Thema. Während die Franzosen kraft-
voll für die Kernenergie eintraten,
hatte die Große Koalition keine ein-
heitliche Haltung. Die damalige Um-
weltministerin Svenja Schulze (SPD)
wollte Gaskraftwerke unter strengen
Bedingungen in die Taxonomie auf-
nehmen. Ex-Wirtschaftsminister Pe-
ter Altmaier hingegen notierte in grü-
ner Tinte im Herbst auf eine Vorlage
aus seinem Haus: »Wir können Kom-
promisse machen, sofern sicher-
gestellt ist, dass Bau und Betrieb
neuer Erdgaskraftwerke (...) möglich«
bleiben. Kanzlerin Merkel hielt sich
erst einmal raus, wie gewohnt.
Dass Atomkraft und Gas Teil der
Taxonomie würden, wusste die Gro-
ße Koalition spätestens im Oktober.

»Wir brauchen eine stabile Energie-
quelle, die Atomkraft und, in der
Übergangszeit, Gas«, twitterte Kom-
missionschefin von der Leyen nach
einem EU-Gipfel. Eine Bekräftigung
folgte kurz darauf. Die Kommission
werde wohl nicht nur Erdgas in ihren
Vorschlag aufnehmen, kabelte der
deutsche EU-Botschafter Michael
Clauß am 10. November nach Berlin.
Frankreich und andere Länder sähen
auch »die Chance, Kernkraft als grü-
ne Energie der Zukunft festzuschrei-
ben«. Eine »große Mehrheit der Mit-
gliedstaaten« unterstütze das oder
halte es zumindest für akzeptabel.
Damit war klar, wie die Sache aus-
gehen würde. Um den Vorschlag der
Kommission zu stoppen, müssten 20
der 27 Mitgliedsländer mit mindes-
tens 65 Prozent der EU-Bevölkerung
dagegen stimmen – oder eine abso-
lute Mehrheit des EU-Parlaments.
Beides war und ist nicht in Sicht.
Das war der Ampelkoalition be-
wusst, als sie am 8. Dezember die
Regierung übernahm. Scholz hat das
Thema vor der letzten Kabinettssit-
zung vor der Weihnachtspause mit
Robert Habeck, FDP-Chef Christian
Lindner und Umweltministerin Stef-
fi Lemke (Grüne) besprochen.
In Habecks Umfeld betont man,
dass sich der Minister unmittelbar
nach Amtsantritt in die Verhandlun-
gen eingeschaltet habe. Dabei sei klar
gewesen, dass an der Grundsatzent-
scheidung der Kommission wohl nicht
mehr zu rütteln sein werde. Bessere
Bedingungen waren das Ziel.
Habeck sprach mit den zuständi-
gen Kommissionsmitgliedern in Brüs-
sel und mit seinem französischen
Amtskollegen Bruno Le Maire – an-
geblich mit Erfolg: Investitionen in
Gaskraftwerke sollen nur als nach-
haltig gelten, wenn diese auch Was-
serstoff verbrennen können, schon ab
2035 weitgehend nicht mehr mit Erd-
gas betrieben werden und bis 2030
genehmigt sind. So strenge Regeln für

Gas hätte es unter der alten Bundes-
regierung nicht gegeben, heißt es im
Wirtschaftsministerium.
Die Franzosen versuchen nun, das
Ergebnis der Taxonomie mit Rück-
sicht auf die Deutschen herunterzu-
spielen. Auch Paris habe zurückste-
cken müssen, sagt der Vorsitzende
des Umweltausschusses im Europa-
parlament, Pascal Canfin. »Frank-
reich hat bis zur letzten Minute ver-
sucht, die Atomkraft in die Kategorie
der grünen Energiequellen zu bekom-
men.« Dass die Kernenergie nun le-
diglich als Übergangstechnologie be-
zeichnet werde, sei daher bereits ein
Kompromiss.
Das sehen die Grünen anders. Ob-
wohl die Aufnahme von Gas und
Atomkraft in die Taxonomie keine
Überraschung gewesen sein konnte,
empörten sich Habeck und Lemke,
als wären sie aus allen Wolken
gefallen. Atomenergie sei »gefähr-
lich«, eine »Hochrisikotechnologie«,
schimpfte Lemke. Es wirkte wie
Theaterdonner.
Ska Keller, Co-Chefin der Grünen-
fraktion im Europaparlament, be-
streitet diesen Eindruck: »Dass die
Regeln für die Atomkraft in der Ta-
xonomie so lax sein sollen, war bis
zuletzt nicht klar.« Deshalb sei die
Aufregung keineswegs »inszeniert«,
auch wenn klar war, dass die Atom-
kraft darin eine Rolle spielen würde.
Die Bundesregierung will in den
kommenden Tagen versuchen, den
Entwurf der Verordnung zu ändern.
Viel Zeit bleibt nicht. Die Mitglieds-
länder müssen der Kommission bis
nächsten Mittwoch Änderungswün-
sche mitteilen. Voraussichtlich am


  1. Januar wird von der Leyens Kabi-
    nett über die finale Fassung entschei-
    den. Anschließend folgt eine vier-
    monatige Begutachtungsphase für die
    Mitgliedsländer und das Parlament.
    Am 1. Januar 2023 soll der delegierte
    Rechtsakt in Kraft treten, ab dann
    wäre die Taxonomie in der Welt.
    Habecks Beamte machen sich
    kaum Hoffnung. »Einflussnahme-
    möglichkeiten im weiteren Verfahren
    sind begrenzt«, heißt es in einer in-
    ternen Vorlage für die Führungsebe-
    ne des Wirtschaftsministeriums, die
    dem SPIEGEL vorliegt. In Paris jeden-
    falls wäre man nicht bereit, noch
    substanzielle Änderungen an den Re-
    geln für Gas- oder Atomkraftwerke
    zu akzeptieren. Man betrachte den
    von der Kommission vorgelegten
    Vorschlag als »final«, heißt es aus
    französischen Regierungskreisen.
    Präsident Macron steht mitten im
    Wahlkampf, für ihn ist der Vorschlag
    der Kommission von zentraler Be-


»Unsere
Spitze in der
Regierung
muss noch
mehr Härte
entwickeln.«

Präsident Macron,
Kanzler Scholz:
Außenpolitik
als Chefsache

[M] Michael Kappeler / dpa

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