DEUTSCHLAND
18 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.
deutung. Seit mehr als einem Jahr
habe man mit großem Aufwand dar-
aufhin gearbeitet, sagte ein Berater
diese Woche. Macron habe sich bei
der Kommission persönlich dafür ein-
gesetzt, dass der Passus zum Atom-
strom zustande kommt. Ihm geht es
um mehr als bloße Energieversor-
gung. Nuklearstrom garantiere
»Energiesouveränität«, wie es im Ély-
sée heißt. Frankreich will auf keinen
Fall – wie Deutschland – von russi-
schem Gas abhängig sein.
Für Paris hat das Abkommen auch
hohen symbolischen Wert. »Es war
der erste Test für die Zusammenarbeit
mit der neuen Koalition und für die
Frage, welche Handlungsmarge der
neue Kanzler hat«, heißt es im Um-
feld der beteiligten Pariser Ministe-
rien. Demnach hat Scholz den Test
bestanden.
Die Regierung in Paris ist zuver-
sichtlich, dass der Kommissionsvor-
schlag mit geringfügigen Änderungen
durchkommen wird. Deutsche Beob-
achter der Verhandlungen sehen das
ähnlich. Es sei eher unwahrscheinlich,
dass man zu Beginn der französischen
EU-Ratspräsidentschaft und wenige
Monate vor den Präsidentschaftswah-
len in Paris einen großen Streit um
den Vorschlag vom Zaun brechen
werde, sagt einer von ihnen.
Nähme Brüssel die Änderungs-
wünsche aus Berlin nicht auf, würde
die Koalition der Verordnung wohl
nicht zustimmen. »Eine Zustimmung
zu einem EU-Rechtsakt, der Atom als
nachhaltig labelt, kommt für die Bun-
desregierung nicht in Betracht«, heißt
es aus Habecks Umfeld.
Der Koalitionspartner FDP ist we-
niger streng. »Wenn wir es schaffen,
den Vorschlag der Kommission noch
an einzelnen Stellen nachzubessern,
dann wäre es mein Wunsch, dass die
Bundesregierung dem Taxonomie-
Rechtsakt in seiner Gänze zustimmt«,
sagt der klimapolitische Sprecher Lu-
kas Köhler. Er wäre zufrieden, wenn
zur Bedingung gemacht würde, dass
die Atomkraftbetreiber die Risiken
und die Entsorgungskosten selbst fi-
nanzieren müssen. Option eins wäre
in dieser Lage, sich als Regierung zu
enthalten. Option zwei wäre, frucht-
los dagegen zu stimmen, um die grü-
ne Basis zu beruhigen.
Der Ärger dort jedenfalls ist groß.
»Bei uns hat’s einen großen Aufschrei
gegeben«, sagt Valentine Siemon,
Vorstandssprecherin des Kreisver-
bands Elbe-Elster. »Viele haben ihrem
Unmut Luft gemacht. Die Mehrheit
differenziert aber durchaus zwischen
Atom und Gas. Mit Letzterem wer-
den wir wohl leben müssen, obwohl
das mit der ›Brückentechnologie‹ na-
türlich Blödsinn ist. Von unseren Spit-
zenpolitikern erwarten wir jetzt, dass
sie sich klar positionieren.«
Thomas Heidemann, Vorstands-
sprecher im Kreisverband Diepholz,
sagt: »Wir sind schon enttäuscht. Be-
sonders wenn ich bedenke, wo wir im
Frühjahr mal waren. Trotzdem sehe
ich uns klar auf dem Weg zur Volks-
partei. Wir müssen ins Regieren kom-
men – und dazu gehört auch, in der
Energiefrage Kompromisse zu ma-
chen, pragmatisch zu sein. Das wird
einigen Hartgesottenen nicht gefallen.
Ich glaube aber nicht, dass es deswe-
gen bei uns im Kreisverband zu Aus-
tritten kommen wird. Und die Leute
um Robert Habeck werden die Dinge
schon geraderücken können.«
Einen erheblichen Unterschied
gibt es zwischen der grünen Partei-
basis und dem Umfeld der Partei, zum
Beispiel der Klimabewegung Fridays
for Future. Dort empört man sich we-
niger über Atomkraft als über das
Erdgas. Kurz vor Silvester wurde der
Hashtag »#OlafSchummelt« tausend-
fach auf Twitter geteilt. Die Aktivistin
Luisa Neubauer schrieb: »Als erste,
große, internationale Klimaentschei-
dung seiner Amtszeit plant Olaf
Scholz, dem EU-Vorschlag zuzustim-
men, Erdgas als ›grüne‹ Energie zu
labeln. Nichts an Erdgas ist grün.
Nichts. Was ein Wahnsinn.«
Die Grünen wurden zunächst ver-
schont. Doch je heftiger die Partei die
Atomkraft verurteilte und je halbher-
ziger sie sich von der Aufnahme von
Gas in die Taxonomie distanzierte,
desto deutlicher wurde die Kritik. Der
Klimaaktivist Nick Heubeck sagt:
»Weil sich die Grünen nicht eindeutig
gegen den Kurs der Koalitionspartner
positionieren, sind sie für das Brem-
sen der europäischen Energiewende
mitverantwortlich. Stellen sie in der
Regierung politisches Kalkül weiter
vor die Bekämpfung der Klimakrise,
machen sie sich als Partei selbst über-
flüssig.«
Niklas Höhne, Wissenschaftler am
NewClimate Institute, sieht das ähn-
lich: »Gas als nachhaltig zu deklarie-
ren wäre katastrophal für den Klima-
schutz. Es setzt das komplett falsche
Signal und suggeriert, wir hätten noch
Zeit. Für Gas als sogenannte Brücken-
technologie haben wir aber einfach
keine Zeit mehr.«
Da zeichnet sich ein Grundkonflikt
dieser Legislaturperiode ab. Die Kli-
mabewegung ist eine außerparlamen-
tarische Opposition, die alles fordern
kann, weil sie nichts umsetzen oder
mittragen muss. Die Grünen werden
eingeklemmt sein zwischen diesen
Ansprüchen und den Erfordernissen
des Regierens.
Ähnlich sieht das auch in der
Außen- und Sicherheitspolitik aus.
Auch hier lauern wohlgenährte Krö-
ten am Wegesrand, auch hier verfol-
gen die Grünen einen moralischen
Ansatz. Sie wollen mehr auf Men-
schenrechte achten, feministische
Außenpolitik machen, weniger zahm
gegenüber den autoritären Regimen
in Russland oder China auftreten,
Rüstungsexporte beschränken. Ihre
Koalitionspartner sehen das oftmals
anders, manchmal konträr. Oder sie
haben einfach Fakten geschaffen: Die
Vorgängerregierung, der die SPD an-
gehörte, hat kurz vor dem Macht-
wechsel heikle Rüstungsexporte in
Milliardenhöhe genehmigt.
Aber die Grünen wollten unbe-
dingt in der Außenpolitik an führen-
der Stelle mitmischen, oder genauer:
Annalena Baerbock wollte das. Nicht
wenige in der Partei hielten es nie für
eine sonderlich gute Idee, das Aus-
wärtige Amt zu beanspruchen. Sie
sehen darin ein Selbstverwirkli-
chungsprojekt der Parteichefin. Nun
muss die Partei damit umgehen – und
die Probleme sind riesig.
Russland zieht Abertausende Sol-
daten und schwere Waffen an der
Grenze zur Ukraine zusammen, und
Experten fürchten, Präsident Wladi-
mir Putin könnte es ernst meinen mit
einem Einmarsch. Das würde bedeu-
ten: ein Invasionskrieg in Europa. Die
Protest von Fridays
for Future in Berlin:
Keine Nachsicht für
politische Zwänge
[M] Dominik Butzmann / laif
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