DEUTSCHLAND
Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 19
Der Alleingang
ANALYSE Der Bundespräsident legte selbst die Basis für seine zweite Amtszeit –
und sollte seine absehbar breite Mehrheit nun auch nutzen.
Am Mittwoch wird der Bundespräsident
eine Impfgegnerin treffen. Acht Bürgerin-
nen und Bürger sind ins Schloss Bellevue
eingeladen zu einer Debatte über »Pro
und Kontra einer Impfpflicht« gegen das
Coronavirus. Eine Teilnehmerin lehnt
nicht nur die Impfpflicht ab, sondern die
Impfung an sich. Sie darf den ersten Mann
im Staat trotzdem persönlich treffen.
Wenige Politikerinnen und Politiker
sind bereit zum Dialog mit Impfgegnern.
Aber in seiner ersten Amtszeit hat sich
Frank-Walter Steinmeier immer wieder
Diskussionen gewagt, die er nicht kon-
trollieren konnte. An seiner »Kaffee-
tafel« durften AfD-Politiker wie Corona-
skeptikerinnen Platz nehmen, und es ist
ein Erfolg von Steinmeiers Präsident-
schaft, dass die kleinen Gesprächsrunden
weder eskalierten noch Verschwörungs-
theorien unwidersprochen hingenommen
wurden.
Steinmeier sei eben mutig, sagen Weg-
gefährten, und habe sich immer als poli-
tischen Präsidenten verstanden. In dieser
Haltung liegt auch die Erklärung, wie es
nun zu seiner zweiten Amtszeit kommt.
Alle drei Ampelparteien haben angekün-
digt, Steinmeier in der Bundesversamm-
lung am 13. Februar zu unterstützen, so-
gar die Oppositionsparteien CDU und
CSU stellen keine eigene Kandidatin auf.
Aber es war Steinmeier selbst, der die
Grundlage für fünf weitere Jahre im
Schloss Bellevue legte, mit einem politi-
schen Manöver, das in der Geschichte
außergewöhnlich ist und das Amt tiefgrei-
fend verändern könnte.
Im Mai 2021 verkündete Steinmeier
seine Bereitschaft zu einer zweiten Amts-
zeit. Frühere Präsidenten hatten abgewar-
tet, dafür vorgeschlagen zu werden. Auch
Steinmeier hatte zunächst gewartet, ver-
mutlich auch behutsam sondiert – und
dann die Kandidatur doch selbst erklärt.
Zwei Deutungen gibt es für diesen Schritt,
die positive verbreiten Steinmeiers Ver-
traute: Der Bundespräsident habe das
höchste Amt im Staat rechtzeitig vor der
heißen Wahlkampfphase davor bewahrt,
zum Spielball der Parteipolitik zu werden,
zum Chip im Koalitionspoker. In einer
Lage, in der sich die politischen Verhält-
nisse auf historisch beispiellose Weise
verschoben hätten und die Mehrheit, die
Steinmeier ursprünglich ins Amt getragen
hatte, zu zerfallen schien, habe er die
Unabhängigkeit und Überparteilichkeit
des Präsidentenamts gesichert.
Die kritischere Interpretation lautet:
Hier hat ein Bundespräsident seine Popu-
larität, unsichere Mehrheitsverhältnisse
und die krisenhafte pandemische Lage
genutzt, um sich das Amt zu sichern. Tat-
sächlich schuf Steinmeiers Kandidatur un-
verrückbare Fakten. Jede Partei, die fort-
an einen Vorschlag unterbreiten wollte,
hätte eine Gegenkandidatin, einen He-
rausforderer aufgestellt. Und hätte erklä-
ren müssen, warum dieser Mensch besser
geeignet sein sollte als der Amtsinhaber –
was zwangsläufig bedeutet hätte, Stein-
meiers Schwächen zu thematisieren, und
sei es die Tatsache, dass er keine Frau ist.
Diese Deutung schwingt in den frus-
trierten Worten des CDU-Ministerpräsi-
denten Hendrik Wüst mit, der zunächst
für eine Frau im Schloss Bellevue warb,
dann aber einen Rückzieher machte: »Das
Amt des Bundespräsidenten verdient Res-
pekt.« Sein Votum für Steinmeier gründe
auf »staatspolitischer Verantwortung«.
Es ist Steinmeiers fragwürdiges Ver-
dienst, dass die demokratische Selbstver-
ständlichkeit einer Gegenkandidatur, und
sei sie aussichtslos, als staatspolitisch ver-
antwortungslos und respektlos interpre-
tiert werden kann. Dabei muss es in einer
vielfältigen Gesellschaft mehr als eine
geeignete Person für das Amt des Staats-
oberhaupts geben. Steinmeiers Alleingang
hat seine Kandidatur auch parteipolitisch
überfrachtet: Die Grünen konnten nicht
mehr frei über eine eigene Kandidatin
entscheiden, schon gar nicht über eine
gemeinsame mit der Union. Der Koa-
litionspartner SPD, aus dessen Reihen
Steinmeier stammt, hätte diesen Schritt
als Affront auffassen müssen.
Wie aus der Union zu hören ist, gab es
Versuche, sich mit den Grünen zu einigen.
Dass CDU und CSU öffentlich nie Namen
nannten, soll daran gelegen haben, dass
man den Grünen freie Hand lassen wollte,
ihre Wunschkandidatin zu benennen.
Die Folgen von Steinmeiers Vorgehen
für die Machtdynamik künftiger Bundes-
präsidentenwahlen sind schwer absehbar.
Für seine eigene zweite Amtszeit bedeutet
der Schritt aber eine Chance: So frei, so
selbstbewusst konnte wohl noch kein
Amtsinhaber vor ihm agieren. Der künfti-
ge Präsident könnte endgültig die Haut des
alten Technokraten Steinmeier abstreifen,
der für Kanzler Gerhard Schröder die
Fäden zog und später im Auswärtigen Amt
den eher nüchternen Chefdiplomaten gab.
Was Bundespräsident Steinmeier bis-
lang nur in kleinem Rahmen gelang, näm-
lich bürgernahe Antworten auf drängende
Fragen zu formulieren, sollte künftig von
ihm mehr auf großer Bühne zu hören sein.
Mutige, prägnante Auftritte, wie etwa in
der Gedenkstunde für die Opfer des
Nationalsozialismus, waren die Ausnahme.
Aus dem Bundespräsidialamt heißt es, der
Präsident glaube eben nicht an die Wir-
kung der einen großen Rede, die das Land
ruckartig voranbringe. Dafür sei die Re-
gierung zuständig.
Doch von einem Bundespräsidenten,
der von einer absehbar so breiten Mehr-
heit getragen wird, darf man mehr als vor
allem leise Töne erwarten.
Melanie Amann n
Grünenchef Robert Habeck,
Staatsoberhaupt Steinmeier,
Grünenchefin Annalena Baerbock
[M] Bernd von Jutrczenka / picture alliance / dpa
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