DEUTSCHLAND
20 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.
Bundesregierung müsste entscheiden,
wie sie die Ukraine unterstützt.
Habeck hatte im Wahlkampf auf-
horchen lassen, indem er »Defensiv-
waffen« für die Ukraine forderte.
Daran würde sich die ukrainische Re-
gierung gewiss erinnern, sollten rus-
sische Truppen im Osten des Landes
einfallen. Aber würde es Deutschland
wirklich riskieren, wie eine Kriegs-
partei zu erscheinen?
Ganz sicher würde in diesem Fall
der Westen neue Sanktionen verhän-
gen. Die aber könnten auf Europa
zurückfallen. Deutschland ist, wie
andere Staaten auch, von russischem
Gas abhängig. Und Energie ist derzeit
ohnehin knapp und teuer.
Wertegeleitet wäre es, in diesem
Fall hart zu bleiben. Aber was werden
die Werte zählen, wenn Energieprei-
se in die Höhe schießen? Wenn gar
ein Engpass droht, mitten im Winter?
Zwar haben die Grünen stets auf die
Gefahr einer politischen Erpressbar-
keit hingewiesen und lehnten Nord
Stream 2 auch deshalb ab. Jetzt aber
ist die Ostseepipeline ihr Problem.
Derweil passiert, was abzusehen
war und weshalb das Außenministe-
rium seit Jahren an Attraktivität ver-
liert: Der Kanzler übernimmt und
drängt Baerbock an den Rand. Er
nimmt Kontakt nach Russland auf,
nach China. Schon früh hat die SPD
durchblicken lassen, dass die Außen-
politik Chefsache sei. Merkel hat es
auch so gemacht. Offi ziell betont
man, mit den Grünen außenpolitisch
an einem Strang zu ziehen und mit
einer Stimme zu sprechen.
Vor allem über den Umgang mit
Putin aber droht zwischen den Koali-
tionspartnern ein handfester Streit:
Die SPD pfl egt traditionell ein gutes
Verhältnis zu Russland, Baerbock
bezeichnete Altkanzler Gerhard
Schröder als Putins »Claqueur«. Der
macht sich für russische Energieinte-
ressen stark. Das ist auch Scholz nicht
recht, und dennoch wird er wohl nicht
auf Baerbocks Kurs umschwenken.
Die Sozialdemokraten schauen in
diesen Tagen mit einer Mischung aus
Sorge, Verwunderung und Belusti-
gung auf den Koalitionspartner. Die
Grünen haderten offenbar immer
noch mit ihrem Wahlergebnis, spottet
ein führender Genosse.
Dazu komme das Führungsvaku-
um wegen des Wechsels von Baer-
bock und Habeck in die Regierung,
sagt ein anderer Sozialdemokrat. Die
Arbeitsteilung zwischen Partei, Frak-
tion und Regierung funktioniere bei
den Grünen noch nicht.
Nach dem Machtwechsel 1998 hat-
te die SPD ein ähnliches Problem. Die
besten Leute drängten in die Regie-
rung. Das korrigierte Schröder nach
dem ersten Jahr. Verkehrsminister
Franz Müntefering trat aus der Regie-
rung aus, übernahm den neuen Pos-
ten des Generalsekretärs und organi-
sierte für Schröder die Partei.
Die Kritik an der EU-Kommission
wird in der SPD durchaus geteilt,
zumindest beim Thema Atomkraft.
Beim Erdgas wundern sich die Ge-
nossen hingegen über manche Äuße-
rung der Grünen, schließlich stehe im
Koalitionsvertrag, dass diese Energie-
form »für eine Übergangszeit unver-
zichtbar« sei. Noch rätselhafter fi nden
die Sozialdemokraten das Verhalten
des Koalitionspartners in der Causa
Steinmeier. Das lange Zögern sei ein
strategischer Fehler gewesen.
Eine Gefahr für die Koalition se-
hen die Genossen derzeit nicht. Die
Probleme seien hausgemacht und
müssten von den Grünen gelöst wer-
den, heißt es. Scholz achte zudem
darauf, dass jeder Partner seine Er-
folge feiern könne. Den Eindruck, es
gebe bereits nach einem Monat Ge-
winner und Verlierer in seiner Regie-
rung, wolle der Kanzler vermeiden.
Eine Demütigung, das sagte er gleich
zu Beginn der Koalitionsverhandlun-
gen, werde es von ihm nicht geben.
Dass es bisher nicht optimal läuft,
räumen auch Grüne ein. »Es wird
aber ein paar Wochen dauern, bis sich
diese neue Regierung eingroovt, bis
sich alle vertrauen und bis Menschen,
die nie mit uns regiert haben, sich auf
die neue Lage eingestellt haben«, sagt
der designierte Parteivorsitzende
Omid Nouripour im SPIEGEL-Inter-
view (siehe Seite 22). »Wir haben 16
Jahre nicht regiert. Wir werden nicht
alles korrigieren können, was in der
Zeit falsch gelaufen ist, aber einiges.«
Ein Abgeordneter, der nicht ge-
nannt werden will, sagt: »Wir haben
es in der Koalition im Kern mit zwei
antiökologischen Parteien zu tun. Das
macht es nicht einfach für uns.« In
dieser Selbstwahrnehmung als Repa-
raturbetrieb des Systems steckt eine
ordentliche Menge Anmaßung, zu-
mindest in ökologischen Fragen aber
auch eine Wahrheit, die es den Grü-
nen schwer macht: Es ist wirklich vie-
les falsch gelaufen im Klimaschutz,
und nun unter Zeitdruck umzusteu-
ern, geht nicht ohne Konfl ikt.
»Wir sind nicht Olaf Scholz, und
wir sollten nie versuchen, wie Olaf
Scholz Politik zu machen, das wäre
unser Untergang«, sagt ein Grüner.
Soll heißen: Der Kanzler kann sich in
Klimafragen ab und an wegducken,
er kann auch mal still schmutzige
Deals machen. Die Grünen könnten
es nicht, weil sich dann die Frage stell-
te, wofür es sie eigentlich braucht.
Habeck hat versucht, die Partei auf
die Härten des Regierens vorzuberei-
ten: Von nun an werde jede Krise
auch die Krise der Grünen sein, jeder
Konfl ikt ihr Konfl ikt, so hatte er es
seinen Leuten eingeschärft. Schluss
mit der geschützten Zeit in der Op-
position. Er hat recht behalten.
Überdies hat Habeck selbst den
Übergang in die Regierungsphase nicht
gut gemeistert. Noch immer gibt es
keine schlüssige Erklärung dafür,
warum die Grünen das Verkehrs-
ministerium an die FDP abtreten muss-
ten, nachdem die schon das Finanz-
ministerium bekommen hat. Die FDP
stand als Siegerin da, und sie zehrt
noch immer von diesem Ruf. Die Grü-
nen dagegen erschienen übertölpelt.
Habecks Strategie des Konsenses
sehen inzwischen einige in der Partei
kritisch. »Ich glaube, unsere Spitze in
der Regierung muss noch mehr Här-
te entwickeln. Das hat sich schon
während der Koalitionsverhandlun-
gen gezeigt«, sagt ein Funktionär der
Grünen. Das anfängliche Kalkül der
grünen Spitze, gemeinsam mit der
FDP Projekte im Zweifel auch gegen
die Sozialdemokraten zu verwirk-
lichen, ist nicht aufgegangen.
Die Grünen brauchen eine neue
Strategie, doch die ist nicht in Sicht. Sie
werden sie fi nden müssen, wenn sie die
Chance haben wollen, in vier Jahren
aus der Regierung heraus nochmals
einen Kanzlerkandidaten oder eine
Kanzlerkandidatin aufzustellen. Dann
können sie nicht die Dauerempörten
sein, auch nicht die Dauerbeleidigten
und erst recht nicht die, auf denen SPD
und FDP andauernd herumtrampeln.
Richtig
52
Falsch
35
»Wie finden Sie, dass
die EU-Kommission
plant, Investitionen
in Erdgas übergangs-
weise als klima-
freundlich einzustu-
fen?«, Angaben in
Prozent
SQuelle: Civey-Umfrage
für den SPIEGEL vom 4. bis
- Jan.; Befragte: 5001; die
statistische Ungenauigkeit
der Umfrage liegt bei bis
zu 2,5 Prozentpunkten;
an 100 fehlende Prozent:
»unentschieden«
Klimafreund-
liches Gas?
FDP-Minister
Wissing, Lindner:
Die Liberalen
zehren vom Verhand-
lungserfolg
Lesen Sie auch‣ Deutschland ist abhängig
von Erdgas – und wird es bleiben | 82
Markus Becker, Florian Gathmann,
Valerie Höhne, Dirk Kurbjuweit,
Ralf Neukirch, Serafi n Reiber,
Britta Sandberg, Jonas Schaible,
Christian Teevs, Gerald Traufetter n
[M] Michael Kappeler / dpa
b-118924102022-02SPAllDeutschland460012202_GrueneuWirklichkeit-014020 202022-02SPAllDeutschland460012202_GrueneuWirklichkeit-014020 20 07.01.2022 00:15:1407.01.2022 00:15: