DEUTSCHLAND
24 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022
liegen«. Die Ingenieure gehen vom
Schlimmsten aus. Gut möglich, dass
der komplette Bestand betroffen ist.
Raketen, die hochexplosives Nitro
glycerin ausschwitzen? Die Bundes
wehr reagiert umgehend. »Als Sofort
maßnahmen zum Schutz von Leben
und Gesundheit des dort eingesetzten
Personals« wurden bis auf Weiteres
und »bis zum Erlass weiterer Vor
gaben« alle betroffenen Munitions
lagerhäuser gesperrt und »jeglicher
Umgang mit dieser Munition unter
sagt«, schreiben die Ministerialen im
vergangenen September in ihrem
Sachstandsbericht.
Auch der Transport der Raketen
wird untersagt. Die Wehrtechnische
Dienststelle in Meppen im Emsland
wird angewiesen, die Transportfähig
keit der Munition zu untersuchen.
Dafür müsste ein Falltest aus zwölf
Meter Höhe absolviert werden, doch
dummerweise ist die dafür »notwen
dige Falltestanlage aufgrund Instand
setzung mindestens weitere zwölf
Monate außer Betrieb«.
Das also ist die Situation im Sep
tember, und sie ist es bis heute. In
Depots in Meppen, Wulfen, Nör
venich, Köppern, EftHellendorf und
Wermutshausen lagern alte Raketen,
die Nitroglycerin absondern. Wie
viele davon betroffen sind, kann nicht
festgestellt werden, weil es zu gefähr
lich ist, die Lagerhäuser zu betreten.
Abtransportieren kann man sie nicht,
weil die Transportfähigkeit nicht
überprüft werden kann. Doch Abwar
ten kommt auch nicht infrage.
»Bei weiterer Lagerung der betrof
fenen Munition ist mit einer zuneh
menden Verschlechterung des Zu
standes zu rechnen«, schreiben die
Experten des Ministeriums und war
nen: Eine »Selbstentzündung« könne
nicht ausgeschlossen werden.
Es gäbe also Gründe genug, das
Tempo ein wenig zu beschleunigen,
doch die gewaltige Wehrverwaltung
gehorcht ihrem eigenen Rhythmus.
Und so schieben die beteiligten Be
hörden nun seit fast drei Jahren um
fangreiche Vorlagen hin und her. Es
wird weitergeleitet, abgezeichnet,
gegengelesen, dass es eine bürokra
tische Freude ist. Das Problem aber
wird nicht gelöst.
Dass die Raketen schleunigst ent
sorgt werden müssen, ist unumstrit
ten, doch wo? Auf dem Sprengplatz
des Truppenübungsplatzes Oberlau
sitz sind nach Berechnungen des Mi
nisteriums pro Jahr »20 bis 70 Einzel
vernichtungen möglich«. Viel ist das
nicht, zumal nur gesprengt werden
darf, wenn nicht gleichzeitig Übungen
auf dem Gelände stattfinden.
Bleibt die bundeseigene Kampf
mittelentsorgungsfirma Geka im nie
dersächsischen Munster. Auch diese
Möglichkeit wird aufwendig geprüft.
Technisch und genehmigungsrecht
lich ist es möglich, allerdings könnten
von März bis September 2022 dort
insgesamt »lediglich 21 Raketen« ver
nichtet werden, wie es heißt. »Ein
substanzieller Beitrag ist angesichts
der Gesamtmenge damit nicht gege
ben«, lautet das ernüchternde Urteil
der Ministerialen.
Ende August 2021 ist der Muni
tionsbeauftragte der Bundeswehr mit
seiner Geduld am Ende. Die Koblen
zer Beschaffungsbehörde habe seit
2019 kein »tragfähiges Entsorgungs
konzept erbracht«, beschwert sich der
Oberst beim Ministerium, deshalb be
absichtige er nun, die »Maßnahmen
priorisierung per Weisung zu steuern«.
Doch in Koblenz will man sich
nicht drängeln lassen. Eine industriel
le Entsorgung müsse europaweit aus
geschrieben werden, sagen die Juris
ten des Beschaffungsamts. Und das
dauert.
»Wenn wir’s schneller machen«,
heißt es in der Behörde, »dauert es
am Ende meistens länger.« Denn
dann klagen oft die unterlegenen
Konkurrenten, also macht man es am
besten gleich langsam.
Immerhin gibt es eine kleine Er
folgsmeldung. Der erste Entsorgungs
transport sei nun schon im Spätsom
mer 2022 möglich, berichtet ein Mi
nisterialer. »Und damit sieben bis
zehn Wochen vor der bisherigen
Schätzung.«
Und eine »reaktive presseverwert
bare Stellungnahme« befinde sich
auch schon in der Abstimmung. Im
merhin. Hatte das Ministerium doch
gewarnt, dass bei »Bekanntwerden des
Vorgangs insbesondere auf Basis der
Zeitlinien mit erheblicher negativer
Berichterstattung zu rechnen« sei.
D
er oberste Soldat der Bundes
wehr ist ein fröhlicher Saarlän
der, der sich ungern aus der
Ruhe bringen lässt. Er liebt gutes
Essen und schuckelt am Wochenende
gern Enkelkinder. Furchteinflößend
an diesem Militär ist allenfalls sein
Name. Er heißt Zorn.
Es muss also schon einiges passie
ren, um beim Generalinspekteur
Name und Gemütsverfassung in Ein
klang zu bringen. Am 23. September
2021 ist es so weit. Da rastet Eberhard
Zorn aus.
Wütend kommentiert der General
eine Vorlage der Rüstungsabteilung
des Verteidigungsministeriums. »Es
kann ja nicht sein«, schreibt er, »dass
wir business as usual machen«. Es sei
»viel zu langsam« reagiert worden,
ärgert er sich und bittet »dringend um
Beschleunigung auf allen Ebenen«.
Der Vorgang, der dem sonst so
ausgeglichenen General den Blut
druck nach oben treibt, hat es in sich.
Es geht um 32 641 Raketen vom Typ
LAR 110 Millimeter, die mehr als
30 Jahre alt sind. Sie sind über die
ganze Republik verteilt, lagern in Mu
nitionsdepots und müssen irgend
wann entsorgt werden. Genau darin
liegt das Problem.
Die Geschichte beginnt am 5. März
- Da wird eine dieser alten Rake
ten bei einer Übung mit dem Raketen
werfer »Mars« verschossen, und sie
fliegt nicht so weit, wie sie fliegen soll
te. Irgendetwas stimmt also nicht.
Spezialisten der Bundeswehr unter
suchen daraufhin 111 Raketenmotoren
und sind beunruhigt.
»Im April 2019 wurde festgestellt«,
heißt es in einem vertraulichen Be
richt des Verteidigungsministeriums,
»dass zeitabhängig und mit steigen
der Tendenz sogenannte Ausschwit
zungen von über 20 Prozent des Ni
troglyceringehaltes entstehen und
diese damit über dem kritischen Wert
Schwitzende
Raketen
BUNDESWEHR In Munitionsdepots lagern 32 641
alte Geschosse, die hochexplosives Nitro glycerin
absondern. Seit drei Jahren überlegt die
Wehrbürokratie, was mit ihnen geschehen soll.
»Es kann
ja nicht
sein, dass
wir business
as usual
machen.«
Eberhard Zorn,
Generalinspekteur
Raketenwerfer »Mars«
Focke Strangmann / EPA-EFEKonstantin von Hammerstein n
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